Am 13. November 1976 bebt die Kölner Sporthalle, als ein kleiner, mutiger Mann die Bühne betritt. „So oder so, die Erde wird rot“: Mit diesem Lied beginnt Wolf Biermann nach elf Jahren Auftrittsverbot in der DDR sein legendäres Konzert im Westen. Tausende von Menschen verfolgen vier Stunden lang gebannt den Auftritt des Sängers und Dichters – ein Konzert, das zum Ereignis wird, das in die deutsche Geschichte eingeht. Es wird live im Radio gesendet (WDR) und sechs Tage später auch im Fernsehen gezeigt (ARD). Biermanns rebellische Stimme, seine poetischen Texte und sein kritischer Blick auf die DDR-Wirklichkeit reißen die Zuhörerinnen und Zuhörer mit. Am Ende gibt es tosenden Applaus des begeisterten Publikums vor Ort. Die Ausbürgerung Biermanns aus der DDR, nur drei Tage nach dem Kölner Konzert, ist nicht nur ein tiefer Einschnitt in seiner Biografie, sondern auch ein Meilenstein in der Geschichte des geteilten, zerrissenen Landes.
Nun, fast fünf Jahrzehnte später, zeigt das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin eine umfassende Ausstellung über das Leben und Werk dieses faszinierenden und streitbaren Künstlers, der seit 2007 zu den Ehrenbürgern Berlins zählt. Es ist ein durchaus gewagtes Unterfangen, eine noch lebende Persönlichkeit in einem Geschichtsmuseum zu präsentieren. Wann hat es das schon einmal gegeben? Doch die Ausstellung beweist, dass diese Entscheidung richtig war, denn sie bietet nicht nur tiefe Einblicke in die Biografie Biermanns (geb. 1936), sondern auch in die Geschichte des geteilten und vereinten Deutschlands.
Abb. 1: Eingangsbereich der Ausstellung „Wolf Biermann. Ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland“ mit dem Harmonium, auf dem Biermann 1976 in Köln spielte
(Foto: © Deutsches Historisches Museum / Thomas Bruns)
Am Anfang steht das Harmonium des Kölner Konzerts.1 Darüber hängt ein Foto von Wolf Biermanns Vater Dagobert, der als Jude und Kommunist 1943 durch die Nationalsozialisten in Auschwitz ermordet wurde und am Tag des Konzerts von 1976 seinen 72. Geburtstag gefeiert hätte. Ergänzt durch ein berührendes Zitat des Sohnes: „Nur ich konnte ihn sehen.“ Das Arrangement gibt der Ausstellung gleich zu Beginn eine große emotionale Tiefe. Man betritt den Raum und fühlt sich zurückversetzt in die Zeit, als Biermann auf der Bühne stand und mit seiner Musik und seinen Worten die Herzen der Menschen in West und Ost erreichte. Das Kölner Konzert selbst ist dann im hinteren Teil nachzuerleben, illustriert unter anderem mit den berühmten Fotos von Barbara Klemm, die hier großformatig präsentiert werden. In einem separaten Raum kann man sich auch den kompletten Konzertmitschnitt anschauen. Die Energie und die Spannung dieses historischen Moments sind bis heute zu spüren und durchdringen die Ausstellung.
