C. Dorner-Hörig: Habitus und Politik in Kärnten

Titel
Habitus und Politik in Kärnten. Soziogenetische und psychogenetische Grundlagen des Systems Jörg Haider


Autor(en)
Dorner-Hörig, Christian
Reihe
Figurationen 9
Erschienen
Wiesbaden 2014: Springer VS
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Ebner, Institut für Soziologie, Karl-Franzens-Universität Graz

Kärnten, Österreichs südlichstes Bundesland, wird im Feuilleton und in der sozialwissenschaftlichen Literatur häufig als „Sonderfall“ der österreichischen Zeitgeschichte diskutiert. Neben den jüngst bekanntgewordenen Korruptions- und Finanzskandalen sorgten in den vergangenen Jahren der Konflikt zwischen deutsch-sprachiger Mehrheit und slowenisch-sprachiger Minderheit, der Erfolg rechtspopulistischer Parteien und die Verehrung des charismatischen „Landesvaters“ Jörg Haider nicht nur in Österreich für Verwunderung. Christian Dorner-Hörig erklärt in seiner 2014 erschienenen Studie1 diese Besonderheiten der politischen Kultur aus ihrer historischen Entstehung heraus und untersucht, wie sie mit der Sozio- und Psychogenese Kärntens zusammenhängen. Das Buch gliedert sich in drei Hauptkapitel.

Im Kapitel „Zur Theorie der Prozesssoziologie: Figurationen und Habitus“ diskutiert der Autor seine auf der Soziologie von Norbert Elias basierende Methode. Mit Elias geht er davon aus, dass heutige nationale oder regionale Besonderheiten das Ergebnis unterschiedlicher historischer Prozessverläufe sind. Daher könne man die Gegenwart nur verstehen, wenn man sie als Teil eines langfristigen Prozesses betrachte und die Strukturzusammenhänge herausarbeite, die für den jeweiligen Prozessverlauf charakteristisch sind. Der zentrale Gedanke ist dabei, dass den Veränderungen der Beziehungsstrukturen, die Menschen miteinander bilden (Soziogenese), spezifische Veränderungen der psychischen Strukturen und Charaktereigenschaften dieser Menschen (Psychogenese) entsprechen. Dorner-Hörigs prozesssoziologischer Ansatz, der auch Erkenntnisse aus den Kognitionswissenschaften einbezieht, soll die Politische Kulturforschung in mehrerlei Hinsicht erweitern. Erstens tritt an die Stelle einer auf die Gegenwart und die unmittelbare Vergangenheit ausgerichteten Betrachtung eine Sichtweise, die die heutige politische Kultur aus ihrer Jahrhunderte zurückreichenden Genese heraus erklärt. Zweitens bezieht Dorner-Hörig neben kognitiven auch irrationale, emotional-habituelle Dimensionen der Politik ein. Indem der Autor, drittens, die strukturellen Bedingtheiten rekonstruiert, die den Handlungs- und Denkspielraum der involvierten Menschen strukturieren, erhält er Zugang zu ihren Erfahrungen, Wahrnehmungen und Werthaltungen, wodurch er die Subjektivität seiner eigenen Sicht und die Notwendigkeit ständiger Distanzierung systematisch mitreflektiert. Ein weiterer Reiz dieser Studie liegt darin, dass der Autor über ein außergewöhnliches Verhältnis von Innen- und Außenansicht verfügt. Als deutscher Soziologe, der mehrere Jahre bei den Kärntner Grünen tätig war, betrachtet er Kärnten einerseits mit den Augen eines staunenden Fremden. Andererseits kennt er den dortigen politischen Alltag aus einer Perspektive, die Sozialwissenschaftler/innen ansonsten kaum zugänglich ist.

