K.-J. Hölkeskamp u.a. (Hrsg.): Die Grenzen des Prinzips

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Titel
Die Grenzen des Prinzips. Die Infragestellung von Werten durch Regelverstöße in antiken Gesellschaften


Herausgeber
Hölkeskamp, Karl-Joachim; Hoffmann-Salz, Julia; Kostopoulos, Katharina; Lentzsch, Simon
Erschienen
Stuttgart 2019: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone Blochmann, Eberhard Karls Universität Tübingen

Der Sammelband Die Grenzen des Prinzips geht aus einer gleichnamigen Tagung, die am 29. und 30. Januar 2016 an der Universität zu Köln stattfand, hervor. Das Thema knüpft an die Frage nach den Grundlagen des Zusammenhalts antiker Gemeinschaften und Gemeinwesen an, allerdings hier aus der Perspektive von Grenzsituationen und ihren Rückwirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben. Der Sammelband untersucht Konfliktsituationen, die sich als Konfrontation oder sogar Bruch mit geltenden Regeln oder Normen beobachten lassen. Das Ziel des Tagungsbandes ist es, über diese Konflikte greifbar zu machen, welche Ordnungsmuster solchen kritischen Situationen als Referenzpunkt des Denkens, Sprechens oder Handelns zugrunde liegen. Das ist insofern interessant, als gerade diese Ordnungsmuster in den Quellen selten direkt sichtbar werden. Solange das Zusammenleben im Gemeinwesen weitgehend störungsfrei funktioniert, wird deren wird deren Gültigkeit oft als selbstverständlich vorausgesetzt und erst, wenn das erkennbar nicht funktioniert, reflektiert.

Der Sammelband nimmt solche Grenz- oder Konfliktsituationen auf antike Gemeinwesen sowohl in Griechenland als auch Rom in den Blick. Entsprechend gliedert sich der Tagungsband in zwei Hälften, von denen sich jeweils eine mit der griechischen und eine mit der römischen Antike beschäftigt. Vorangestellt sind den Diskussionsbeiträgen Einleitung und methodische Überlegungen, die die einzelnen Beiträge miteinander verbinden. Die Leitfragen lassen sich folgendermaßen formulieren: Wo und in welchen Kontexten sind Regelbrüche oder -verstöße beobachtbar? Welche Formen von Regelbrüchen gibt es? Wann und von wem wird etwas überhaupt als Regelverstoß wahrgenommen? Welche Lösungsstrategien lassen sich erkennen? (vgl. S. 14–16).

Die ersten sechs Beiträge beschäftigen sich mit Normenkonflikten in der griechischen Antike. Sie spannen, chronologisch geordnet, einen zeitlichen Bogen vom 7. Jh. v.Chr. bis in hellenistische Zeit. Der geographische Schwerpunkt liegt zwar in Griechenland, reicht mit den Beiträgen von Michael Kleu (“Weder beweint noch bestattet.“ Philipp V. und die Gefallenen der Schlacht bei Kynoskephalai) und Frank Daubner (Familienstrukturen und politischer Wandel am Rand der griechischen Welt. Beobachtungen an den Inschriften von Boutros) aber bis nach Makedonien.

Der Beitrag von Gunnar Seelentag (Konfliktregulierung im archaischen Griechenland zwischen Prinzipien- und Regelorientierung, S. 25–45) widmet sich der Frage, welche Erkenntnisse sich aus den Praktiken der Streitschlichtung im archaischen Griechenland, wie sie in der Ilias, der Odyssee und Hesiods Werke und Tage, aber auch inschriftlich beispielsweise in einem Gesetz der polis Dreros auf Kreta Mitte des 7. Jahrhunderts überliefert sind, über die dortige Entstehung und Entwicklung von Institutionen und deren soziopolitische Funktionen gewinnen lassen.

