Zu Beginn dieser Ausstellungsbesprechung eine kleine Mitmach-Aufforderung: Schließen Sie bitte kurz die Augen und denken Sie an „Zeit“. Was sehen Sie? Welche assoziativen Bilder tauchen vor der geistigen Kinoleinwand auf? Ist es eine Linie, die sich durch einen undefinierbaren, Science-Fiction-artig illuminierten Raum bewegt? Ist es vielleicht das Titelblatt einer prominenten deutschsprachigen Wochenzeitung? Oder ist es doch, wie zu vermuten steht, eine Uhr?
Altmodisch anmutende Zifferblätter, ein schwingendes Pendel, tickende Zeiger, die in unbarmherzigem Rhythmus ein zeitliches Kontinuum in kleinste Abschnitte zerhäckseln – das ist wohl die häufigste Vorstellung von Zeit, die Menschen in den Sinn kommen mag, zumindest soweit sie in westlichen Kulturkreisen sozialisiert wurden. Dass meine empirisch nicht abgesicherte Mutmaßung über mentale Zeit-Bilder plausibel ist, lässt sich leicht anhand von Illustrationen belegen, die für Publikationen unterschiedlicher Art zu diesem Thema verwendet werden. Bücher, Zeitschriften, Filme, Internetseiten – die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr temporales Thema mit einer Uhr anpreisen, ist recht hoch. Das hängt nicht zuletzt mit der Schwierigkeit zusammen, etwas so Abstraktes, wenn nicht gar Beunruhigendes wie „Zeit“ sinnlich erfahrbar zu machen. Wir wissen zwar alle, dass Zeit da ist und ihre unübersehbaren Spuren hinterlässt. Aber wo oder was sie ist, vermag auch eineinhalb Jahrtausende nach Augustinus kaum jemand zu sagen. Die Ausstellung im Kunsthaus Zürich mit dem Titel „Zeit. Von Dürer bis Bonvicini“ macht da keine Ausnahme. Auch sie rückt zum Zweck der Themenillustration die Uhr in den Vordergrund, und das nicht nur auf dem Plakat zur Ausstellung.
Abb. 1: Das Plakat zur Zürcher Ausstellung, das weithin sichtbar am Kunsthaus prangt, legt mit seiner Datumsangabe den Verdacht nahe, dass selbst die „Zeit“ an ein Ende kommt.
(Foto: Achim Landwehr)
Die triadische Zusammenstellung von Zeit / Uhr / Schweiz könnte mit einem gewissen Augenrollen zur Kenntnis genommen werden: Ist das nicht ein bisschen viel der fremdauferlegten Klischee-Erfüllung? Bei einem ersten Gang durch die Ausstellung lässt sich feststellen, wie versucht wurde, nicht in diese Falle zu tappen, und das zunächst durchaus erfolgreich. In der sicheren, auch im Ausstellungskatalog immer wieder dokumentierten Gewissheit der Ungewissheit über dasjenige, was Zeit sein könnte, werden systematisch-thematische Schneisen durch das Dickicht möglicher Zeitverständnisse geschlagen.
Es sind sechs Themenblöcke, nach denen die Exponate gegliedert sind: extrem lange Zeiträume, die menschliche Lebensspannen sprengen und den Bereichen Geologie oder Astronomie zuzuordnen sind („Deep Time“); die Zeitdimensionen von Lebewesen („Biologische Perspektiven“); Zeit als Bewirtschaftungsgegenstand („Messbare, ökonomische Perspektive“); Zeit als Machtmittel („Politische Dimension“); Zeit unter den Bedingungen von Massenmedien („The Information Superhighway“); schließlich der Zusammenhang von Zeit und Lebensqualität („Eigenzeit / Own Time“). Gerade für ein geschichtswissenschaftliches Portal wie H-Soz-Kult ist der Hinweis angebracht, dass es sich – dem Museumsrahmen entsprechend – um eine Ausstellung mit Exponaten handelt, die nahezu ausschließlich künstlerischer Provenienz sind. Es finden sich Gemälde, Skulpturen, Videoinstallationen. Aber das ist explizit nicht einschränkend gemeint. Denn es ist fraglos nicht nur meine Erfahrung, dass gerade Ausstellungen künstlerischen Inhalts auch (geschichts-)wissenschaftlich erhellend und erkenntnisfördernd sein können.