Nach dem gelungenen Einstieg bewegt man sich chronologisch durch Biermanns Leben: die Kindheit in Hamburg und seine Übersiedlung als 16-jähriger Schüler in die DDR (kurz vor dem 17. Juni 1953), die Zeit als Regieassistent am Berliner Ensemble, die Entwicklung vom gläubigen Apologeten des Sozialismus zum scharfzüngigen Kritiker des SED-Regimes, die erzwungene Ausbürgerung aus der DDR, Biermanns anschließende Entwicklung im Westen ab Mitte der 1970er-Jahre über die deutsche Vereinigung bis zu seinem Auftritt vor dem Deutschen Bundestag 2014. Hier liest er zum 25. Jahrestag des Mauerfalls vom November 1989 der Linkspartei in einer furiosen Ansprache die Leviten. Hier singt er auch die „Ermutigung“, sein wohl bekanntestes Lied. Ein Klassiker, eine Hymne aus dem Jahr 1966, die er einst dem von den SED-Oberen in Wilhelmshorst drangsalierten und isolierten Lyriker Peter Huchel widmete. Sogar in ein schwedisches Kirchengesangbuch hat es das Lied inzwischen geschafft – ein Exemplar von 2006 ist im DHM ausgestellt. Schließlich ist Biermann im Frühjahr 2014 auf dem Maidan in Kiew zu sehen, auch im Alter nicht müde, seine Stimme zu erheben. Viele seiner politischen Interventionen sind zu hören oder zu lesen, bis zur unmittelbaren Aktualität des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.
Die Ausstellung im ersten Obergeschoss des Pei-Baus präsentiert die Lebensgeschichte des heute 86-Jährigen auf 560 Quadratmetern mit rund 280 Objekten. Fotos, Plakate, Tagebücher, Musikinstrumente, historische Ton- und Filmaufnahmen sowie zahlreiche persönliche Gegenstände aus den Beständen der Berliner Staatsbibliothek (der Biermann 2021 seinen Vorlass vermachte), des DHM, verschiedener Archive und aus dem Privatbesitz Wolf und Pamela Biermanns dokumentieren sein politisches Leben und sein künstlerisches Schaffen.2 An den Außenwänden des Raums werden die biografischen Stationen gezeigt, vor einem Hintergrund, der die Mauer symbolisieren soll – was sich allerdings nicht ohne Weiteres erschließt. In der Mitte, sozusagen im Zentrum der Ausstellung, steht der Künstler Wolf Biermann mit seiner Musik und seiner Lyrik. Hier sind einige seiner Instrumente zu sehen, ist seine Musik zu hören. Während sich die Öffentlichkeit häufig auf die politischen Aspekte seines Schaffens konzentriert, rückt diese zentrale Medieninstallation seine Kunst in den Mittelpunkt. Die Besucherinnen und Besucher können nicht nur Biermanns Platten anhören und in sein Werk eintauchen (wofür man ausreichend Zeit einplanen sollte). Darüber hinaus wird gezeigt, wie die zeitgenössische Kritik seine Gedichte und Lieder bewertete. Zahlreiche Stimmen kommen zu Wort. Dies verleiht der Ausstellung eine ausgewogene Perspektive, wird dadurch doch deutlich, wie sehr Biermanns Werk im Laufe der Jahrzehnte nicht nur Jubel und Beifall, sondern auch Widerspruch und Ablehnung hervorgerufen hat. Dass die geschwungenen Wände dieses Bereichs von oben betrachtet den Korpus einer Gitarre nachbilden sollen (und nicht etwa die Furnierwände einer DDR-Schrankwand), ist dabei nicht direkt zu erkennen. Man benötigt schon den erklärenden Audioguide, um das etwas verkopfte Gestaltungsprinzip zu verstehen.