Robin Osborne untersucht in seinem Beitrag (Unruly women and Greek sanctuaries. Gendered expectations and their violation, S. 47–62) Kultpraktiken in griechischen Heiligtümern in klassischer Zeit. Darin fragt er nach dem Verhältnis zwischen Erwartungen an weibliches Verhalten in Kultpraktiken in griechischen Heiligtümern und dem öffentlichen Leben der klassischen polis. Anhand von Weihegaben, Prozessionen sowie Opfer und Opfermahl zeigt er auf, wie ausgerechnet in der streng reglementierten Kultpraxis die Rolle von Frauen deren Rolle in der polis-Gemeinschaft konträr gegenüberstand. Als Raum, in dem man mit den Göttern kommunizierte, habe die Kultpraxis Möglichkeiten eröffnet, kompetitivem Verhalten, Exzessen und der Umkehrung oder Außerkraftsetzung von Geschlechterrollen Ausdruck zu verleihen, die im gemeinschaftlichen Leben der polis als dysfunktional und als Grenzüberschreitungen gewertet worden wären (vgl. S. 61). Die Rolle von Frauen stellt auch den Ausgangspunkt für den Beitrag von Winfried Schmitz (Den Normenkonflikt aushalten. Euripides‘ Andromache und das Bürgerrecht des Perikles, S. 63–79) dar, hier ausgehend davon, wie konkurrierende Normen im Athen im 5. Jahrhundert v.Chr. verhandelt wurden. An Euripides‘ Tragödie Andromache untersucht er einen Konflikt, der sich an einem Kind entzündet, das in einem Haushalt von einer Sklavin geboren wurde und damit den Status der Ehefrau, die selbst kinderlos ist, bedroht. 431 v.Chr. in einer Umbruchssituation entstanden – im ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges und kurz nach einer Seuche, die Athen hart getroffen hatte – zeigt Schmitz, wie Euripides in der Tragödie Konfliktlinien aufgreift, die schon Diskussionen um die Erweiterung des perikleischen Bürgerrechts ein Jahr zuvor begleiteten – und möglicherweise in der Einführung der Bürgerrechtsgesetze zwanzig Jahren zuvor angelegt waren (vgl. S. 73).

Katharina Kostopoulos (Denkmal und Debatte. Regelkonflikte um Ehrungen in der athenischen Demokratie, S. 81–94) ergänzt die Perspektiven auf die klassische polis, indem sie die Aufstellung von Denkmälern derjenigen, die sich um die polis verdient gemacht haben, in den Blick nimmt. Sie untersucht, nach welchen Regeln diese Statuen auf der Agora für alle sichtbar aufgestellt wurden, wie in den unmittelbar zeitgenössischen Diskussionen um die Aufstellung dieser Statuen gerungen wurde und wie die ausgehandelten Regeln verstetigt wurden. Der Fokus liegt quellenbedingt auf dem 4. Jahrhundert, weil für das 5. Jahrhundert solche Diskussionen in unmittelbar zeitgenössischen Schriften fehlen oder zumindest nicht überliefert sind. Auch Dorothea Rohde („Verrat ist eine Frage des Datums.“ Der _parapresbeia-Prozess des Jahres 343_, S. 95–106) untersucht die politische Praxis im Athen des 4. Jahrhunderts am Beispiel des Prozesses gegen Aischines im Jahr 343 v.Chr. Den Anlass dafür hatte eine Gesandtschaft geliefert, die die Athener in einer Konfliktkonstellation, die zu eskalieren drohte, zu Philipp II. geschickt hatten. Im Prozess wurde die Frage verhandelt, welche Rückwirkungen die diplomatischen Aktivitäten des Aischines vier Jahre zuvor auf die athenische Gemeinschaft und ihre Institutionen hatten und ob diese angesichts der Zuspitzung des Konflikts nicht eine Neubewertung erforderten und als Verrat an den Interessen der polis zu werten seien.

Mit der zeitlichen und geographischen Erweiterung in den beiden letzten Beiträgen zur griechischen Antike eröffnen sich interessante Perspektiven auf die polis-Kultur in Griechenland insgesamt. Michael Kleu („Weder beweint noch bestattet.“ Philipp V. und die Gefallenen der Schlacht bei Kynoskephalai, S. 107–121) beschäftigt sich damit, wie Philipp V. mit den Toten nach der verheerenden Niederlage in der Schlacht von Kynoskephalai im Jahr 197 umging. Die Schlacht markierte nicht nur insofern eine Zäsur, als sich der König gezwungen sah, Rom um Frieden zu bitten, sondern auch, weil der Umgang mit den in der Schlacht Gefallenen aus dem Rahmen fiel. Philipp V. verweigerte den Toten die ansonsten übliche ehrenvolle Bestattung – ein Normbruch, der aber in den Quellen nicht als solcher diskutiert wurde. Auch der Beitrag von Frank Daubner (Familienstrukturen und politischer Wandel am Rand der griechischen Welt. Beobachtungen an den Inschriften von Boutros, S. 123–142) untersucht Familienstrukturen im hellenistischen Butrint (232–44 v.Chr.) und erweitert damit die Perspektive zeitlich um einen Blick auf den Norden Griechenlands, abseits der in Griechenland dominierenden polis-Kultur. Da literarische Quellen fehlen, sucht Daubner im epigraphischen Befund nach Regeln, nach denen lokale Familien organisiert waren, wie Ehen geschlossen wurden, Familienbesitz vergeben wurde, welche Rolle Frauen innerhalb familiärer Strukturen zukam und wie sich solche Organisationsformen auf die politische Kultur auswirkten, die sich von griechischen Gemeinwesen in den untersuchten Fragen deutlich unterschieden.