Im Kapitel „Der ‚Sonderfall‘ Kärnten“ bespricht Dorner-Hörig den aktuellen Stand der Forschung zur politischen Kultur des Landes. Sein Ansatz, der nicht als Revision, sondern als Ergänzung bestehender wissenschaftlicher Interpretationen intendiert ist, weicht in mindestens zwei Punkten vom Gros der Kärnten-Forschung ab. Erstens zielt er nicht darauf ab, den historischen Einzelfall im Detail zu untersuchen, sondern den dem Einzelfall zugrundeliegenden historischen Prozess und dessen Funktionsweisen sichtbar zu machen. Zweitens geht er davon aus, dass man die Besonderheiten der politischen Kultur in Kärnten nicht nur auf den ethnisch-sprachlichen Konflikt oder die jüngere Vergangenheit zurückführen kann. Vielmehr seien die Konflikte des 20. Jahrhunderts2 selbst Ausdruck einer spezifischen Konfliktkonstellation, die mehrere Jahrhunderte zurückreiche. Die Aufgabe der Prozesssoziologie bestehe darin, diese tieferliegenden, weiter zurückreichenden Besonderheiten herauszuarbeiten und nachzuzeichnen, wie – das heißt aufgrund welcher Struktureigentümlichkeiten und Prozessverläufe – diese Konstellation historisch entstanden ist.

Das längste Kapitel, „Kärntens Soziogenese und Psychogenese im historischen Vergleich“, ist schließlich der vergleichenden prozesssoziologischen Untersuchung der politischen Kultur Kärntens gewidmet. Der Autor geht einerseits der Frage nach, welche Besonderheiten der historischen Entwicklung Kärntens die Konfliktkonstellation des 20. Jahrhunderts erzeugt haben; andererseits fragt er, welche Bedeutung diese Prozesse für die heutige politische Kultur haben. Dazu zeichnet er den Prozess nach, in dessen Verlauf sich sowohl die spezifischen Machtverhältnisse und Konfliktdynamiken als auch der damit zusammenhängende Habitus der Menschen herausgebildet haben. Dorner-Hörig argumentiert, die Sozio- und Psychogenese Kärntens weiche in vielen Fällen von der Genese Restösterreichs ab. Eine Besonderheit Kärntens sei, dass es hier den regionalen Eliten zu Beginn der Neuzeit gelungen sei, die Machtbalancekämpfe mit der Zentralmacht in Wien für sich zu entscheiden. Diese Etablierung eines ständischen Patrimonialismus habe den Zugriff der Zentralgewalt auf die regionale Integrationsebene nachhaltig behindert, wodurch Kärnten erst spät und unter speziellen Bedingungen in den österreichischen Integrationsprozess einbezogen worden sei. Materialreich zeichnet der Autor nach, wie sich dieser Prozessverlauf im Zuge von Reformation und Gegenreformation, Reformabsolutismus sowie Demokratisierung und Nationalisierung immer weiter verstärkte. Die daraus resultierende Zersplitterung des Landes habe einerseits den Weiterbestand segmentärer Figurationen und entsprechender Charaktereigenschaften ermöglicht und sei andererseits in die Entwicklung einer Beziehungsstruktur gemündet, in der sich zwei geschlossene Wir-Gruppen in einer sich immer fester anziehenden Konfliktspirale gegenüberstanden. Diese historischen Prozessverläufe bildeten die Grundlange für die habituellen und strukturellen Besonderheiten Kärntens im 20. und 21. Jahrhundert, die der Autor als Überspitzung der österreichischen Verhältnisse beschreibt.

Christian Dorner-Hörigs Studie ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Erstens ist sie ein innovativer Beitrag zum Verständnis der politischen und habituellen Besonderheiten des Landes Kärnten. Sein empirisch überprüfbares theoretisches Modell der langfristigen Gesellschaftsentwicklung macht es einerseits möglich, die Gegenwart systematisch mit vorhergehenden Entwicklungsphasen zu vergleichen, und gestattet andererseits, den Kärntner Prozessverlauf jenen in anderen Ländern gegenüberzustellen.

