Buchpreis: Essay Kategorie Neueste Geschichte

Von
Dirk van Laak

Essay von Dirk van Laak, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die 2006 prämierten Bücher zur Neuesten Geschichte sind ein Plädoyer für den produktiven Blick aus der Distanz. Nach wie vor ist die Buchproduktion auf die totalitären Vergangenheiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentriert. Doch scheinen neue, bisweilen überraschende Wendungen und Deutungen vornehmlich von Außenseitern der Zunft, von jüngeren oder räumlich fernen Standpunkten auszugehen. Dies trifft auf alle fünf ausgezeichneten Bücher zu. Es verwundert nicht, dass sich die Autoren auch „zünftischen“ Einwänden und Vorbehalten gegenübergestellt sahen.

Mit seinem Buch „Der Russland-Komplex“ legt Gerd Koenen eine Art Summa seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Sowjetunion und dem überaus vielgestaltigen deutsch-russischen Verhältnis vor. Dabei nimmt er Bezug auf die Thesen, die Ernst Nolte vor exakt zwanzig Jahren zum „kausalen Nexus“ zwischen Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus vorlegte. Ohne dass der bei Nolte nahegelegte Primat der „asiatischen Tat“ von ihm bestätigt würde, belegt Koenen die ebenso andauernde wie ambivalente Wechselwirkung zwischen Deutschland und Russland für die Zwischenkriegszeit an zahllosen Beispielen. Der Russland-Komplex erscheint als „ein weitläufiges Changieren zwischen Angst und Bewunderung, phobischer Abwehr und emphatischer Zuwendung“, und dies von beiden Seiten. Das Buch erinnert dabei an zahlreiche Vermittler aus Publizistik, Politik und Wissenschaft. Als Leitfiguren zwischen Dostojewski und Dwinger, Marx und Moeller van den Bruck dienen ihm intellektuelle Wanderer zwischen beiden Welten wie der Journalist Alfons Paquet. Das „neue Moskau“ bildete für Paquet ein notwendiges Gegengewicht zum „alten Rom“ heraus, in dem sich die Westbindung Deutschlands symbolisierte. Die Russische Revolution löste in Deutschland daher ebenso viel Faszination wie Schrecken aus. Der Nationalbolschewismus pflegte diese „östliche Option“, bis die antibolschewistische Propaganda das schillernde Russlandbild im Zweiten Weltkrieg wieder stark vereinseitigte. Das ist transnationale Geschichtsschreibung in bestem Sinne und ein wichtiger Impuls für die vergleichende Analyse des totalitären Zeitalters, die jenseits theoretischer Modelle noch immer erst am Anfang steht.

Wie Koenen ist auch Götz Aly inzwischen zu einer Institution geworden. Beide gehören zum kleinen Kreis derer, die von außerhalb der Akademie der historischen Forschung fortgesetzt Anregungen geben, die zwar gelegentlich angefeindet, aber immer ernst genommen werden. Alys Buch „Hitlers Volksstaat“ wurde im vergangenen Jahr in Medien und auf Podien breit diskutiert und dabei in einen Zusammenhang mit den gegenwärtig anstehenden Umbauten des deutschen Sozialstaats gebracht. Wie in früheren Büchern gelingt es Aly, auf eine – im positiven Sinn – suggestive Weise Kontinuitäten sichtbar zu machen. In Expertenwillkür und Behördenwahnsinn weist Aly das Kalkül der Nationalsozialisten nach, eine Zustimmung der deutschen Bevölkerung zu Krieg und Vernichtung „Gemeinschaftsfremder“ durch opulente Versorgungsleistungen zu erkaufen. Der propagierte „Rassenkampf“ mit seiner umstandslosen Beraubung jüdischer Vermögen sowie die gezielte Ausplünderung der besetzten Gebiete erlaubten es, den Volksgenossen ein nahes Ende des „Klassenkampfes“ zu verheißen. So entstand eine „Gefälligkeitsdiktatur“, die das Versprechen eines „nationalen Sozialismus“ auf Enteignung, Kriegsgewinnen und Raubmord gründete. Alys Buch besticht nicht nur durch pointierte Thesen, sondern auch durch die Auswertung bislang vernachlässigter Quellen der Besatzungs- und Finanzverwaltung.

Aly hatte vor geraumer Zeit die Debatten über die Vergangenheit der Geschichtswissenschaft mit angestoßen. Zur jüngeren Forschergeneration, die hiervon stark geprägt ist, gehört auch Jan Eckel. Seine „intellektuelle Biographie“ des Historikers Hans Rothfels geht methodisch innovative Wege, um Zeitzeugenschaft und historische Zeitdiagnose eng miteinander zu verschränken. Rothfels wird als facettenreiche geistige Persönlichkeit, sein Werk als fortlaufende Sinnstiftung charakterisiert. Zeitgeschichte als „Epoche der Mitlebenden“ blieb für Rothfels auf die „Erlebnisgemeinschaft“ des integrierten Nationalstaats bezogen. Mit seiner ebenso klugen wie anspruchsvoll argumentierenden Dissertation steuert Eckel nicht nur ein gewichtiges Werk zur Fachhistorie, sondern zur „intellectual history“ insgesamt bei.

Das Werk „Zerbrochener Spiegel“ von Konrad H. Jarausch und Michael Geyer wurde 2004 von der Jury bereits in der englischsprachigen Version für preiswürdig befunden und hat dieses Votum nun auch in der deutschen Übersetzung bestätigt. Die beiden zwischen Deutschland und den USA pendelnden Historiker schildern die deutsche Geschichte als fortgesetze Suche nach einer zivilgesellschaftlichen Grundlage, der jede integrative Meistererzählung abhanden gekommen ist. Auch hier bewährt sich der zwischen Nähe und Ferne schweifende Blick des wandernden Scholaren.

Der in North Carolina lehrende Historiker Christopher Browning schließlich verfolgt in „The Origins of the Final Solution“ die Ursprünge des Holocaust in der ersten Kriegsphase bis 1942 in aufrüttelnder Detailgenauigkeit nach. Insbesondere die Monate nach der Eroberung Polens werden als „Laboratorien“ der sich rasch radikalisierenden Judenpolitik dargestellt. Damit legt Browning weitere Bausteine zum Verständnis des Wegs in das Unbegreifliche.

Die neueste Geschichte, so möchte man zusammenfassen, lebt also nicht allein methodisch, sondern auch in der Feinerschließung, in der großen Deutung und im Vergleich. Denken wir nicht vorschnell, mit dem totalitären Zeitalter abschließen zu können.

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2006“ wurden in der Kategorie Neueste Geschichte folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Koenen, Gerd, Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945, München 2005. Rezension von Jan C. Behrends, in: H-Soz-u-Kult, 18.07.2006 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=7146>.
2. Aly, Götz, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005. Rezension von Wolfram Meyer zu Uptrup, in: H-Soz-u-Kult, 26.05.2005 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=6225>.
3. Eckel, Jan, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005. Rezension von Mathias Beer, in: H-Soz-u-Kult, 03.05.2006 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=6690>.
4. Jarausch, Konrad H.; Geyer, Michael, Zerbrochener Spiegel. Deutsche Geschichten im 20. Jahrhundert, München 2005.
5. Browning, Christopher R., The origins of the Final Solution. The evolution of Nazi Jewish policy, September 1939 - March 1942, Lincoln 2004.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Zitation
Buchpreis: Essay Kategorie Neueste Geschichte, In: H-Soz-Kult, 20.07.2006, <www.hsozkult.de/text/id/texte-785>.
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