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Titel
Frontbeziehungen. Geschlechterverhältnisse und Gewaltdynamiken in der Roten Armee 1941–1945


Autor(en)
Bischl, Kerstin
Reihe
Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts
Erschienen
Hamburg 2019: Hamburger Edition
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elke Scherstjanoi, Abteilung Berlin, Institut für Zeitgeschichte München – Berlin

Die britische Historikerin Catherine Merridale überraschte 2006 mit einem kulturwissenschaftlichen Blick auf die Rote Armee.1 Die Fachwelt reagierte einerseits mit Lob für die nicht heroisierende Zeichnung des Akteurs „Rotarmist“, für die Aufwertung seiner subjektiven Zeugenschaft sowie für eine facettenreiche, einfühlsame, ungeschönte Schilderung vom Elend der Soldaten, andererseits mit Kritik für zu wenig Differenzierung und flüchtige bis fehlerhafte Kontextualisierung. Kerstin Bischl steht mit ihrer an der Humboldt-Universität Berlin verteidigten Dissertationsschrift in der Tradition eines solchen alltagsgeschichtlichen Zugangs über Ego-Quellen, wenn sie sich einen Ausschnitt von Merridales Forschungsfeld genauer vornimmt: die individuell und in Gruppen erfahrene physische und mentale Gewalt und das gewaltvolle Handeln von Rotarmisten. Ihr Augenmerk gilt geschlechtsbezogener Gewalt seitens männlicher Soldaten innerhalb der Truppe und nach außen. Aus einem „sich radikalisierenden Männlichkeitsdiskurs der durch den Krieg brutalisierten Rotarmisten “ (S. 308) will sie sexuelle Übergriffe, insbesondere die Exzesse gegen Zivilisten 1945 erklären, die bekanntlich nicht nur deutsche Frauen trafen. Ausgangsüberlegung ist, dass „die Begründung der Gewalt nicht in nationalen Zuschreibungen […] liegen“ kann (S. 25).

Wie Bischl einleitend bekennt, sind weder reale Geschlechterverhältnisse noch reale Gewaltentwicklungen in der Roten Armee bzw. in deren Fronteinheiten zwischen 1941 und 1945 vollumfänglich analysierbar. Die Aktenlage sei „breit und disparat“ (S. 25), zentrale russische Bestände seien geschlossen. Ihre gar nicht so wenigen Ego-Quellen (vier Kriegsteilnehmerinnen hat sie selbst interviewt) schätzt Bischl als nicht repräsentativ ein. Folglich will sie statt Gewalthandeln eher Kommunikation, Handlungsintention und „geschlechtlich codierte Selbst- und Fremdwahrnehmung“ (S. 23) untersuchen. Dies im Forschungszuschnitt von den eigentlichen Gewaltvorgängen völlig zu separieren, wäre gewiss falsch. Aber es bringt auch nichts, beides ständig zu vermengen, auch dann nicht, wenn Projektion einen so hohen Stellenwert für die Gewaltpraxis erhält, wie in Bischls „diskursanalytisch inspirierter Alltagsgeschichte“ (S. 23).