Daher bietet sich, zweitens, sein am Fallbeispiel Kärnten entwickeltes Etablierten-Außenseiter-Modell geradezu für Vergleiche mit ethnischen Konflikten oder regionalistischen Bewegungen in anderen Ländern (etwa in Südtirol, Nordirland, Schottland, Katalonien oder dem Baskenland) an.

Gleichzeitig kann das Buch auch als Versuch gelesen werden, zur Versachlichung der bisweilen emotionalen Diskussion über „die Kärntner“ und das „System Jörg Haider“ beizutragen. Eine der Leistungen Dorner-Hörigs liegt darin, die verbreiteten Wertungen und Klischees nicht als implizite Thesen, sondern als expliziten Teil des zu untersuchenden Phänomens in die Analyse einzubeziehen. Es ist erstaunlich, wie gut es ihm gelingt, sich trotz seines aktiven Engagements in der Landespolitik subjektiver Wertungen zu enthalten und lediglich die gesellschaftlichen Zwänge sichtbar zu machen, die das Denken, Fühlen und Handeln aller Beteiligten – von politischen Gegner/innen über Mitstreiter/innen bis zum Forscher selbst – auf spezifische Weise strukturieren. Dorner-Hörigs Ansatz hat dadurch das Potential, zum gegenseitigen Verständnis der Konfliktparteien beizutragen, was auch für die Beilegung ähnlicher Konflikte in anderen Ländern hilfreich sein könnte.

Daher kann diese Studie, viertens, als Beleg für die Leistungsfähigkeit der Prozesssoziologie dienen. Als besonders erhellend erweist sich die Erweiterung der Politischen Kulturforschung um die Langfrist- und die Wir-Perspektive sowie die Einbeziehung von Emotionen. Auch Dorner-Hörigs Überlegungen zur Aktualisierung der Elias’schen Prozesstheorie durch die neurobiologische Forschung sind interessant und weiterführender Überlegungen wert.

Leider bricht die prozesssoziologische Untersuchung mit dem Ende der Habsburgermonarchie ab. Zwar argumentiert der Autor überzeugend, dass man die heutigen Besonderheiten der politischen Kultur Kärntens nicht nur aus den historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts erklären kann. Jedoch wird nicht klar, warum diese jüngere Vergangenheit lediglich als Teil des zu erklärenden Phänomens behandelt, nicht aber als weitere Phase in die systematische Untersuchung der Sozio- und Psychogenese Kärntens einbezogen wird. Schade ist außerdem, dass die Entwicklungen seit dem Abschluss der Dissertation gar nicht eingearbeitet wurden.3

Insgesamt eröffnet Dorner-Hörig aber nicht nur einen neuen Blickwinkel auf die politische Kultur eines österreichischen Bundeslandes, sondern er zeigt auf, dass emotionale, parteiliche oder moralisierende Interpretationen einem sachgerechten Verständnis und damit einer möglichen Problemlösung im Wege stehen. Abschließend ist dem Wunsch des Autors beizupflichten, das Buch möge einen Weg aufzeigen, auf dem gegenseitiges Verständnis möglich und ein Ausbrechen aus der Spirale der gegenseitigen Provokation und Beschämung denkbar ist.

Aus all diesen Gründen ist dieser Publikation – vor allem, aber nicht nur in Kärnten – eine breite Leser/innenschaft zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Das Buch ist eine überarbeitete Version von Dorner-Hörigs Dissertation (Christian Dorner-Hörig, Soziogenese und Psychogenese der politischen Kultur Kärntens, Karl-Franzens-Universität Graz 2012).
2 Wie der Abwehrkampf und die Volksabstimmung nach dem Ersten Weltkrieg, der Partisanenkampf während und unmittelbar nach der NS-Zeit oder der Ortstafelstreit.
3 Etwa die Tatsache, dass das „dritte Lager“ seit 2013 nicht mehr den Landeshauptmann stellt.

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