G. Vinken: Zones of Tradition – Places of Identity

Cover
Titel
Zones of Tradition – Places of Identity. Cities and Their Heritage


Autor(en)
Vinken, Gerhard
Anzahl Seiten
322 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Małgorzata Popiołek-Roßkamp, Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS), Erkner

Die klassische, institutionalisierte Denkmalpflege mit ihren festen rechtlichen Rahmen, klar definierten Aufgaben und starren Bedeutungskategorien steht in einem immer größeren Kontrast zu dem, was in der akademischen Debatte um Grenzen, Aufgaben und Werte1 der Denkmalpflege seit einigen Jahren diskutiert wird. Das Denkmal mit seinem historischen Urkundencharakter soll jetzt durch einen „unstabilen“2 Erbe-Begriff ersetzt oder zumindest erweitert werden.3 Sogar in den Ursprüngen der Disziplin wurden neuerdings, im Zuge des emotional turns, das Subjekt und seine Gefühle in der Wahrnehmung eines historischen Objektes wieder entdeckt.4 Das Erhaltenswerte soll nicht mehr von Gelehrten autoritär bestimmt, sondern von Laien verhandelt werden. Ein Appell für Demokratisierung und power sharing in der Denkmalpflege? Offen bleibt die praktische Umsetzung.

Gerhard Vinken greift in seinem Buch das Plädoyer der Schwerpunktverlagerung vom Denkmal zum Erbe auf und zeigt anhand verschiedener Beispiele, dass das Erbe deutlich mehr als nur das Materielle ist. Sechzehn englischsprachige (immer noch eine Seltenheit in diesem Spezialgebiet) neue und bereits erschienene Aufsätze des Autors aus dem letzten Jahrzehnt werden in vier Themenblöcke unterteilt, wobei der erste Teil einen theoretischen Rahmen für die drei weiteren aufspannt. Die Publikation bringt bekannte und weniger bekannte Beispiele aus deutschen, westeuropäischen und amerikanischen Städten bis hin zu Südamerika und Zentralasien zusammen, unterteilt in drei Kategorien: Modernisierungsprozesse bei der Etablierung des Erbes in der Stadt, Konstruktion des Erbes im Zuge der Identitätsbildungsprozesse und Aushandlungsprozesse bei der Erbe-Bestimmung.

Vinken erweitert damit den klassischen Zugang der Denkmalpflege mit ihrem archäologischen Kern um die Methoden aus den Sozialwissenschaften (S. 12), ähnlich wie es die heritage studies machen. Das Erbe wird laut ihm nicht ein einziges Mal für immer bestimmt, sondern durch Aushandlungen immer wieder aufs Neue konstruiert. Dieser prozesshafte Charakter des Erbes, behauptet Vinken, gehörte schon immer zur institutionalisierten Denkmalpflege, in der ein ständiges kollektives Sinn-Reproduzieren durch bestimmte Liturgie-ähnliche Praktiken stattfand und bis heute stattfindet (S. 43). Diese Praktiken werden gerade in den USA nach der Position des afroamerikanischen Erbes in der amerikanischen Kultur hinterfragt und die geltenden Erbe-Diskurse auf rassistische Inhalte geprüft. Ein anderes Beispiel bildet die Innenstadt von Palermo, die bis in die 1990er-Jahre durch Ruinen, Armut und Kriminalität geprägt war. Nach der „Rückeroberung“ der Stadt von der Mafia erfolgte ihre Aneignung durch Restaurierungs- und Verkehrsberuhigungsmaßnahmen sowie die Entstehung großformatiger Wandmalereien, die wiederum identitätsstiftend wirkten.

In diesem Sinne soll der Raum, der durch Materialität und soziale Handlung produziert wird und bisher wenig Beachtung in der klassischen Denkmalpflege fand, in einem verspäteten spatial turn, wie der Autor zu Recht feststellt, stärker berücksichtigt werden (S. 41, S. 49). So war zum Beispiel eine neue städtebauliche Stellung des Berliner Doms, eine sehr interessante Beobachtung, ein unerwartetes Ergebnis der umstrittenen Rekonstruktion des Stadtschlosses. Der Berliner Dom ist nun durch das Alte Museum und das neu errichtete Schloss-Gebäude flankiert. Problematisch in dem Projekt ist nicht nur die Attrappe5 der wilhelminischen Architektur mit ihrer Rückbesinnung auf die vermeintlich bessere Vergangenheit, sondern auch das Narrativ, das durch die städtebauliche Hervorhebung des Doms zum Tragen kommt. Im Deutschen Kaiserreich stand er für die Einheit der Kirche, des Staates und der Nation und im Dritten Reich wurde sie für NS-Propaganda missbraucht.

Ein anderes Beispiel der städtebaulichen Wirkung eines Objektes liefert der Fall der Autohochstraße Tausendfüßler in Düsseldorf, eines für die 1960er-Jahre typisch überdimensionierten Bauwerks. Trotz der ursprünglichen Bürgerproteste trug der Abriss der Anlage, die sich bereits für die Stadt als identitätsstiftend erwiesen hatte, zur deutlichen Verbesserung der Qualität des urbanen Lebens bei.

