Titel
Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn


Autor(en)
Ankele, Monika
Erschienen
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Laura Cassani, Zürich

Wird jemand in eine psychiatrische Klinik eingeliefert, so stellt dies einen Bruch dar: einen „Bruch mit dem Vertrauten, mit dem bisher Gewohnten und Alltäglichen durch den Einbruch des Unvertrauten, des Unbekannten“ (S. 10). Wie gehen betroffene Personen mit diesem Bruch um? Welche Praktiken werden angewandt, um auf die neuen Beschränkungen, aber auch auf die Möglichkeiten, die eine Internierung in einer solchen „totalen Institution“1 (S. 66) mit sich bringt, zu reagieren?

Die österreichische Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Monika Ankele geht in ihrer Dissertation, welche 2009 erschienen ist, eben diesen Fragen nach. Sie untersucht 32 Krankenakten sowie Selbstzeugnisse von insgesamt 88 Frauen, welche alle von Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts in psychiatrischen Kliniken des deutschsprachigen Raums interniert waren. Die Quellen entstammen der Sammlung Prinzhorn, einer psychiatrischen Lehrsammlung aus Heidelberg, welche neben Krankenakten auch Briefe, Zeichnungen, Texte, textile Arbeiten und Fotos umfasst und – so führt Ankele zu Beginn ihrer Arbeit aus – diese Selbstzeugnisse „an das Feld der Kunst heran[führen]“ (S. 12) sollte. Es bleibt allerdings ungeklärt, weshalb Ankele gerade die Sammlung Prinzhorn für ihre Analyse auswählt, bildet diese doch eine besondere Auswahl von außerordentlich kreativen Klinikinsassinnen und -insassen ab und ist deshalb vielleicht nicht ideal für den ausdrücklich nicht kunsthistorischen Fokus der Autorin. Indem sich Ankele zusätzlich ausschließlich auf die weiblichen Patientinnen konzentriert – was sie nicht als Beschränkung verstanden wissen will –, nimmt sie eine weitere Fokussierung vor. Es ist nachvollziehbar, dass eine Konzentration auf die Praktiken mit einer Konzentration auf die weiblichen Patientinnen einhergehen soll, denn: „Die bürgerliche Geschlechterideologie führte unter anderem zur Ausformung unterschiedlicher Zuständigkeits- und Aufgabenbereiche für Männer und Frauen. Damit ging einher, dass alltägliche Praktiken – man denke nur an den Bereich der Hand- oder Hausarbeiten – geschlechtsspezifisch kodiert wurden“ (S. 24). Dennoch verhindert dies natürlich den Vergleich zwischen den Geschlechtern und die Kontrastierung von geschlechtsspezifischen Aneignungsweisen.

Mit Hilfe des sehr heterogenen und umfangreichen Quellenkorpus’ – dies ist die Sammlung Prinzhorn gewiss – soll aufgezeigt werden, wie die Patientinnen sich „konkrete[ ] Strukturen, gegebene[ ] Räume sowie vorgefundene[ ] Materialien und vorhandene[ ] Ressourcen“ (S. 24) aneignen. Indem Ankele die Patientinnen der Psychiatrie als Akteurinnen in den Mittelpunkt stellt, situiert sie diese nicht außerhalb des Realen, was ihrer Ansicht nach in Arbeiten über psychische Krankheit, über „Wahnsinn“ oft geschehen ist, sondern spricht ihnen eine spezifische Handlungsfähigkeit und Wirkmächtigkeit zu. Sie möchte eine patientinnenorientierte Psychiatriegeschichtsschreibung, eine Geschichtsschreibung „von unten“ (S. 21) betreiben, wie diese in Folge des „cultural turn“ entstanden ist, wobei sie im Anschluss an die „praxistheoretische Wende“ (S. 24) in den Kulturwissenschaften Kultur als „doing culture“ – eben als Praxis – begreift. Indem die Autorin die Selbstzeugnisse der Patientinnen in den Blick nimmt, deren kreative Erzeugnisse also, möchte sie auch die Handlungsspielräume der Patientinnen erfassen, im Rahmen derer – hier bezieht sie sich auf die theoretischen Positionen von Michel de Certeau und Alf Lüdtke – die Klinikinsassinnen „Gelegenheiten für sich zu nutzen wissen“ (S. 10).

In einem ersten Schritt (Kapitel 2) zeigt Ankele die psychiatrischen Diskurse um 1900 auf und erläutert – in Anlehnung an Foucault –, wie durch diese eine „Diskursivierung des Alltäglichen“ stattfand: Die alltäglichen Praktiken gerieten in den Fokus des psychiatrischen Diskurses und erlangten auf diese Weise nicht nur wissenschaftliche, sondern auch gesellschaftliche und politische Relevanz. Die psychiatrischen Diskurse veränderten jedoch nicht nur die Wahrnehmung der Alltagshandlungen, sondern gestalteten auch den Raum der psychiatrischen Kliniken mit. Unter dem Titel „Begrenzte Räume“ (Kapitel 3) beschreibt die Autorin drei psychiatrische Anstalten als Idealtypen, wobei sie mit „Raum“ – im Anschluss an den „spatial turn“ – nicht nur den rein physischen Raum, die Architektur, meint, sondern sämtliche Strukturen und formalen sowie normativen Vorgaben, welche in den Kliniken auf die Patientinnen wirkten und auch stets neu verhandelt werden mussten. Auch in Kapitel 4, das sich schließlich den Alltagspraktiken und Aneignungsweisen der Patientinnen widmet und somit den Hauptteil des Buches darstellt, wird immer wieder auf die Strukturen eingegangen, welche die Handlungen der Patientinnen begrenzten, bisweilen aber auch erst ermöglichten. Hier wird ersichtlich, dass es unmöglich ist, Diskurse, Strukturen und Praktiken inhaltlich voneinander zu trennen.