Die Gewalt- und die Geschlechtergeschichte bieten für die Erschließung des komplexen Frontalltags der Roten Armee kein unumstrittenes Instrumentarium. Die klassische Militärgeschichte als Beschreibung von Kampfpotenzial und Schlachtverläufen offeriert ihrerseits kaum Sozialdaten. Bischl klopft zunächst Begriffe ab, hinterfragt Thesen. Dass sie sich nicht auf jeden Begriffsstreit einlässt (sexuelle oder sexualisierte Gewalt), überzeugt ebenso wie ihr an die Neue Gewaltforschung angelehntes Grundverständnis von kriegsbedingter sexueller Gewalt als einer Art Anerkennungsgeschehen unter männlichen Soldaten (S. 18). Ergebnisse der soziopsychologischen Gewaltforschung zitiert sie bei Überlegungen zur Rolle des Gefechts im Frontalltag, zum Training der Gewaltverarbeitung oder zur Sucht nach Gewalt. Manche These findet sie in ihrem Material bestätigt. Zuerst thematisiert Bischl Erlebnisse des Frontalltags als Gewalterfahrung schlechthin. Sie folgt ihrem Mentor Jörg Baberowski darin, dass es im Falle der Roten Armee ein zweifach gewaltvoller Alltag war: Neben armee- und kriegsspezifischer Gewalt herrschte systemisch-stalinistische Gewalt, die alle sowjetischen Institutionen durchzog. Analog zu Barberowskis „Gewaltraum“ operiert Bischl mit einem selbst definierten „Frontraum“, der „durch Mangel und stalinistische Willkür geprägt“ war (S. 9). Was konkret an ziviler Konflikt- und Gewalterfahrung mitgeschleppt wurde, erfahren wir nicht. Bischl stellt anhand normativer Akten stalinistische Überwachungs- und Repressionsorgane in der Armee und Strukturen der Verfolgung von Desertion vor und verweist auf die insgesamt 158.000 Todesurteile wegen Panikmacherei, Feigheit oder Selbstverstümmelung. Dann präsentiert sie Szenen aus dem „Tollhaus Front“ (Zeitzeugenzitat, S. 92). Ego-Texte belegen mangelhafte Grundausbildung, schlechte Ausrüstung, brutale Befehlssprache, miserable Essensversorgung, Vetternwirtschaft unter Offizieren, grausame Selbstjustiz unter Soldaten. Die Stimmung sei geprägt gewesen von Übereifer neben Gleichgültigkeit, ideologischer Scharfmacherei neben Langeweile, schließlich vom “Bewusstsein der vollständigen eigenen Nichtigkeit, eine[r] tierische[n] Angst um das eigene Leben“ (Zeitzeugenzitat, S. 97).

Das zweite Kapitel behandelt doing gender an der Front. Nicht ihre große Zahl (zwischen 0,5 und 1,5 Millionen), vielmehr ihr Einsatz in Kampfeinheiten machte Frauen in der Roten Armee zu etwas Besonderem im Vergleich zu Armeen anderer Kriegsteilnehmer. Bischl zeigt die geschlechtsspezifischen Mobilisierungs- und Demobilisierungsumstände, die anfänglich massive Zurückweisung von Frauen in den Kampfeinheiten, den besonderen Bewährungsdruck als Vorgesetzte. Sie spricht Verhaltenswandel von Frauen an, zeigt Schutzbedürfnisse, Strategien der Behauptung und Selbstinszenierung von Weiblichkeit. Zwar räumt Bischl hier ein, anhand der spärlichen Quellen aus unterschiedlichen Entstehungskontexten nicht verallgemeinern zu können, dennoch tut sie dies unentwegt. So deutet sie die stabilen Intimpartnerschaften an der Front als einzig möglichen Schutz der Frauen vor sexuellen Übergriffen und Demütigung (S. 177), obwohl ihre Quellen auch Gegenbeispiele zeigen. Die Männer sahen in ihren Kameradinnen angeblich nur PPŽ (S. 185) – ein abwertendes Kürzel für „Marsch- und Feldehefrau“ (nicht für „marschierende Feldehefrau“, S. 176) –, wenngleich einige Texte gegen diese Generalisierung sprechen.

„Gelebte Männlichkeit“ an der Front (S. 186) mündete Bischl zufolge in verbreitete Frauenverachtung. Einerseits sei das Selbstwertgefühl „der Männer“ durch die Soldatin in Frage gestellt worden. Andererseits waren Promiskuität und schneller Sex in der Truppe nicht selten, während sexbereite Frauen zugleich diffamiert wurden. Bischl beschreibt Geschlechterbeziehungen im Kontext von militärischer Hierarchie und Konkurrenz unter Frauen wie unter Männern. Über Impotenz wegen Kriegsbelastung spekuliert sie. Dass sexistische Angeberei unter Männern Zusammenhalt stiften kann, weiß man aus dem Zivilleben. Doch wie genau die „Entgrenzung“ vonstattenging, wie sich eine gewaltvolle „Norm etablierte“ (S. 227) und weshalb beim Einmarsch in Deutschland dessen Einwohner sinnbildlich zu sexuell verfügbaren Frauen degradierbar waren (S. 236), bleibt unklar.