Abb. 2: Der Raum zur Sektion „Deep Time“ mit der großformatigen Tuschezeichnung „future archaeologies 2“ von Monica Ursina Jäger
(Foto: Franca Candrian, Kunsthaus Zürich)
Die Exponate decken einen Zeitraum von mehr als fünf Jahrhunderten ab, von Albrecht Dürers Kupferstich „Melencolia I“ aus dem Jahr 1514 (mit einem Druck aus den Beständen des Kunsthauses Zürich) bis zu einer Videoinstallation der Schweizer Künstlerin Monica Ursina Jäger aus dem Jahr 2022, in der gleich zu Beginn der Ausstellung anthropogen verursachte Formen geologischer Erosionsprozesse eindrücklich thematisiert werden. Der größere Teil der Exponate entstammt jedoch der Zeit nach 1945. Bei der Auswahl der Stücke ließ sich die Kuratorin Cathérine Hug vor allem von der Sammlung des Kunsthauses Zürich selbst und dessen Datenbank leiten. Bei der Wahl bestimmter temporaler Schlagwörter sei sie dann, so schreibt sie in der Einleitung zum Katalog (S. 20), auch auf im Vorfeld unerwartete Exponate gestoßen. Aber es sind nicht nur inhäusig vorhandene, sondern ebenso auswärts geliehene Exponate, die der Ausstellung ihr Gepräge geben. Darunter findet sich durchaus Erwartbares, teils auch Berühmtes, wie einige von On Kawaras Datumsbildern, Jean Dubuffets Gemälde „Le train des pendules“ (1965), Weltraumfotos von Thomas Ruff oder die Angela-Merkel-Portraitreihe von Herlinde Koelbl.
Die räumliche Gestaltung auf einer Ebene mit hinreichend Platz zwischen den Exponaten macht den Besuch durchaus angenehm. Farblich dominiert ein einheitliches Tannengrün an den Wänden, durchbrochen von rosa Elementen, die das Innenleben der Räume organisieren und auflockern. Der keineswegs gedrängte Eindruck der Ausstellung lädt zu einem zweiten Rundgang ein, bei dem dann spätestens auffallen muss, welch wichtige Rolle der Uhr im Konzept zukommt. Sie ist nicht nur in unterschiedlichen Kunstwerken ein zentrales Sujet (in Katie Petersons Installation „Timepieces“ von 2014, in Pieter Claeszʼ „Stilleben mit großer Berkemeyer und goldener Taschenuhr“ von 1632 oder in Giorgio de Chiricos Gemälde „Gare Montparnasse“ von 1914, um nur einige wenige zu nennen). Sie kommt auch durch die enge Zusammenarbeit der Kuratorin mit dem Internationalen Uhrenmuseum in La Chaux-de-Fonds zum Tragen. Uhrenmodelle aus der Zeit vom 16. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart durchziehen sämtliche Ausstellungsräume als taktgebendes Rückgrat. Überwiegend in der Mitte der Räume aufgestellt, werden Meisterwerke der Schweizer Uhrmacherkunst von Breguet, Lecoultre, Patek, Piguet und anderen auf rosafarbenen Stelen und unter Sicherheitsglas präsentiert. Wären sie nicht mit einer Exponatbeschreibung, sondern mit einem Preisschild versehen, könnte man versucht sein, an einen exklusiven Showroom zu denken. Die dazu passende Kunst hinge bereits an den Wänden…
Abb. 3: Katie Petersons „Timepieces“ in Kombination mit Produkten Schweizer Uhrmacherkunst von Rolex, Omega oder Tissot
(Foto: Franca Candrian, Kunsthaus Zürich)
Mit welchem Zeitverständnis mag die Schulklasse, die gleichzeitig mit mir die Ausstellung besuchen durfte (oder musste), das Kunsthaus wieder verlassen haben? Was sehen die Schüler:innen vor ihrem geistigen Auge, wenn sie danach an das Thema „Zeit“ denken? Werden sie sich ein vielfältiges, buntes, gar verwirrendes und kaum auf einen eindeutigen Nenner zu bringendes Knäuel unterschiedlicher Verzeitungen vorstellen – oder doch zuerst eine Uhr? Ist es nicht in sich widersprüchlich, einerseits die Zeitvielfalt als ausstellungsleitende These hervorzuheben (und auch durchaus überzeugend an die Museumswände zu bringen), andererseits dann aber doch die Uhr als letztlich die Zeit repräsentierendes Symbol so ins Zentrum zu stellen?