Der Teil zur römischen Geschichte konzentriert sich auf den Zeitraum von der mittleren Republik bis in die frühe Kaiserzeit. Der Fokus auf Konfliktsituationen liefert dabei wertvolle Einblicke in die Binnen- und Veränderungsdynamiken der politischen Strukturen Roms. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den strukturellen Besonderheiten der politischen Kultur im 2. und 1. Jh. v.Chr., entsprechend dem Tagungsthema aber mit dem Fokus auf die zahlreichen Konflikte und dysfunktionale – oder dysfunktional erscheinende – Verhaltensweisen.

Die Beiträge von Andrew van Ross (Kontingenz und Risiko im politischen Leben der mittleren römischen Republik, S. 143–161), Francisco Pina Polo (Transgression and tradition in the Roman Republic. Some reflections, S. 163–177), Uwe Walter (Gewalteruptionen in der späten Republik. Unfall, stete Option oder Agens einer Dehnung von Regeln und Normen?, S. 179–192) sowie der Beitrag von Simon Lentzsch („Immer an der Spitze, manchmal, oder nie?“. Normenkonflikte in der Rolle des römischen Feldherrn, S. 193–208) richten den Blick explizit auf die Besonderheiten republikanischer Strukturen. Ausgehend von der Beobachtung, dass Kontingenz im politischen Wettbewerb einen auffallend hohen Stellenwert besaß, versucht Andrew van Ross genauer zu bestimmen, welchen Raum diese in einer hochgradig von Normen geprägten Gesellschaft wie der römischen im politischen Leben einnahm und wie solche Kontingenzerfahrungen in der mittleren Republik politisch integriert wurden, ohne dysfunktional zu werden. Francisco Pina Polo widmet sich dagegen dem Umgang mit expliziten Grenzüberschreitungen im 2. und 1. vorchristlichen Jahrhundert. Er untersucht, in welchem Verhältnis Recht und normative Setzungen in Form von traditionellen Werten, die als mos maiorum den zentralen Bezugspunkt politischen Handelns darstellten, standen. Dabei fragt er danach, wie es gelang, potenzielle Grenzüberschreitungen einzuhegen und in außergewöhnlichen Situationen wie im zweiten römisch-karthagischen Krieg oder im mithridatischen Krieg Lösungen zu finden, ohne den mos maiorum als diesen Bezugspunkt aufzugeben, sondern diesen mit der Lösungsstrategie gewissermaßen zu versöhnen und die potenzielle Konfliktträchtigkeit zu entschärfen. Uwe Walter ergänzt diesen Beitrag, indem er sich mit solchen Grenzüberschreitungen in Krisensituationen und deren Wirkung auf Regeln und Handlungsroutinen sowie Normen und Prinzipien der res publica beschäftigt. Dabei liegt sein Fokus mit den Ausbrüchen von exzessiver Gewalt auf der späten Republik, wobei er die Bürgerkriegszeit mit ihren Eigendynamiken explizit ausklammert. Vor dem Hintergrund, dass Gewaltbereitschaft, um Veränderungen herbeizuführen oder zu forcieren, grundsätzlich mitgedacht und gleichzeitig auch wieder einhegbar war, geht der Beitrag der Frage nach, wie diese Gewaltausbrüche von den Zeitgenossen wahrgenommen wurden und wie sie solche Szenarien einordneten.