Die räumliche Komponente nahm schon in der früheren Forschung Vinkens, insbesondere mit seinem bahnbrechenden Konzept der „Zone Heimat“6, einen wichtigen Platz ein. Auch in der vorliegenden Publikation greift er auf diesen Begriff zurück, der besagt, dass die Altstädte, wie wir sie heute kennen, eine Erfindung der modernen Aufteilung der Stadt nach funktionalen und stilistisch einheitlichen Zonen und somit ein Produkt verschiedener Modernisierungs- und Homogenisierungsprozesse sind. Dieses Phänomen wird anhand der nie stärker zerstörten Stadt Basel veranschaulicht. Das Beispiel zeigt, wie eine Altstadt, trotz der gut erhaltenen historischen Zeitschichten, nicht ein Produkt der Konservierung ist, sondern als ein Produkt der bewusst eingesetzten stilistischen Vereinheitlichungsmaßnahmen konstruiert wird. Obwohl sie ein Ergebnis der modernen Stadtplanung mit ihrer Trennung verschiedener Funktionsräume ist, wird sie zugleich als Gegenbild zur modernen Stadt inszeniert. Die Altstädte, wie seit dem 19. Jahrhundert einzelne Baudenkmale, wurden räumlich von anderen Quartieren abgetrennt. Die Idee lebte dann nach dem Zweiten Weltkrieg fort und fand ihre Zuspitzung in Form von isolierten Traditionsinseln in den Städten (S. 53f., S. 59). Diese Kontinuitäten lassen sich in Köln nachvollziehen, wo der politische Neuanfang nach 1945 mit einer gewissen Fortsetzung der lokalen Identitätspolitik einherging, in der der restaurierte bzw. „entschandelte“, homogenisierte Zustand der Fronthäuser aus den 1930er-Jahren wiederaufgebaut wurde. Die 2018 feierlich eröffnete neue Altstadt (sic!) von Frankfurt am Main bewertet Vinken als eine künstliche Traditionsinsel im Sinne von Citytainment nach Dieter Hassenpflug, die überall in der Welt stehen könnte. Diese Entwicklung hatte mit Stadtreparatur oder mit der von Aldo Rossi geforderten Rückkehr zum Ort wenig zu tun. Obwohl sie architektonisch etwas anspruchsvoller ist, weist sie gewisse funktionale Ähnlichkeiten mit der Architektur der deutschen Outlet-Villages (z.B. in Neumünster) auf, die mit ihrer protoindustriellen Kleinstadtarchitektur das Gefühl der Geborgenheit spenden. Die hyperreale Architektur der neuen Frankfurter Altstadt sieht Vinken stark eingebettet in der Heimatschutzbewegung, dessen Wurzeln im romantischen Nationalismus liegen.

Vinken erweitert seine Überlegungen zur Etablierung der Heimatzonen mit ihren antimodernen, nostalgischen Stadtbildern, die oft im Dienst politischer Ideologien mitwirkten, um deren soziale Auswirkung, die mit der ethnischen und sozialen Homogenisierung der Anwohnenden verbunden waren (S. 13). In diesem Kontext wird auch die soziale Auswirkung internationaler Organisationen auf die Menschen, die in den Quartieren leben, hinterfragt. Die von der Weltbank und der UNESCO seit den 1970er-Jahren finanzierte
Restaurierung Pelourinhos, eines historischen Stadtteils von Salvador de Bahia, der ersten Hauptstadt von Brasilien, führte zur architektonischen Homogenisierung der Architektur einerseits und ökonomischer Verdrängung der dort lebenden Menschen andererseits. Am Beispiel der Mahallas, den fast ländlich wirkenden Siedlungen in Taschkent, die einen wichtigen Bestandteil der usbekischen Identität bilden, zeigt Vinken, dass die UNESCO nolens volens nicht nur die Erhaltung der alten Architektur, sondern auch patriarchaler und oppressiver Gemeinschaften unterstützt.

Vinkens Buch bildet eine spannende Collage, in der alte und neue Ansätze der Denkmal- und Erbe-Forschung verwendet werden, um sich dem materiellen Erbe im Kontext der Städte aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Bei den meisten nicht-deutschen Städten bleibt Deutschland sowie der Westen der Hauptbezugspunkt und die Perspektive des Autors, als außenstehender Beobachter, wird deutlich spürbar.

Das Buch veranschaulicht, dass die Denkmalpflege auch in der Vergangenheit nicht nur auf objektiver Erhaltung der historischen Spuren, sondern auf Deutungszuschreibungen basierte, die meistens nur „von oben“ kamen. Wie inkomplett das Bild des gebauten Erbes wird, wenn es losgelöst von der Frage der Macht sowie von sozialen und räumlichen Aspekten betrachtet würde, macht der Autor sehr greifbar. Somit leisten „Zones of Tradition“ einen wichtigen Beitrag für die Internationalisierung der deutschsprachigen Denkmalpflege, erweitern ihre Methodologie um neue Ansätze, können aber auch dem fachfremden Publikum als Lektüre empfohlen werden.

Anmerkungen:
1 Hans-Rudolf Meier / Ingrid Scheurmann / Wolfgang Sonne (Hrsg.), Werte. Begründungen der Denkmalpflege in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2012.
2 Simone Bogner / Gabi Dolff-Bonekämper (Hrsg.), Instabile Konstruktionen. Interdisziplinäre Forschungen zu »Identität und Erbe«, Weimar 2022.
3 Gerhard Vinken, Vom Denkmal zum Erbe. Ein Plädoyer, in: Simone Bogner u.a. (Hrsg.), Denkmal – Erbe – Heritage. Begriffshorizonte am Beispiel der Industriekultur. Holzminden 2018, S. 238–241.
4 Stephanie Herold / Gerhard Vinken (Hrsg.), Denkmal_Emotion. Politisierung – Mobilisierung – Bindung, Holzminden 2021. Siehe auch das Projekt: Emotion und Erbe, https://www.uni-bamberg.de/kdwt/arbeitsbereiche/denkmalpflege/forschung/emotion-und-erbe/ (19.08.2022).
5 Adrian von Buttlar u.a. (Hrsg.), Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie (Bauwelt Fundamente, Band 146), Basel 2011.
6 Gerhard Vinken, Zone Heimat. Altstadt im modernen Städtebau, Berlin 2010.

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