S. Conrad u.a. (Hrsg.): Europe and the Politics of Non-Western Elites

Titel
Beyond Hegemony? Europe and the Politics of Non-Western Elites, 1900-1930.


Herausgeber
Conrad, Sebastian; Dirlik, Arif; Eckert, Andreas
Reihe
Journal of Modern European Studies 4(2006)2
Erschienen
München 2006: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Reinhard, Freiburg/Erfurt

Die europäische Expansion war ein ungleichgewichtiger, deswegen aber noch lange kein einseitig europazentrierter Vorgang. Dieser Befund ist zwar keineswegs neu, konnte jedoch erst neuerdings ins Zentrum der Forschung gelangen, wie üblich in der Wissenschaft, weil sich der aktuelle politische Kontext verändert hatte. Quellenmäßig bequem zugänglich ist die Perspektive der außereuropäischen Gegenseite allerdings erst im späten 19. und im 20. Jahrhundert, als einheimische Eliten sich in breiterem Umfang in europäischen Sprachen oder in Medien europäischer Herkunft artikulieren konnten. Darauf lässt sich die von S. N. Eisenstadt in die Welt gesetzte Vorstellung von Multiple Modernities anwenden, die besagt, dass zwar entscheidende Impulse vom Westen ausgegangen sind, die aber von Ort zu Ort verschiedene Auseinandersetzungs- und Aneignungsvorgänge ausgelöst und so zu einer "Vielfalt von Modernen" geführt haben – ein kultureller Vorgang mit weit reichenden wirtschaftlichen und politischen Folgen für die nachkoloniale Welt. Dazu sammelt das vorliegende Heft verschiedene prominente Stimmen, denn "für die Strategien der Selbstvergewisserung kultureller und politischer Eliten in China, Japan und Indien, in Afrika und im Osmanischen Reich war spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts der Verweis auf Europa und den «Westen» ein zentraler (wenn auch keineswegs der einzige) Bezugspunkt" (S. 159).

Harald Fischer-Tiné präsentiert drei indische Intellektuelle, nachdem er zuvor auf die Entwicklung der Fragestellung und die sozio-kulturellen Rahmenbedingungen indischer Europakontakte eingegangen ist. Har Bilas Sarda (1867-1955) praktiziert in seinem Buch Hindu Superiority (1906) die beliebte Inversionstaktik: die alte Hindukultur war und ist der westlichen auf allen Gebieten überlegen, sozusagen das bessere Europa, Flugzeuge und Kolonialismus eingeschlossen. Der auch im Westen überaus populäre Swami Vivekananda (1863-1902) plädierte demgegenüber für eine universalhistorische Arbeitsteilung, bei der Europa fürs materielle Wohlergehen, Indien aber für die Spiritualität der Menschheit zuständig sein sollte, das heißt natürlich für den vornehmeren Part. Beide waren westlich gebildet, Benoy Kumar Sarkar (1887-1949) hingegen lebte sogar viele Jahre in Europa; er hat in Leipzig promoviert. Er führt die politische und kulturelle Auseinandersetzung mit einem differenzierten Vergleich indischer und europäischer Vorzüge und Schwächen, der gängige Klischees dekonstruieren sollte. Dass ihm dabei 1933 eine Fehleinschätzung Hitlers unterlief, sollte man ihm nicht zum Vorwurf machen, denn damit befand er sich in der besten Gesellschaft.

Cemil Aydin untersucht wie in seinem für 2007 geplanten Buch osmanischen Pan-Islamismus und japanischen Pan-Asianismus zwischen ca. 1880 und ca. 1930 als Fälle eines nicht-westlichen Universalismus. Dieser hat aber seine basale Vorstellung eines universalen kulturellen Fortschritts paradoxerweise von der europäischen Aufklärung übernommen und auch dort beibehalten, wo sie im Sinne einer übergreifenden islamischen oder (ost-)asiatischen Identität umgedeutet wurde: „non-Western elites delegitimized the Eurocentric imperial order by re-orienting European discourses of civilization“ (S. 222). Dabei konnten Widersprüche nicht ausbleiben, z. B. wenn die türkische Selbstbehauptung sich zunächst pan-islamischer Mobilisierung bediente, um dann zur rigorosen Verwestlichung überzugehen, oder wenn Japans Imperialismus als Reaktion auf denjenigen des Westens dessen kulturelle Errungenschaften in Asien zu verbreiten gedachte.