Simon Lentzsch fragt danach, wie römische Feldherren über den Zeitraum zwischen den römisch-karthagischen Kriegen bis in die Kaiserzeit ihre Rolle in Kriegssituationen ausgefüllten und welche Rahmenbedingungen zu veränderten Rollenerwartungen führten. Dabei folgt er der Beobachtung, dass sich zwei Prinzipien, diese Rolle auszufüllen, diametral gegenüberstanden – nämlich entweder, dem traditionellen Rollenverständnis entsprechend, aktiv und an vorderster Front am Kriegsgeschehen teilzunehmen oder beobachtend, um mit dem entsprechenden Überblick strategische Entscheidungen in den Vordergrund zu stellen. Ausgehend von der Beobachtung, dass mindestens seit der mittleren Republik beide Rollen in Rom dokumentiert sind und in den Quellen diskutiert werden, untersucht Lentzsch, wie diese sehr unterschiedlichen Rollenerwartungen zustande kamen und welche Handlungsnormen sich daraus ergaben.

Die beiden letzten Beiträge ergänzen den strukturellen Zugang durch die Analyse einzelner Situationen, in denen Normen als Sicherheit vermittelnde Bezugspunkte expliziert werden, indem ihr Bruch angekündigt wird bzw. absehbar ist. Jan Timmer (Die Ankündigung eines Normbruchs. Caesar und der Kriegsrat im Winterlager von Aduatuca, S. 209–225) untersucht dafür eine Szene, die Caesar in den commentarii de bello Gallico schildert. Die fiktive Debatte zweier Legaten über die Frage, ob man das Lager angesichts eines möglicherweise drohenden Aufstandes aller gallischen Stämme besser räumen sollte, lässt sich Timmer zufolge als Kommentar Caesars zu den spezifischen Problemen konsensualer senatorischer Entscheidungsfindung in der späten Republik verstehen und bietet damit eine Vorwegnahme von Seiten Caesars für sein späteres Verhalten im Bürgerkrieg. Julia Hoffmann-Salz (Der Selbstmord der Gesandten. Augustus, Herodes und die Gesandtschaft der Gadarener bei Josephus, S. 226–240) beschäftigt sich mit einer Gesandtschaft der Bewohner Gadaras, die bei Augustus vorstellig wird, um die Unabhängigkeit Gadaras von Herodes zu erwirken. Das Besondere an dieser Gesandtschaft war, dass sie, noch bevor Augustus über deren Anliegen überhaupt entschieden hatte, Selbstmord beging. Zu dieser Entscheidung bewogen habe, der Darstellung bei Josephus zufolge, die drohende Folter, die bei Gesandtschaften ebenso einen Normbruch darstellte, wie die Rückendeckung, die Herodes von Augustus anscheinend erhielt.

Die Untersuchungsgegenstände der verschiedenen Beiträge sind auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, weil sie unterschiedliche Fragen in den Mittelpunkt stellen: Wann und von wem eine Situation als so außergewöhnlich eingeordnet wird, dass sie als Norm- oder Regelbruch beobachtbar wird, kann durchaus variieren, zumal zwischen „zufälliger Devianz“ und „bewussten Verstößen“ (S. 14) unterschieden wird. Gleiches gilt für die Formen, die entsprechend zwischen Ignorieren, aktivem Infragestellen, Ausloten von Grenzen und tatsächlichem Überschreiten changieren können. Vielfältig sind auch die Möglichkeiten, mit solchen Regel- oder Normbrüchen umzugehen, was zeigt, wie strukturell offen solche Situationen sind – besonders viel Anschauungsmaterial bieten dafür die Beiträge zur römischen Republik. Entsprechend vielschichtig ist letztlich ist auch das Gesamtbild. Eine wichtige Unterscheidung, die sich für die Systematisierung nutzen ließe, sind die Fragen, ob es um Regelbrüche geht, die schon in den zeitgenössischen Selbstschreibungen als solche eingeordnet werden oder ob es um Regeln und Normen geht, auf die anhand potentieller Verstöße Bezug genommen wird – und die gerade in ihrer Potentialität eine interessante Abweichung darstellen. Es geht aber auch um Regeln und Normen, die nicht schon in den antiken Quellen als Brüche markiert werden, sondern sich erst aus historischer Perspektive heraus als solche beobachten lassen. Das gilt vor allem, wenn der Untersuchungsgegenstand einer Kontextualisierung bedarf, die ihn mit anderen Entwürfen kontrastiert, wie es beispielsweise die Beiträge von Gunnar Seelentag und Frank Daubner verfolgen.

Mit seinem Thema bietet der Sammelband damit insgesamt eine interessante Ausgangsbasis für eine weitere Systematisierung, indem er die methodischen Herausforderungen sichtbar macht. Aber auch unabhängig davon bietet er differenzierte und sehr lesenswerte Einzelstudien.

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