Abb. 2: Medienstation im Zentrum der Ausstellung, an der man Biermanns Lieder und deren Bewertungen durch die Kunstkritik seit den 1960er-Jahren anhören kann
(Foto: © Deutsches Historisches Museum / Thomas Bruns)
Die Ausstellung präsentiert eine beeindruckende Sammlung persönlicher Gegenstände und Dokumente aus Biermanns Leben. Viele dieser Exponate haben eine ganz besondere Qualität: Man kann den Aufnahmeantrag Biermanns in die SED von 1960 anschauen, den die Partei ablehnte. Ausgestellt ist das Plakat für einen Auftritt von 1963, der immer wieder verschoben und schließlich ganz abgesagt wurde – ein Symbol für das schwierige Verhältnis der Staatsmacht zu dem rebellischen Sänger. Wir lesen ein Schreiben von 1965, in dem sein Auftrittsverbot verkündet wird. Oder wir finden einen Essensbehälter aus Wehrmachtsbeständen, in dem der Schriftsteller Reimar Gilsenbach die Tagebücher seines Freundes Biermann vor dem Staatssicherheitsdienst versteckte.3 Auch ein großes Umlaufkarteigerät der Stasi ist ausgestellt. Es hat zwar keinen direkten Bezug zum Protagonisten, soll neben Abhörwanzen und Aktenauszügen aber wohl seine umfassende Überwachung dokumentieren. Schließlich sind da noch eine seiner berühmten Gitarren (eine Konzertgitarre von 2001), die aus dem Westen eingeschmuggelten Kassettenrecorder und Mikrofone, mit denen er während der erzwungenen Isolation in seiner Wohnung in der Ost-Berliner Chausseestraße neue Lieder aufnahm, oder seine Erika-Schreibmaschine. All diese Objekte verleihen der Ausstellung eine intime Note und ermöglichen dem Publikum eine Verbindung zu Biermann.
Die Ausbürgerung Biermanns aus der DDR nimmt zu Recht breiten Raum ein. Schließlich gilt sie als eine besondere Zäsur in der DDR-Geschichte. Denn die SED-Führung hatte sich mit ihrer Entscheidung verkalkuliert: Der Versuch, sich eines unbequemen Kritikers still und leise zu entledigen, schlug fehl. Der Ausbürgerung folgte ein Sturm der Entrüstung im In- und Ausland. 13 der wichtigsten Schriftsteller der DDR unterzeichneten eine Erklärung, in der sie die Herrschenden aufforderten, ihre Entscheidung „zu überdenken“. Unter ihnen waren Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Sarah Kirsch, Heiner Müller, Christa und Gerhard Wolf. Die von Hermlin entworfene Protestnote – auch sie ist in der Ausstellung zu sehen – wirkte wie eine Initialzündung. Mehr als 100 weitere Künstlerinnen und Künstler schlossen sich in den folgenden Tagen der Petition an. Die Staats- und Parteiführung war schockiert. Dieser Protest war ein für DDR-Verhältnisse ungeheuerlicher Vorgang; die SED verstand ihn als offene Herausforderung. Der Widerspruch reichte schließlich noch weit über die prominenten Künstlerinnen und Künstler hinaus. Eine regelrechte Protestwelle erfasste das ganze Land; es wurde die größte, die die DDR seit dem 17. Juni 1953 erlebt hatte. In Diskussionen und Veranstaltungen wurden Unverständnis und Unmut geäußert, die SED-Funktionäre sahen sich in den Betrieben mit kritischen Fragen konfrontiert, in kirchlichen Kreisen und privaten Runden wurden Mitschnitte des Kölner Biermann-Konzerts abgespielt, Protestbriefe und -anrufe gingen bei Zeitungen und Behörden ein, junge Menschen sammelten Unterschriften, Parolen prangten an Hauswänden, Flugblätter wurden verbreitet. Wer aufflog, hatte harte Konsequenzen zu tragen: Berufliche Diskriminierung, Untersuchungshaft, Gefängnis und Ausweisung waren oft die Folge. Von alldem findet sich in der Ausstellung allerdings nichts – ein bedauerliches Manko.
Dafür wirft die Ausstellung einen besonderen Blick auf die jüdische Familiengeschichte Biermanns – ein sehr bedeutsamer Aspekt seines Lebens, der oft übersehen wird.4 Einfühlsam legen die Kuratorinnen Monika Boll und Dorlis Blume die familiären Wurzeln Biermanns frei. Sie zeigen, wie das Erbe des ermordeten Vaters die Identität und das Schaffen des christlich getauften Sohnes prägte, bis hin zu seiner Übertragung von Jizchak Katzenelsons Poem „Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk“ aus dem Jiddischen ins Deutsche (1994 veröffentlicht). Am Ende gibt es noch einmal eine Fotoserie von Barbara Klemm aus dem Hamburger Wohnhaus von Pamela und Wolf Biermann zu sehen. Diese 2021 entstandenen Aufnahmen erlauben einen sensiblen Blick in das Privatleben und vervollständigen das facettenreiche Porträt des außergewöhnlichen Künstlers (die Fotos sind auch im Begleitband enthalten, S. 167–181).
