Titel der Ausgabe 
Nurinst 5 (2010)
Weiterer Titel 
Leben danach - Jüdischer Neubeginn im Land der Täter

Erschienen
Nürnberg 2010: Antogo Verlag
Erscheint 
zweijährlich
ISBN
978-3-938286-37-1
Anzahl Seiten
204 Seiten
Preis
12,80
ISSN

 

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Institution
Nurinst – Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts
Land
Deutschland
c/o
Nürnberger Institut Z. Hd. Jim Tobias Postfach 210312 90121 Nürnberg E-Mail: <jimtobias@nurinst.org>
Von
Tobias, Jim

nurinst 2010
Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte
Schwerpunktthema: Leben danach – Jüdischer Neubeginn im Land der Täter
Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts, Jim G. Tobias / Peter Zinke (Hg.)
204 Seiten, 18 Abb. schw.-w., 22 x 14 cm, ISBN 978-3-938286-37-1, 12,80 EUR [D]

Editorial

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus vor 65 Jahren lebten von über einer halben Million Juden im Reichsgebiet nur noch ein paar Tausend, die im Konzentrationslager, im Untergrund oder als Ehepartner von Nichtjuden überlebt hatten. Doch mehr als 200.000 Juden kamen aus Osteuropa nach Deutschland, vorwiegend in die amerikanische Besatzungszone. Ursache waren antisemitische Gewalttaten in diesen Ländern und der Wille der Überlebenden, vor allem in die USA und nach Erez Israel auszuwandern. Da die britische Mandatsmacht in Palästina jedoch keine jüdische Zuwanderung erlaubte und auch in den USA sehr restriktive Immigrationsgesetze galten, mussten die Überlebenden der Shoa jahrelang in den sogenannten Displaced Persons Camps ausharren. Von den deutschen Juden, die rechtzeitig vor den Nationalsozialisten hatten flüchten können, kehrten nur sehr wenige wieder in ihr ehemaliges Heimatland zurück; solche Ausnahmen waren etwa Anna Seghers oder Stefan Heym, Max Horkheimer oder Theodor Adorno.

Trotzdem keimten kurz nach der Befreiung rasch vielfältige soziale und kulturelle Aktivitäten jüdischer Überlebender auf – allerdings mit unterschiedlichen Perspektiven: Die überwältigende Mehrheit wollte Deutschland verlassen und bereitete sich – soweit dies psychisch und physisch ging – auf eine Emigration vor. Die Minderheit, vornehmlich deutsche Juden, versuchte, trotz großer Vorbehalte und restaurativer Tendenzen wieder in ihrer ehemals vertrauten Umgebung Fuß zu fassen. Dieses »Leben danach – Jüdischer Neubeginn im Land der Täter« ist der thematische Schwerpunkt unseres fünften Jahrbuchs zur deutschen und jüdischen Geschichte.

Fast alle Überlebenden der NS-Lager waren an Leib und Seele schwer verletzt. Dies galt insbesondere für von den Nazis verschleppte Kinder und Jugendliche. Deshalb richteten die Vereinten Nationen schon 1945 im bayerischen Kloster Indersdorf, unweit des befreiten KZ Dachau, ein internationales Kinderheim ein. Unter der Leitung von Greta Fischer, einer tschechischen Jüdin, erhielten die Jungen und Mädchen dort zunächst eine medizinische und psychologische Betreuung. Gleichzeitig wurde versucht Angehörige zu finden oder eine Adoption in der Emigration vorzubereiten. Anna Andlauer hat sich mit diesem Thema beschäftigt.

Nur ein Bruchteil der KZ-Überlebenden waren Kinder. Viele hatte die Shoa zu Waisen gemacht; etwa 6.000 elternlose Kinder irrten hilf- und orientierungslos umher. In eiligst aufgebauten Displaced Persons Children’s Centers und Kindergärten in Berlin, Köln und Frankfurt wurde versucht, mit den tief prägenden Verfolgungserfahrungen der Jungen und Mädchen umzugehen. Kristina Dietrich beschreibt die Auswirkungen der Shoa auf die überlebenden Kinder und die Versuche, diese Traumata zu lindern.

