A. Froidevaux: Gegengeschichten oder Versöhnung?

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Titel
Gegengeschichten oder Versöhnung?. Erinnerungskulturen und Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung vom Bürgerkrieg bis zur »Transición« (1936–1982)


Autor(en)
Froidevaux, Alexandre
Erschienen
Anzahl Seiten
600 S.
Preis
€ 28,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Hünecke, Berlin

In den letzten Jahren ist auch im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl von Arbeiten entstanden, die sich mit der erinnerungspolitischen Bearbeitung des Spanischen Bürgerkrieges und der franquistischen Diktatur auseinandersetzen. Auslöser war ein Erinnerungsboom in der spanischen Gesellschaft um die Jahrtausendwende, der einen Bruch mit dem Pacto del Olvido (dt. Pakt des Vergessens) der Transición (dt. Übergang) darstellte: Außerparlamentarische Initiativen, Kultur und Wissenschaft versuchen seit dem franquistische Verbrechen aufzuarbeiten und antifranquistische Gegengeschichten zu schaffen.

In seinem Buch – eine leicht überarbeitete Version seiner Dissertation (2013) – widmet sich Alexandre Froidevaux der spanischen Arbeitendenbewegung vom Bürgerkrieg (1936–1939) bis zur Transición in eine parlamentarische Monarchie (1975/77–1982). Der Untersuchungsfokus ist auf den erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Umgang dieser Bewegung mit dem Bürgerkrieg, der libertären Revolution und der franquistischen Repression im posguerra gerichtet. Froidevaux bezieht sich auf den Historiker David Mayer, der die Bedeutung von „Gegengeschichten“ für die Linke in Lateinamerika hervorhebt. „Durch die Rekonstruktion von ‚Gegengeschichten‘ würde die Möglichkeit zum politischen Wandel in der Geschichte und die prinzipielle Transformierbarkeit von Gesellschaft sichtbar und somit die Existenz der Linken als gesellschaftsverändernde Kraft legitimiert.“ (S. 15) In seiner Arbeit geht Froidevaux der Frage nach, inwiefern diese These auf die spanische Arbeitendenbewegung in den Jahrzehnten des Franquismus und der Transición übertragbar ist.

Wie war es möglich und wie wurden Erinnerungen und Gegengeschichten innerhalb der Arbeitendenbewegung tradiert? Schließlich waren die gewerkschaftlichen und parteilichen Strukturen unter der Diktatur zerschlagen und verboten worden. Und deren Anhänger/innen wurden verfolgt, in Gefängnissen und Konzentrationslager inhaftiert, gefoltert, zur Zwangsarbeit und ins Exil gezwungen, ermordet oder ‚verschwanden‘. Gleichzeitig konstruierte sich das franquistische Regime „mit allen Mitteln moderner Staatsgewalt sein Siegergedächtnis“ (S. 162). Trotz des massiven Repressionsapparats existierte die Arbeitendenbewegung aber in klandestinen Widerstandsstrukturen fort. Laut Froidevaux waren dies zunächst vor allem organisierte Zellen in den Haftanstalten, klandestine Reorganisierungen der verbotenen Parteien und Gewerkschaften sowie Land- und Stadtguerillagruppen.

In seiner Untersuchung konzentriert sich Froidevaux auf die Gewerkschaften und Parteien der drei Hauptströmungen Anarchismus / Anarchosyndikalismus, Sozialismus und Kommunismus (S. 21): die anarchistische Confederación Nacional del Trabajo (CNT, Nationaler Bund der Arbeit), die Partido Socialista Obrero Español (PSOE, Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) / Union General de Trabajadores (UGT, Allgemeine Arbeiterunion) und die Partido Comunista de España (PCE, Kommunistische Partei Spanien). Er untersucht deren klandestine Ableger im spanischen Inland und deren Exilstrukturen. Zusätzlich werden diverse Abspaltungen, Strömungen, Publikationen und Zusammenschlüsse dieser zentralen Akteure beleuchtet. Dem Autor ist es hervorragend gelungen, diese Komplexität der spanischen Arbeitendenbewegung anschaulich darzustellen und die unterschiedlichen politischen Selbstverständnisse, Überzeugungen und Ansichten herauszuarbeiten. Die zusammenfassenden Analysen an den Kapitelenden sowie Grafiken über die Gruppen und Organisationen der drei Hauptströmungen während der Epochen tragen zu einem gelungenen Überblick bei. Die entstandene Darstellung der spanischen Linken des 20. Jahrhunderts darf zu Recht von sich behaupten, dass es keine vergleichbare deutschsprachige Veröffentlichung gibt.

Um die Erinnerungen und Gegengeschichten der Linken herauszuarbeiten, betrieb Froidevaux intensive Quellenarbeit in spanischen Archiven. Diese hat er auf der Basis gedächtnistheoretischer Grundlagen von Maurice Halbwachs, Jan und Aleida Assmann über kollektives und kulturelles Gedächtnis sowie mithilfe von Kategorien wie Erinnerungskultur, Geschichtspolitik, Erinnerungspolitik und Vergangenheitspolitik ausgewertet. Intensiv hat Froidevaux die geschichtspolitischen Debatten und Legitimierungsstrategien, historischen Feierlichkeiten, Identitätsstiftungen durch Vergangenheitsbezüge, Narrative der erinnerten Referenzzeugnisse, vergangenheitspolitische Entscheidungen und erinnerungspolitische Initiativen der spanischen Arbeitendenbewegung analysiert. Es ist eine komplexe Darstellung von Gegengeschichten und Erinnerungen der spanischen Arbeitendenbewegung entstanden. Diese zeigt nicht nur divergierende Erinnerungen, Gegengeschichten und Mythenbildungen sowie erinnerungskulturelle Bezugspunkte auf, sondern weist nach, dass diese von Kontroversen, Veränderungen, Kurswechseln und Widersprüchen geprägt und abhängig von den Verhältnissen ihrer Zeit waren.