Abb. 3: Ausstellungsansicht „Wolf Biermann. Ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland“, hier die abschließende Bilderserie von Barbara Klemm aus dem Hamburger Privathaus von Wolf und Pamela Biermann
(Foto: © Deutsches Historisches Museum / Thomas Bruns)
Das DHM will nicht nur diejenigen in seine Ausstellung locken, die persönliche Erinnerungen mit Biermann verbinden. Es bemüht sich auch um das junge Publikum, mit einem eigenen Museumsheft, das Kinder zu einzelnen Stationen führt und sie aktiv einbezieht („Warte nicht mit Deinem Mut!“). Auch wer sich ausführlicher informieren will, wird gut versorgt: mit einem exzellenten, reich bebilderten Buch aus dem Ch. Links Verlag, das viele lesenswerte Beiträge unter anderem von Gabriele Stötzer, Ilko-Sascha Kowalczuk und Roland Berbig enthält. Die Essays wechseln sich mit ausgewählten Liedtexten Biermanns ab. Außerdem gibt es ein umfangreiches Begleitprogramm mit Filmen und Podiumsgesprächen. Dort wird vertieft, was in der Ausstellung oft nur angerissen werden kann.
Abb. 4: Die Ausstellung richtet sich mit speziellen Angeboten auch an Kinder ab etwa 8 Jahren – hier die Führung „Warte nicht mit deinem Mut!“.
(Foto: © Deutsches Historisches Museum / Maria Altnau)
Anhand von Dokumenten und Objekten zeigt das Deutsche Historische Museum, wie sich Leben und Werk eines herausragenden Künstlers im nationalsozialistischen, geteilten und vereinten Deutschland entwickelt haben. So erinnert uns das DHM nicht nur an Biermanns individuelle und familiäre Geschichte, sondern damit verbunden auch an verschiedene Ereignisse und Persönlichkeiten, die die deutsche Geschichte in den letzten Jahrzehnten geprägt haben. Die Ausstellung hebt ihren Protagonisten dabei nicht unkritisch auf ein Podest, sie glorifiziert ihn nicht. Dennoch setzt sie dem Dichter, Liedermacher und Dissidenten ein multimediales Denkmal. Wolf Biermann hat die Geschichte Deutschlands auf seine eigene Weise mitgeschrieben – dies erzählt die Ausstellung nun ebenso fundiert wie unterhaltsam.
Anmerkungen:
1 Siehe auch Verena Günther / Sarah Sporys, Wozu das denn? Ein Harmonium für Wolf Biermann, https://www.dhm.de/blog/2023/10/12/wozu-das-denn-ein-harmonium-fuer-wolf-biermann/ (25.10.2023).
2 Der Begleitband enthält leider kein Exponatverzeichnis; dieses ist aber abrufbar unter https://t1p.de/DHM-Objektverzeichnis-Biermann (25.10.2023).
3 Siehe Dirk Schreiber, Wozu das denn? Wolf Biermanns Tagebücher im „Suppenkübel“, https://www.dhm.de/blog/2023/08/09/wozu-das-denn-wolf-biermanns-tagebuecher-im-suppenkuebel/ (25.10.2023). Seit 1954 hat Biermann kontinuierlich Tagebuch geführt; die rund 200 Bände befinden sich jetzt in der Berliner Staatsbibliothek. Einige dieser Notizbücher sind in der Ausstellung zu sehen.
4 Wer die deutsch-jüdischen Perspektiven vertiefen möchte, hat dazu im Jüdischen Museum Berlin Gelegenheit, das bis zum 14. Januar die Ausstellung „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR“ zeigt: https://www.jmberlin.de/ausstellung-ein-anderes-land (25.10.2023).