Gehören Fragen des Wahlrechts, jedenfalls in den etablierten Demokratien, nicht der Vergangenheit an? Gleiches Wahlrecht für alle erwachsenen Staatsbürger gilt in Deutschland seit 1918/19; die Senkung des Wahlalters auf 18 Jahre liegt ein halbes Jahrhundert zurück, und seine weitere Senkung auf 16 Jahre erscheint eher als eine graduelle denn eine grundsätzliche Frage. Der Streit um das Wahlrecht im Sinne von universal suffrage ist historisch abgehakt; selbst die allermeisten autoritären Regime verfügen über elektorale Systeme, die diesem Grundsatz folgen. In Deutschland denkt man außerdem an die Unterschiede zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht – präziser also: an das Wahlsystem – und die spezifische Verbindung beider Prinzipien im personalisierten Verhältniswahlrecht, das seit 1949 gilt („Sie haben zwei Stimmen!“). Diese Frage wurde jedoch durch die jüngste, immer noch politisch wie juristisch umstrittene Wahlrechtsreform wieder aktuell. Ihre Bewährungsprobe steht mit der nächsten Bundestagswahl erneut bevor.
Sieht man genauer hin, könnte das ein Indiz für neue Debatten und Konflikte sein: Über Wahlrecht, Wahlverfahren und Wahlpraxis wird seit geraumer Zeit wieder intensiver diskutiert. Allerdings haben sich die Probleme teilweise verschoben – auf Felder, von denen man noch im späten 20. Jahrhundert nicht glaubte, dass sie überhaupt (wieder) strittig sein könnten.
Das gilt erst recht, wenn man über Deutschland und Europa hinausblickt. In den USA hat die Frage nach den voting rights vor dem Hintergrund des Erbes der Sklaverei und der Bürgerrechtsbewegung immer eine größere Bedeutung behalten. Eine Vielzahl anderer Besonderheiten des amerikanischen politischen Systems, wie etwa die Wahlkreiseinteilung (Gerrymandering) tragen zusätzlich dazu bei; zuletzt auch die scharfe parteipolitische Polarisierung. Außerdem bündelt und artikuliert dort eine aktivistische Bewegung, wie etwa die American Civil Liberties Union, jene Wahlrechtsfragen, die in Deutschland oft eher akademisch und „verinselt“ behandelt werden: Die Debatte über das Wahlalter 16 und diejenige über ein geschlechtergerechtes Paritätswahlrecht sind kaum miteinander verbunden; ob Wahllokale mit dem Rollstuhl zugänglich sind, erscheint eher als eine technische denn eine gesellschaftspolitische Frage. Weltweit entzünden sich an der Legitimität von Wahlen bzw. der Anerkennung von Wahlergebnissen heftige Konflikte, die am 6. Januar 2021 in den USA in einen Putschversuch des Wahlverlierers mündeten. Wo die kulturelle Grundregel des conceding in Frage gestellt wird und wo Wahlbeeinflussung oder Manipulation mit Recht angeprangert werden, ist gerade in neuen Demokratien auf den ersten Blick schwer zu unterscheiden, wie das Beispiel Georgiens im Oktober 2024 zeigt.
Nach dem globalen „Superwahljahr“ 2024, geprägt unter anderem von den amerikanischen Präsidentschaftswahlen, ist die Zeit günstig für eine Zwischenbilanz alter und neuer Fragen rund um das politische Wählen. In welchem Verhältnis stehen historische und gegenwärtige Wahlrechtsfragen zueinander? Bearbeiten wir heute immer noch dieselben Probleme wie im 19. Jahrhundert oder haben sich die Konstellationen grundlegend verändert? Haben die Europäer ihre Wahlen wohlorganisiert im Griff und können herablassend darauf schauen, wie in den USA der Zugang zur Wahl geregelt wird und wie die Auszählung stattfindet? Schließlich: Auch Fragen nach der (Gender-)Parität oder dem Ausländerwahlrecht blitzen in der deutschen Debatte zwar gelegentlich auf, bleiben jedoch oft fragmentiert.
