S. Schmitt u.a. (Hrsg.): Gesellschaft und Kirche im Spätmittelalter

Titel
Städtische Gesellschaft und Kirche im Spätmittelalter. Kolloquium Dhaun 2004


Herausgeber
Schmitt, Sigrid; Klapp, Sabine
Reihe
Geschichtliche Landeskunde 62
Erschienen
Stuttgart 2008: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
IX, 261 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lioba Geis, Historisches Institut, Lehrstuhl für Mittlere Geschichte, Rheinisch-Westfaelische Technische Hochschule Aachen

Der vorliegende Sammelband präsentiert das Resultat einer gleichnamigen Tagung, die 2004 in Kooperation zwischen dem Deutschen Historischen Institut in Rom und dem Historischen Seminar III der Universität Mainz veranstaltet wurde. Ziel dieser Tagung war die Vorbereitung eines von Sigrid Schmitt initiierten Forschungsprojekts zu „Kirche und Gesellschaft im Spätmittelalter. Soziale Mobilität und soziale Positionierung im landesgeschichtlichen Kontext“.

Auf der Basis prosopografischer Untersuchungen wird im Sammelband der Frage nachgegangen, in welchem Verhältnis Einzelpersonen bzw. bestimmte Gruppen der städtischen Gesellschaft (Adel, Patriziat, Zünfte, Unterschichten) zu den verschiedenen kirchlichen Einrichtungen in ihrem Umfeld standen und welche Wechselbeziehungen anhand konkreter Fallstudien zu ermitteln sind.

Die ersten drei Beiträge befassen sich – gleichsam als methodischer Überbau des Sammelbands – mit Möglichkeiten und Grenzen datenbankgestützter Personenauswertungen: Peter Rückert (S. 5-15) stellt den Aufbau und die Nutzungsmöglichkeiten einer Datenbank vor, die den zentralen Urkunden- und Archivbestand des altwürttembergischen Archivs (1301-1500) umfasst und in einer umfangreichen Text-Bild-Präsentation im Internet zur Verfügung steht.1 Suse Baeriswyl-Andresen (S. 17-36) präsentiert eine Datenbank im Rahmen des Forschungsprojekts „Repertorium Academicum Germanicum“, in dem graduierte Gelehrte zwischen 1250 und 1550, ihre soziale und geografische Herkunft, ihre Studien, Ämter und Tätigkeiten sowie ihre verwandtschaftlichen und beruflichen Vernetzungen aufgenommen sind. Die Studiendaten der Gelehrten sind bereits in einer Internetversion der Datenbank zugänglich.2 Der dritte Beitrag von Andreas Rehberg (S. 37-65) widmet sich ausführlich der Grundlagenforschung, die das DHI Rom durch das „Repertorium Germanicum“ (RG) und das „Repertorium Poenitentiariae Germanicum“ (RPG) leistet, und gibt einen detaillierten Überblick über die umfangreichen Quellenbestände, die zu deutschen Klerikern in verschiedenen Archiven Roms vorliegen und noch einer adäquaten Auswertung bedürfen. Langfristig soll auch dieses Material in einer allgemein zugänglichen, internetfähigen Datenbank nutzbar gemacht werden, wie Michael Matheus in seinem Grußwort andeutet (S.VII-IX). Einen ersten Einblick in dieses Großprojekt konnte man bereits im Herbst 2008 in einer Sektion des 47. Deutschen Historikertags in Dresden gewinnen.3

Im Anschluss an diese praxisorientierten Beiträge beschäftigt sich Karl Borchardt (S. 67-74) mit der Frage, wie die deutschen Johanniter sozialgeschichtlich und prosopografisch erschlossen werden können und aus welchen Gesellschaftsschichten sich ihre Mitglieder rekrutierten. Das wechselseitige Verhältnis von Kirchen und Stadt nehmen die drei folgenden Aufsätze in den Blick: Martina Knichel (S. 75-80) untersucht die Koblenzer Stifte St. Kastor und St. Florin vor dem Hintergrund der Frage, ob das Stadtpatriziat gezielt versuchte, die dortigen Schlüsselpositionen einzunehmen und zu sichern; Arnd Reitemeier (S. 81-92) stellt die Institution der Kirchenfabrik mit ihrem Kirchenmeister an der Spitze vor, der u. a. für die Bauaufsicht und die Deckung der notwendigen Baukosten, für die Umsetzungen von Stifterwünschen und die Verantwortung über den Zugang zu Reliquien und Sakramenten zuständig war. Wenngleich er oftmals als verlängerter Arm des Stadtrats fungierte, so kam diesem Amt nach Reitemeier doch eine wichtige integrative Funktion innerhalb der Stadt zu: „Die Kirchenfabrik bildete […] die Schnittmenge zwischen der kirchlichen auf der einen und der politisch-sozialen Ordnung auf der anderen Seite.“ (S. 92); Robert Gramsch (S. 93-122) zeichnet den so genannten Lüneburger Prälatenkrieg (1446-62) nach und beschreibt die komplexen Auseinandersetzungen zwischen Klerus und Stadt Lüneburg um die Verschuldung der Stadt, um die wirtschaftliche und politische Stellung sowie Nutzbarmachung der dortigen Saline. Die ausführliche und instruktive Studie Gramschs macht exemplarisch deutlich, wie wenig dieser Konflikt mit Kategorien wie „Klerus gegen Stadt und umgekehrt“ belegt werden kann, sondern eine äußerst differenzierte Betrachtung der einzelnen Interessenspartner vonnöten ist.