Andreas Eckert beschränkt sich nicht auf die durchaus bekannten Auseinandersetzungen des Pan-Afrikanismus und der Négritude mit Kolonialherrschaft, Rassismus und kulturellem Superioritätsbewusstsein der Europäer. Er geht auch auf die interkontinentalen Wechselwirkungen des Black Atlantic (Paul Gilroy) ein, denn die ersten Panafrikanisten waren African Americans und die Négritude hat eine Wurzel in der französischen Karibik – der damals führende Pariser Literat Jean-Paul Sartre hat sie begeistert begrüßt. Doch vor allem stellt er zwei frühe westafrikanische Nationalisten vor, James Africanus Beale Horton (1835-1883) und Edward Wilmot Blyden (1832-1912), die mittels Afrikanisierung von Christentum und Bildung eine eigenständige, der europäischen ebenbürtige Kultur schaffen wollten. Blyden bediente sich dabei des europäischen Rassismus, wenn er wie spätere Panafrikanisten an die gemeinsame rassische Identität der Afrikaner appellierte, die der weißen Rasse keineswegs unterlegen sei und sich einen machtvollen Staat schaffen werde.

Dominic Sachsenmaier befasst sich mit kulturübergreifenden intellektuellen Netzwerken und zwar zur Abwechslung nicht mit der hinreichend untersuchten sozialistischen Bewegung, sondern mit konservativen Kosmopoliten, die den Glauben an weltweiten Fortschritt mit der Verteidigung kulturspezifischer Traditionen zu verbinden wussten. Der Erste Weltkrieg führte auch in Europa selbst zu Zweifeln an der „westlichen Kultur“, so dass Romain Rolland eine Art von spirituellem Völkerbund proklamierte und Rabindranath Tagore (1861-1941) dafür gewinnen konnte. Tagore, der als erster Nicht-Westler einen Nobelpreis erhalten hatte, setzte sich für eine Befruchtung der Weltkultur durch ein Asien ein, das sein Selbstbewusstsein wieder finden müsse und Europa den Weg zurück zu seinen eigenen Werten weisen könnte. Damit geriet Tagore in Gegensatz zu nationalistischen Strömungen in Indien und China, wo er allerdings in Liang Qichao einen gleichgesinnten Partner fand. Deutlich kritischer gegenüber dem westlichen Materialismus waren der Philosoph Rudolf Eucken und der von ihm beeinflusste Zhang Junmai.

Sebastian Conrad weist in seiner perspektivenreichen Einleitung zusätzlich auf die bekannte Tatsache hin, dass schon vor dem Ersten Weltkrieg der japanische Sieg über Russland 1905 einen Wandel der Wahrnehmung Europas ausgelöst hatte und dass die erfolgreiche Auseinandersetzung Japans mit dem Westen auf eine lange Tradition der „Europakunde“, genauer „Hollandkunde“, in diesem Land zurückgeht.

Der Forschungsdiskurs ist vollständig präsent; keines seiner aktuellen Schlagwörter fehlt: "Kampf der Kulturen", "Okzidentalismus", "hyperreales Europa", "Agency", "Zeit-Raum-Kompression", "Aushandeln", "Aneignung", "Übersetzung des Westens", "Deep Occidentalism", "kulturelle Hybridität", "Mimikry", "Vernacularisation" und andere mehr. So anregend manches davon sein mag, der Ertrag bleibt im Vergleich zum intellektuellen Aufwand bescheiden. Wir erhalten informative Darstellungen von Personen, von Netzwerken und von Tendenzen. Es wird aber politisch wie kulturalistisch korrekt jeder Anlauf zur Verallgemeinerung sorgfältig vermieden, obwohl der glänzende Beitrag von Fischer-Tiné bereits eine implizite Typologie von Argumentation enthält. Das mag allerdings auch mit der forschungs- oder auswahlbedingten Unvollständigkeit des Heftes zu tun haben. Warum wird z. B. eine für das Thema so wichtige Figur wie Kang Youwei nur eben einmal erwähnt, desgleichen Lateinamerika, wo die koloniale und postkoloniale Auseinandersetzung mit dem kulturellen Hegemon Europa eine mehrhundertjährige Tradition hat? Dennoch lohnt sich die Lektüre.

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