Welche gesellschaftspolitischen Konfliktlagen des frühen 21. Jahrhunderts kommen in diesen Diskussionen zum Ausdruck? Und warum gewinnen Wahlen und das Wählen ausgerechnet in einer Zeit eine so große Bedeutung, die oft als „Krise der Demokratie“ beschrieben wird? Doch auch das gehört dazu: In manchen akademisch-intellektuellen Kreisen wird das Wahlprinzip fundamental in Frage gestellt, wie es etwa David Reybrouck mit seinem Buch „Against Elections“ von 2013 getan hat. Alternativen zum Wählen – und damit auch zur parlamentarischen Repräsentation – werden gegenwärtig erörtert. Losverfahren und Bürgerräte sind weitere Stichworte dafür.
Das Theodor-Heuss-Kolloquium 2025 greift diese ebenso spannende wie spannungsvolle Ausgangslage im interdisziplinären Gespräch zwischen Historikerinnen und Politologen, Juristinnen und Vertretern der praktischen Politik auf. Angesichts der Weite des Themas konzentriert sich die Tagung auf politische Wahlen im engeren Sinne, lässt also Wahlen in anderen sozialen und institutionellen Kontexten wie Universität, Kirche, Verein, Sozialwahlen u.v.m. aus.
Ein Schwerpunkt der Tagung liegt, entsprechend den aktuellen Debatten, auf der Wahlhandlung selbst. Themenvorschläge sollten sich an folgenden Leitfragen orientieren:
1. Praxeologie der Wahlhandlung
Wie gestaltet sich die Wahlhandlung als soziale Praxis? Welche Dynamiken und Routinen prägen das Verhalten der Wählenden, und welche Faktoren beeinflussen die Wahlbeteiligung auf individueller und kollektiver Ebene?
2. Rechtliche Rahmung und Konflikte um das „Wahlverfahrensrecht“
Welche rechtlichen Rahmenbedingungen prägen das, was sich als „Wahlverfahrensrecht“ beschreiben ließe, und wie wirken sie sich auf die Legitimität und Funktionsweise von Wahlen aus? Welche Konflikte bestehen oder entstehen im Zusammenhang mit der rechtlichen Gestaltung von Wahlen, und welche Rolle spielen soziale Bewegungen in diesen Auseinandersetzungen?
3. accessibility von Wahlen
Wie zugänglich sind Wahlen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten? Inwiefern erschweren oder erleichtern strukturelle oder institutionelle Verhältnisse den Zugang zu Wahlen für bestimmte Bevölkerungsgruppen?
4. Wahlsysteme und parlamentarische Repräsentation
Welche strukturellen Probleme und gesellschaftlichen Konfliktlagen spiegeln sich in der Gestaltung von Wahlsystemen wider? Welche Auswirkungen haben Parität, Wahlkreiseinteilung oder andere systematische Faktoren auf die Qualität der parlamentarischen Repräsentation?
Das Theodor-Heuss-Kolloquium 2025 findet unter dem Rahmenthema „Practising Democracy“ statt. Es knüpft an die vorangegangenen Kolloquien zu den Themen „Über den Glauben zur Politik. Religion und politisches Engagement von Frauen“ (2024), „Lobbyismus und parlamentarische Demokratie. Praktiken und Diskurse im 19. und 20. Jahrhundert“ (2023), „Vom Bittbrief zur Hassmail? Bürgerbriefe als politische Kommunikationsform“ (2022) und „Democracy Revisited. Praktiken, Ordnungen und Begrenzungen der liberalen Demokratie von den 1940er-Jahren bis zur Gegenwart“ (2019) an.
Wir bitten um die Zusendung von Themenvorschlägen im Umfang von max. 4.000 Zeichen mit kurzem biographischen Profil bis zum 15. März 2025 an Paul Nolte und Jan Ruhkopf. Für alle Referent:innen können Übernachtungs- und Reisekosten gemäß den Richtlinien des Bundesreisekostengesetzes übernommen werden.