Die verschiedenen sozialen Gruppen der städtischen Gesellschaft stehen im Zentrum der letzten vier Beiträge des Sammelbands: Sabine von Heusinger (S. 123-140) widmet sich den Handwerksbruderschaften in Straßburg, ihren sozial-karitativen und religiösen Aufgaben, ihrer Organisation und Struktur, ihrer Stellung innerhalb innerstädtischer Prozessionen sowie der Ausbildung von Gesellenbruderschaften. Dabei geht es um Fragen der öffentlichen Repräsentation, der Konfliktregelung und um den Emanzipationsprozess der nichtselbstständigen Handwerker. Insgesamt erscheinen die Handwerksbruderschaften als Schnittstelle der Gesellschaft, an der „Klerus und Stadt, Zunft und Gesellen, Laienfrömmigkeit und Sozialabsicherung zusammentrafen“ (S. 140). Andreas Rüther (S. 141-166) untersucht nach einigen allgemeinen Bemerkungen zu Städten und Räten, Handel und Gewerbe, Kirchen und Zünften verschiedene Orte, in denen politische Inhalte kommuniziert wurden, und bezieht sich dabei exemplarisch auf den Breslauer Stadtschreiber Peter Escherloer, der sich eindringlich gegen die Verbreitung hussitischen Gedankenguts – etwa in Gaststuben und Brauhöfen – ausgesprochen hatte. Letha Böhringer stellt in ihrem Aufsatz (S. 167-188) die Frage, ob der bisherigen These zuzustimmen ist, dass Beginen im Verlauf des Spätmittelalters immer mehr aus den gesellschaftlichen Unterschichten stammten. In diesem sehr auf klare Quellenzuordnung und -interpretation sowie präzise Begriffsverwendung bedachten Beitrag kommt Böhringer zu dem Schluss, dass die Lebensform der Begine grundsätzlich Frauen mit unterschiedlicher sozialer und gesellschaftlicher Stellung offen stand, dass diese Lebensform zwar zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Gesellschaftsschichten unterschiedlich stark frequentiert wurde, sich aber kein grundsätzliches Absinken der Beginen in sozial-ständischen Kategorien nachweisen lässt. Die Straßburger ‚Unterschichten’ im polit-theologischen System des Reform- und Frömmigkeitstheologen Johannes Geiler von Kaisersberg werden von Rita Voltmer behandelt (S. 189-232). In einem ausführlichen, streckenweise leicht ermüdenden Überblick wird herausgearbeitet, dass Geiler diesen Personengruppen in seinen Predigten einen spezifischen Platz im ordo des spätmittelalterlichen Gesellschaftssystems zuwies und ihre sozialen wie kirchlichen Aufstiegsmöglichkeiten grundsätzlich ablehnte. Dennoch, so wird am Ende betont, erwies sich Geiler als Anwalt der Armen und Randständigen, indem er den städtischen Alltag kritisch beobachtete und sich aktiv in die Tagespolitik einmischte.

Abgeschlossen wird der Sammelband durch eine Zusammenfassung und einen kritischen Kommentar von Rolf Kießling, der am Ende eine stärkere städtetypologische Differenzierung und eine Blickwinkelerweiterung in Bezug auf die verschiedenen sozialen Gesellschaftsschichten anregt (S. 233-241). Bedauerlich ist bei der Zusammenfassung, dass nur die Ergebnisse der Tagung, nicht aber die des Sammelbands resümiert werden, so dass einige Vortragsbeiträge besprochen werden, die hier jedoch nicht abgedruckt sind.

Auf den ersten Blick hinterlässt der vorliegende Sammelband den Eindruck, in zwei voneinander weitgehend unabhängige Teile zu zerfallen – einen praxisorientierten Methodenteil zum Nutzungswert prosopografischer Datenbanken und einen eher konventionellen Teil, in dem diese Forschungstendenzen kaum aufgegriffen werden, sondern der Thematik „Städtische Gesellschaft und Kirche im Spätmittelalter“ auf bekannten Pfaden in exemplarischen Einzelstudien nachgegangen wird. Bei genauerem Hinsehen wird ein solches Urteil der Intention der Tagung und des daraus hervorgegangenen Sammelbands jedoch nicht gerecht. Denn es geht hierbei nicht um die Präsentation eines beendeten Forschungsprojekts, sondern um einen Zwischenstand, der „Forschungsdesiderate greifbar [machen] und Anregungen für weitere Forschungen [geben soll]“, wie Sigrid Schmitt in ihrer Einleitung (S. 2) betont. Aus diesem Grund ist eine Vertiefung der hier erprobten Blickrichtungen auf diese lohnenswerte Thematik zu wünschen und mit Interesse weiter zu verfolgen.

Anmerkungen:
1 <http://www.landesarchiv-bw.de/hstas/findbuch/a602>.
2 <http://www.rag-online.org/>.
3 Vgl. Tagungsbericht HT 2008: Bleibt im Vatikanischen Geheimarchiv vieles zu geheim? Historische Grundlagenforschung in Mittelalter und Neuzeit. 30.09.2008-03.10.2008, Dresden. In: H-Soz-u-Kult, 20.11.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2360> sowie die Ankündigung der Sektionsvorträge unter <http://www.historikertag.de/Dresden2008/index.php/wissenschaftliches-programm/sektionen-am-3okt>.

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