Das Judentum definiert sich wesentlich durch die Thora und die rabbinische Literatur, deshalb ist das »Volk des Buches« seinen Schriften und Bibliotheken bis auf den heutigen Tag eng verbunden. Sogar während der Shoa hatte das gedruckte Wort eine wichtige Funktion, wie die geheimen Bibliotheken in Ghettos und Konzentrationslagern bezeugen. Nach der Befreiung führten die Überlebenden diese Tradition fort: Die Menschen verlangten nicht nur nach »Brot und Kleidung, sondern auch nach Büchern«. Der Aufbau von Bibliotheken in den Displaced Persons Camps gehörte mit zu den vordringlichsten Zielen, wie Jim G. Tobias herausgefunden hat.

Baruch Graubard war einer der wenigen, der 1945 beschloss, einen Neuanfang jüdischen Lebens in Deutschland zu wagen. Er hatte das Ghetto wie das Zwangsarbeitslager in Kielce überlebt. Der aus der galizischen Stadt Skole stammende Literat und Hochschullehrer war gleichermaßen ostjüdischer Intellektueller und westlich orientierter Wissenschaftler. Er war im Kulturamt des Zentralkomitees der befreiten Juden tätig, initiierte das erste Hebräische Gymnasium in der Nachkriegszeit und stand als Vizepräsident der Israelitischen Kultusgemeinde München vor. Wie Jael Geis ausführt, prägte er so das jüdische Leben im Nachkriegsdeutschland entscheidend mit.

Der Namensvetter des Revolutionärs Karl Marx übernahm 1946 die erste jüdische Wochenzeitung im Nachkriegsdeutschland, und leitete das als Jüdische Allgemeine bekannt gewordene Blatt jahrelang als Chefredakteur. Obwohl Marx ursprünglich für eine Emigration der überlebenden Juden – vor allem nach Palästina – eintrat, ließ er sich von deutschen Nachkriegspolitikern wie Adenauer und Heuss überreden, doch einen Neuanfang in Deutschland zu unterstützen. Denn Deutschland brauchte schließlich Alibi-Juden. Wie dies gelang, das führt Andrea Sinn aus.

Die Adresse »Seegasse 9« hat eine herausragende Bedeutung für die jüdische Geschichte in Wien: Als traditionsreicher Ort des ältesten erhaltenen jüdischen Friedhofs der Stadt sowie eines von der jüdischen Gemeinde betriebenen Spitals und Altersheims, von dem aus während der NS-Zeit über 1.000 Menschen in Ghettos und Vernichtungszentren deportiert worden sind. Nach dem Krieg war im ehemaligen Altersheim, das zwischenzeitlich von der Waffen-SS als Standortkommandantur genutzt worden war, ein jüdisches DP-Lager eingerichtet. Mittlerweile befindet sich an der Stelle der Neubau eines Pensionistenwohnhauses der Stadt Wien. Elizabeth Anthony und Dirk Rupnow rekonstruieren die komplexe Geschichte dieses österreichisch-jüdischen Geschichtsortes, die weitgehend vergessen ist.

Durch die während des Zweiten Weltkriegs verübten Verbrechen gegen die Menschheit kamen nach dem Krieg die internationalen Menschenrechte auf die Tagesordnung der Staatengemeinschaft. Dennoch wurden jüdische Organisationen bei der Beratung und Verabschiedung dieser Menschenrechte kaum mit einbezogen. Trotzdem bemühten sich jüdische Gruppen und Einzelpersonen nach Kräften, hierbei mitzuwirken. Rainer Huhle untersucht, was Juden nach dem Zweiten Weltkrieg zur Formulierung und Implementierung der Menschenrechte beigetragen haben.

Um das Thema Menschenrechte – und zwar in Argentinien – geht es auch im Beitrag Esteban Cuyas. Und hierbei sind deutsche Einwanderer nicht ganz unbeteiligt, denn in den 1930er Jahren flohen viele deutsche Juden in den südamerikanischen Staat und nach Ende des Zweiten Weltkriegs zog das peronistische Land viele Nazi-Kriegsverbrecher an. Cuya zeigt auf, welche Rolle Deutsche beim argentinischen Militärputsch 1976 spielten: als Opfer und als Täter.