Die Ausbreitung von Ego-Dokumenten, die hierzulande kaum bekannt sind, ist sehr verdienstvoll. Die Stückelung der Texte weckt allerdings Misstrauen. Da wird auch schon mal ein Satz weggelassen, wenn er Bischls Argument im Weg steht. Die Quellenkritik ist dürftig, die Wertung streckenweise moralisierend und sprachlich unangemessen, manch Kommentar erscheint skurril.

Das letzte Kapitel thematisiert den Zerstörungsrausch im Moment der Einnahme deutscher Siedlungen. Bischl zitiert Bekanntes aus deutscher und weniger Bekanntes aus russischer Erinnerung, Ersteres eklatant unkritisch. Da die eigentlichen Geschehnisse hier noch weniger als im vorangegangenen Abschnitt analysierbar sind, dominiert in diesem Teil die Nachkriegs-Diskursgeschichte. Dieser Schwenk auf das Gedächtnis bringt es mit sich, dass die neuen Erfahrungen und Intensitätswechsel im Gewalthandeln während der Schlussphase des Kriegs außer Betracht bleiben, obgleich die Forschung durchaus mögliche Ursachen für Entgrenzung anbietet: der sinnlose deutsche Widerstand, die Erfahrung von Nahkampf, die Rekrutierung befreiter Zwangsarbeiter sowie die Wahrnehmung deutschen Wohlstandes und devoten Verhaltens unter den Besiegten.

Hier zeigt sich eines der Hauptprobleme der Arbeit: Wiederholt thematisiert, sind „Gewaltdynamiken“ in diesem Buch an keiner Stelle wirklich beschrieben. Wir sehen zwar, welche (nicht quantifizierbare) Geschlechts- und Gewalterfahrung den Exzessen von 1945 vorausging, das Auf und Ab von Gewaltintensität, den Wandel bei Gewaltszenarien, Täterprofilen und Opferzahlen erfasst die Betrachtung aber nicht. Der Blick ist auf permanente Brutalisierung eingeengt, Gewalt eindämmende Verhältnisse und Praktiken interessieren nicht. Die Konditionierung der Täter erscheint zudem ohne jeden Bezug zum Kriegsverlauf: “Gewaltdynamiken“ ohne „Bedrohungsdynamiken“. Da ihr zudem größere Datenmengen fehlen, kann Bischl die „Dynamik gegenseitiger Radikalisierung“ (S. 131) nicht sichtbar machen, selbst die angekündigten „Tendenzen“ (S. 31) nicht.

Gewiss muss nicht jede Studie zur Roten Armee das kollektive und persönliche Leid der Soldaten durchdeklinieren. Doch Vergemeinschaftungsprozesse basieren auf Erfahrungsverläufen. Davon sehen wir nichts. Bischls Ansatz ignoriert obendrein wichtige Faktoren wie kulturelle Vorprägung und latente Auslese, übergeht Alters- und Erfahrungsgruppen. Die einzige Zäsur, die in der Analyse auftaucht, ist der Moment, „als die brutalisierten Rotarmisten als Sieger nach Westen vorrückten“ (S. 240). Ähnlich wie Merridale zeichnet Bischl das alte Bild einer inneren Gewaltpotenzierung, der die Explosion folgte. Entsprechend unvermittelt kommt der Schluss: Die Radikalisierung sei „dadurch möglich geworden, dass der Frontraum ein stalinistisch organisierter Gewaltraum war – abgeriegelt und eine in der Tendenz kollabierende Gesellschaftsordnung“ (S. 309). Statt nationaler Zuschreibung nun also eine systemische.

Eine solche generalisierende Erklärung der Exzesse beim Vormarsch der Roten Armee 1944/1945 hinterlässt Zweifel. Als Historikerin nimmt Bischl die Quellenmisere zu leicht, ihr Verständnis von Prozesshaftem ist zu schlicht. Und da sie auch noch den Systembezug überdehnt, bleibt am Ende der Eindruck eines feministisch ambitionierten soviet-bashing.

Anmerkung:
1 Catherine Merridale, Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939–1945, Frankfurt am Main 2006, siehe die Rezensionen von Alexander Brakel und Beate Fieseler, in: H-Soz-Kult, 19.03.2007, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-9523 sowie https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-9576 (22.02.2020).

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