Hätte die Ausstellung ihre eigenen Prämissen ein klein wenig ernster genommen, hätte es gar nicht so vieler Exponate, sicherlich aber weniger Uhren bedurft. Wenn Zeit etwas ist, das sich nicht auf einen eindeutigen definitorischen Kern kondensieren lässt, sondern sich aus der sozialen Praxis im Umgang mit anderen Menschen, Objekten oder Naturphänomenen ergibt (wie sich aus Teilen der Ausstellung lernen lässt), dann hätte anstelle der Uhren dieses Zwischen klarer hervorgehoben werden können.
Statt den Zeitbildern zu vertrauen, die vor dem inneren Auge auftauchen, ließe sich wachen Auges den Zeiten nachgehen, die offensichtlich und auch ganz oberflächlich zutage liegen. In einem Exponat wird dies auf besonders sinnfällige Weise deutlich: An einer Wand der Ausstellung hängt ein Eglomisé, das auf etwa 1670 datiert ist. Wer diese Glasradierung, die zu den Beständen des Schweizerischen Nationalmuseums gehört, hergestellt hat, ist nicht bekannt. Zu sehen ist ein Memento-mori-Totenkopf nebst erloschener Kerze und einer Rose. Wie sich Zeit als Zwischen ausgestaltet, wird deutlich, sobald man vor dem Eglomisé steht und das eigene Spiegelbild mit dem Totenkopf überblendet. Die Aussage eines Daseins zum Tode ist für diesen Bildtypus fraglos wenig überraschend. Ihre beständige Aktualisierungsmöglichkeit aufgrund der Reflexion konstituiert jedoch immer neue und andere Zeitlichkeiten, je nachdem, wer gerade in den Spiegel blickt.
Abb. 4: Ein Blick in das Eglomisé auf Glas „Memento Mori Memorare Novissima“, anonym, ca. 1670
(Foto: Achim Landwehr)
Um solche Zeitvielfalt zu erfahren, lohnen sich weitere Gänge durch das Kunsthaus Zürich. Mit der Durchquerung der unterirdischen Passage vom Altbau (dem Moser-Bau von 1910) zum Neubau (dem Chipperfield-Gebäude von 2021) werden nicht nur unterschiedliche Lagen der Architekturgeschichte erfahrbar. Auf diesem Weg gelangt man vor allem in die Sammlung des 1956 verstorbenen Schweizer Waffenhändlers Emil G. Bührle1: Skulpturen des Mittelalters, Porträts der Renaissance, Meisterwerke des Impressionismus, Waffen für die deutsche Wehrmacht, Antikommunismus, Kalter Krieg und nicht zuletzt ein Schweizer Kunstmuseum, das sich wortreich eine Zukunft zu basteln versucht (und zwar mitsamt der auf drei Milliarden Schweizer Franken taxierten Sammlung Bührle) – all diese Zeiten purzeln auf einmal wild durcheinander. Vielleicht hätte man die Neupräsentation der Sammlung Bührle zumindest phasenweise mit der Überschrift „Zeit“ (oder besser noch „Zeiten“) versehen und auf die Uhr als Symbol verzichten sollen.
Abb. 5: Informationstafel in der Ausstellung „Eine Zukunft für die Vergangenheit. Sammlung Bührle: Kunst, Kontext, Krieg und Konflikt“, die von November 2023 bis voraussichtlich Ende 2024 gezeigt wird
(Foto: Achim Landwehr)
Anmerkung:
1 Neben der aktuellen Tagespresse, in der die immer neuen Verwicklungen um diese Sammlung dokumentiert werden, lohnt sich ein Blick in: Matthieu Leimgruber (Hrsg.), Kriegsgeschäfte, Kapital und Kunsthaus. Die Entstehung der Sammlung Emil Bührle im historischen Kontext, Zürich 2020, https://www.stadt-zuerich.ch/kultur/de/index/kultur_stadt_zuerich/leitbild-publikationen/forschungsbericht_buehrle.html (03.01.2024). Zur aktuellen Präsentation der Sammlung und ihrer Geschichte im Kunsthaus Zürich sowie den weiteren geplanten Schritten siehe https://www.kunsthaus.ch/besuch-planen/ausstellungen/buehrle-neupraesentation/ (03.01.2024).