Als Theodor Herzl 1897 in Basel den ersten zionistischen Weltkongress einberief und von einem jüdischen Staat sprach, galt er den meisten als hoffnungsloser Utopist. Die Realisierung seines Traums ein halbes Jahrhundert später erlebte er leider nicht mehr. Andrea Livnat untersucht, welche Rolle das Gedenken an den ideologischen Staatsgründer in Israel spielt und zeigt, dass Herzl in den ersten Jahren des Staates intensiv zur Identitätsstiftung genutzt wurde.

Der österreichische Fußball hat die Teilnahme am FIFA-Worldcup 2010 in Südafrika verpasst. Lange ist er her, dass Österreich eine Weltklasse-Elf auf den grünen Rasen schicken konnte. In den 1920er Jahren war das Team des jüdischen Sportvereins Hakoah Wien eine solche Spitzenmannschaft. Nach Gastspielen in vielen europäischen Ländern folgte 1926 eine Einladung in die USA. In New York strömten 46.000 Zuschauer ins Stadion Polo Ground, eine Zahl, die zuvor noch nie in der Geschichte des US-Fußballs erreicht wurde. Auch in anderen Städten sahen Tausende die Hakoah und verfolgten begeistert die Spiele. Warum dies so war, zeichnet Jim G. Tobias nach.

Zwei Jahre später war es umgekehrt, eine legendäre US-Bürgerin besuchte die Donau-Metropole. Josephine Baker gab sich die Ehre und versetzte fast ganz Wien in helle Aufregung: schwarz, nackt und irgendwie auch jüdisch. Von den Christen bis hin zu den Nationalsozialisten gingen alle auf die Barrikaden gegen dieses Sodom und Gomorrha; die Kirchenglocken läuteten Sturm. Peter Zinke hat die Fakten zusammengetragen.

Schließlich stellen wir wie immer abschließend eine wissenschaftliche Einrichtung vor. Diesmal ist es das Fritz Bauer Institut, das als Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust seit 15 Jahren in Frankfurt a. M. besteht. Katharina Rauschenberger berichtet.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Greta Fischer und die Arbeit mit jungen Holocaust-Überlebenden im „International D.P. Children’s Center Kloster Indersdorf“ 1945–46
Von Anna Andlauer

„… ich wundere mich, dass ich überlebt habe“
Pädagogik in den DP Children’s Centers und Kindergärten der jüdischen Nachkriegsgemeinden 1945–1948
Von Kristina Dietrich

„Wir brauchen dringend Bücher aller Art“
Bibliotheken in den jüdischen Displaced Persons Camps
Von Jim G. Tobias

Baruch Graubard – „Ein für das Gemeinwohl tätiger Mensch, Erzieher, Schriftsteller, dem Massaker Entkommener, Erneuerer der Kultur“
Eine biografische Skizze
Von Jael Geis

„Aber ich blieb trotzdem hier“
Karl Marx und die Anfänge jüdischen Lebens im Nachkriegsdeutschland
Von Andrea Sinn

Wien IX, Seegasse 9: Ein österreichisch-jüdischer Geschichtsort
Von Elizabeth Anthony/Dirk Rupnow

„Die Rechte der Juden sind Menschenrechte“
Jüdische Beiträge und Kontroversen zur internationalen Verankerung der Menschenrechte nach 1945
Von Rainer Huhle

„Macht Platz für die Parade«“
Das Gedenken an Theodor Herzl im jungen Staat Israel
Von Andrea Livnat

Deutsche Emigration nach Argentinien und die Militärdiktatur 1976–1983
Von Esteban Cuya

Die US-Tournee der Fußballmannschaft von Hakoah Wien 1926
Als der Flügelstürmer Alex Neufeld aus Österreich so berühmt war wie der amerikanische Baseballspieler Babe Ruth
Von Jim G. Tobias

Josephine Baker und ihr Auftritt in Wien 1928
Von Peter Zinke

Das Fritz Bauer Institut in Frankfurt a. M.
15 Jahre Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
Von Katharina Rauschenberger

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