Im Mittelpunkt der Analyse der Praktiken der Insassinnen stehen vier Bereiche: arbeiten/sich beschäftigen, wohnen/sich einrichten, Haar tragen/sich kleiden und essen/sich ernähren. So wird beispielsweise beschrieben, wie die Insassinnen den Tag strukturierende Arbeiten, wie Stricken, Sticken, Nähen, dazu benutzten, sich Raum für etwas Eigenes zu schaffen, wird die Bedeutung des Bettes als Rückzugsort für einzelne Patientinnen aufgezeigt, wird ein aus Haar gesticktes Bild analysiert und die Verweigerung der Nahrungsaufnahme als Auflehnung gegen die Internierung interpretiert. Ankele will sich hierbei „nicht an den Intentionen der Akteurinnen [orientieren], sondern an den Effekten ihrer Handlungsweisen: an den Effekten, welche die Praktiken nach sich zogen, sowie an jenen Effekten, durch welche die Praktiken ermöglicht, beschränkt oder auf ihre je spezifische Art und Weise hervorgebracht wurden“ (S. 109). Dies ist insofern nachvollziehbar, als sie einerseits methodisch keine Möglichkeit hat – außer mit Hilfe der autobiographischen Texte, welche vereinzelt in den analysierten Krankenakten aufbewahrt wurden –, auf die Bedeutungszuschreibungen, welche die Akteurinnen vornahmen, zuzugreifen. Andererseits ermöglicht ihr dieses Vorgehen auch, die Wirkmächtigkeit der Akteurinnen in der realen Welt (im Gegensatz zur gedanklichen, imaginären Welt) herauszustreichen. Mit dem Fokus auf die Effekte ignoriert Ankele aber nicht nur die Intentionen der Insassinnen – und umgeht damit auch die Frage, ob deren aneignende Handlungsweisen denn überhaupt intentional sein müssen –, sondern will gleich die gesamte ‚innere’ Welt der Akteurinnen aus ihrer Analyse ausklammern. Wie kann aber ein Aneignungsprozess als solcher bestimmt werden, wenn nicht durch Bezugnahme auf die (vermutete) Bedeutung für die Akteurin?

Ankele geht in ihrer Studie daher wenig auf das Verhältnis von Aneignung und psychischer Krankheit ein. Es entsteht beinahe der Eindruck, dass die psychiatrische Klinik mit jeder anderen „totalen Institution“ – wie zum Beispiel dem Gefängnis oder dem Internat – gleichzusetzen ist. Aber welche Rolle spielte die Diagnose einer psychischen Krankheit für die Selbstwahrnehmung sowie für die Aneignungstaktiken der Akteurinnen? Welche Auswirkungen hatte es, dass der Bruch, den eine Internierung in einer psychiatrischen Anstalt erzeugte, nicht selten einherging mit einer Abwertung durch die Gesellschaft, einer Unmündigkeit, einer Stigmatisierung als „Irre“? Wie hängen – etwas zugespitzt formuliert – „Eigensinn“ und „Wahnsinn“ zusammen? Gerade in Anlehnung an De Certeau und Lüdtke, welche das „Innenleben“, die Bedeutungszuschreibungen, die Intentionen der Akteurinnen und Akteure als nicht zu vernachlässigenden Aspekt der historischen Analyse herausstreichen, hätten Antworten auf diese Fragen der Studie eine weitere Facette hinzufügen können.

Unabhängig von dieser (vor allem theoretischen) Problematik gelingt es Ankele aber anhand verschiedener Beispiele (und manchmal auch mit Hilfe einer eigentlich explizit ausgeschlossenen Bezugnahme auf die Intentionen bzw. Bedeutungszuschreibungen), aus den analysierten Quellen Aneignungsprozesse und gar eigensinniges Verhalten herauszulesen. Sie zeigt anhand anschaulicher Beispiele einprägsam auf, wie Diskurs, Raum und Praxis sowie Macht und Ohnmacht auf komplexe Art und Weise miteinander verknüpft sind. Das zentrale Ergebnis der vorliegenden Dissertation ist denn auch, dass man nicht den „binären Modellen von determinierenden Strukturen und determinierten Subjekten verhaftet [...] bleiben soll“ (S. 225): „Mit dem Blick auf die Praxis und auf das Tun und Handeln der jeweils beteiligten AkteurInnen stellt sich die Geschichte psychiatrischer Institutionen komplexer und differenzierter dar, als es der Fokus auf normative Diskurse vermuten lässt: Sichtbar werden Interaktionen und Aushandlungsprozesse zwischen Patientinnen, Pflegerinnen und Ärzten [...]“ (S. 225).

Ankele vermag es tatsächlich, die Patientinnen der Isolation des „Wahnsinns“, des Nicht-Realen, in welcher sie in bisherigen Studien zu normativen Psychiatriediskursen nicht selten verharren mussten, zu entreißen und sie so zu ernstzunehmenden historischen Handlungsträgerinnen mit (natürlich beschränkter) Wirkmächtigkeit zu machen. Der Leserin, dem Leser bringt das Sichtbarmachen der Verknüpfung von Struktur und Praxis neue Erkenntnisse über das Leben in einer „totalen Institution“ um die Jahrhundertwende und über den Umgang der internierten Personen mit dem „Bruch“ mit dem Gewohnten und Vertrauten.

Anmerkung:
1 Diesen Begriff verwendet Ankele in Anlehnung an den Soziologen Erwing Goffman.