Ein entscheidender Hintergrund von verschiedenen Narrationen und Erinnerungen waren die unterschiedlichen Verständnisse und Praxen der drei Hauptströmungen während des Bürgerkrieges, wie es Froidevaux ausführlich im Kapitel zum Bürgerkrieg und zur Revolution darstellt. Zentrale Konfliktpunkte zwischen den Gruppierungen waren das Verhältnis zu Krieg und Revolution sowie die Organisierung des Widerstandes (egalitäre Milizen oder hierarchisches Volksheer). Die sich zugespitzten Konflikte hatten auch zu bewaffneten innerlinken Auseinandersetzungen u.a. bei den sogenannten „Maitagen“ 1937 geführt. Des Weiteren kam es zu repressiven Maßnahmen bis hin zu Ermordungen innerlinker Gegner/innen, vor allem durch den PCE. Dies trug zu einem starken, andauernden Antibolschewismus bei der Bürgerkriegsgeneration der PSOE/UGT und CNT bei, der auch den antifranquistischen Widerstand beeinflusste. Anderseits sah die PCE im sogenannten „Casado“-Putsch gegen die Regierung Negrins einen Hochverrat.

Aber nicht nur zwischen den drei Hauptströmungen der Arbeitendenbewegung wurden unterschiedliche Gegengeschichten und Erinnerungen konstruiert, sondern auch innerhalb der einzelnen Parteien und Gewerkschaften waren diese verschieden. Divergierende geschichtspolitische Verständnisse führten zu (Ab-)Spaltungen innerhalb der Strukturen. Während des Primer Franquismo- (1940–1950er-Jahre) spaltete sich die CNT in die „politischen“ und die „apolitischen“ Anarchist/innen, im PSOE/UGT kam es zu verschiedenen Fraktionierungen, wohingegen im PCE nur wenige von der Parteilinie abwichen. Massiv waren zudem die Differenzen zwischen den Inlands- und Exilstrukturen der jeweiligen Parteien und Gewerkschaften. Im Exil wurde viel erinnert und sich intensiv mit der Frage beschäftigt, warum der Krieg verloren ging. Hinsichtlich des Inlandes spricht Froidevaux von einem „Memorizid“, dessen Ursachen er u.a. in der Unterdrückung eines Verlierergedächtnisses und in der Angst und der Traumata der Bürgerkriegsgeneration sieht. Froidevaux schlussfolgert, dass es sich bezogen auf den _posguerra um „ein Vielfach gespaltenes Verlierergedächtnis“ handelt (S. 307).

Prägend für den Segundo Franquismo (1959–1975) sei, so Froidevaux, ein antifranquistischer Versöhnungsdiskurs gewesen: Dieser umfasste unterschiedliche Ansätze verschiedener antifranquistischer Akteure im Inland, die darauf abzielten „dass die Geschichte (die) Gegenwart und Zukunft nicht weiter bestimmen“ durfte (S. 311). Exemplarisch für diese Zäsur stehen die auf Versöhnung ausgerichteten Verhandlungen der PSOE und Teilen des CNT mit ehemaligen Feinden (monarchistischen Franco-Gegnern) sowie die Reconciliación nacional-Strategie (dt. nationale Versöhnung) des PCE. Vor allem wollten die sogenannten hijos de los vencedores y de los vencidos (dt. Kinder der Sieger und Verlierer) innerhalb des antifranquistischen Widerstandes nach vorne blicken. Dieses Versöhnungsparadigma sorgte für neuen Konfliktstoff innerhalb der Strukturen, die auch zu neuen Spaltungen wie beim PSOE führten. Die Konfliktlinien verliefen dabei insbesondere zwischen Bürgerkriegsgeneration versus hijos, Exil versus Inland und alte versus neue Arbeitendenbewegung (S. 350).

Die Darstellung des antifranquistische Versöhnungsdiskurses während des Segundo Franquismo hilft, die Transición zu verstehen. Froidevaux sieht nach dem Tod des Diktators Franco eine Pattsituation zwischen antifranquistischen Kräften und dem franquistischen Regime: Während antifranquistische Kräfte mittels Streiks und Demonstrationen Demokratie forderten, waren Polizei und Militär weiter in franquistischen Händen und stellten sich gegen eine Demokratie. Die verschiedenen politischen Kräfte einigten sich schließlich auf eine „pactada democrática“ (dt. paktierte Demokratie). Allerdings handelte es sich dabei um einen Elitenprozess, der die Bürger/innen ausschloss. Froidevaux unterstreicht, dass die Linke für diese Transición viel opferte. Sie verzichtete auf eine Aufarbeitung der Diktatur und deren Verbrechen – was eine Straflosigkeit für die Täter/innen implizierte – sowie auf die Schaffung einer öffentlichen antifranquistischen Gegengeschichte. Ob es wirklich eine „Unmöglichkeit“ (S. 513) gewesen ist, eine „ruptura democrática“ (dt. demokratischen Bruch) mit der Diktatur durchzusetzen, wie Froidevaux konstatiert, kann aus heutiger Perspektive nicht geklärt werden.

Mit seiner Arbeit hat Froidevaux einen bedeutenden Beitrag für aktuelle geschichtspolitische Auseinandersetzungen geliefert. Gerade in Bezug auf die Bearbeitung des antifranquistischen Widerstandes, die noch ganz am Anfang steht, wird sein Buch im deutschsprachigen Raum für weitere Untersuchungen einen zentralen Stellenwert haben.