Titel der Ausgabe 
nurinst 7 (2014)
Weiterer Titel 
Schwerpunktthema: Davidstern und Eisernes Kreuz – Juden im Ersten Weltkrieg

Erschienen
Nürnberg 2014: Antogo Verlag
Erscheint 
zweijährlich
ISBN
978-3-938286-46-3
Anzahl Seiten
181 S.
Preis
€ 14,00
ISSN

 

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Institution
Nurinst – Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts
Land
Deutschland
c/o
Nürnberger Institut Z. Hd. Jim Tobias Postfach 210312 90121 Nürnberg E-Mail: <jimtobias@nurinst.org>
Von
Tobias, Jim

Editorial

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde eine Maschinerie in Gang gesetzt, die fundamentale soziale, kulturelle und politische Veränderungen mit sich brachte. Damit einher gingen Tod und Zerstörung von bis dahin unvorstellbarem Ausmaß und erschütterten den Kontinent, bis das alte Europa zusammenbrach. Der Ruf zu den Waffen versetzte die deutsche Bevölkerung gleichwohl anfänglich in einen heute unbegreiflichen nationalistischen Rausch, der alle sozialen Schichten und Konfessionen erfasste. Auch die deutschen Juden – gleich welcher politischen Couleur, vom glühenden Zionisten über die Liberalen bis hin zum deutschnationalen Bürger – beteiligten sich an dem irrationalen Siegestaumel. Nahezu alle jüdischen Organisationen forderten ihre männlichen Mitglieder auf, sich freiwillig für den Dienst am Vaterland zu melden, da Deutschland – ihrer Ansicht nach – die Rolle des Opfers innehatte: „Wie England der politische Urheber dieses Krieges ist, so steht es auch geistig an der Spitze des Vernichtungskampfes gegen den deutschen Geist“ , schrieb etwa Nachum Goldmann in einem prodeutschen Pamphlet, für das er eine Anstellung in der Propagandaabteilung des Auswärtigen Amtes erhielt. Viele Juden sahen im Kriegsdienst aber auch eine Chance, sich offensiv zur deutschen Nation zu bekennen und sich somit als Teil der Mehrheitsgesellschaft, als assimilierte und integrierte Bevölkerungsgruppe, zu beweisen. „Sehen Sie, nun ist der Makel Ihrer Herkunft wettgemacht“, wurde etwa dem verwundeten deutsch-jüdischen Literaten Ernst Toller bei der Übergabe des Eisernen Kreuzes wohlwollend mit auf den Weg gegeben.

Zu Kriegsbeginn waren rund 50.000 gediente jüdische Soldaten militärpflichtig, im Verlauf der Kampfhandlungen kamen nochmals 50.000 dazu, teilweise einberufen, teilweise meldeten sie sich freiwillig, sodass insgesamt etwas mehr als 100.000 jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg dienten. 12.000 Gefallene waren nach Kriegsende zu beklagen. Jeder sechste deutsche Jude hatte seine Wehrpflicht erfüllt. Im Verhältnis zur nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung hatten die Juden ebenso viele Kriegsteilnehmer gestellt. Das Gleiche trifft hinsichtlich der Zahl der Freiwilligen, Gefallenen und Ausgezeichneten zu.

Zum 100. Jahrestag des Ausbruchs der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ möchten wir einige Aspekte aus der Sicht jüdischer Organisationen und Publikationen näher beleuchten sowie persönliche Erfahrungen und Aktivitäten von Juden in diesem ersten industriell geführten Massenkrieg dokumentieren.

Über eine wenig bekannte und ungewöhnliche Aktion aus der fränkischen Provinz, Geld in die Kriegskasse des Deutschen Reiches zu spülen, berichtet Timo Saalmann. Ende Oktober 1915 wurde in Bamberg eine überlebensgroße Holzskulptur des Ritters aufgestellt, der das Stadtwappen ziert. Durch Einschlagen von Nägeln gegen Spenden konnte die Bevölkerung zur „Wehrhaftmachung“ der Figur beitragen und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt der „Heimatfront“ demonstrieren. Die Idee zu solchen Kriegsnagelungen kam 1914 in Wien auf und verbreitete sich auch im Deutschen Reich. Einzigartig ist aber wohl, dass das Bamberger Wehrzeichen von einem jüdischen Kaufmann angeregt und von einem jüdischen Bankiersehepaar gestiftet wurde. Die Geschichte des „Stadtritters in Eisen“ lässt patriotische Einstellungen deutscher Juden erkennbar werden.

In ihrem Text „… nichts als hingebungsvolle Liebe zum schwerbedrohten Deutschtume“ beleuchten die Herausgeber Jim G. Tobias und Nicola Schlichting die überschäumende Begeisterung der deutschen Juden bei Kriegsausbruch, ihren schrankenlosen Opfersinn und die damit verbundene Hoffnung, den tief verwurzelten Antisemitismus in der Gesellschaft zu überwinden. Dazu werteten sie insbesondere die beiden jüdischen Zeitungen Im deutschen Reich und Jüdische Rundschau im ersten Kriegsjahr aus.

Andrea und Aviv Livnat beschreiben die Erfahrungen und Reaktionen jiddischer Schriftsteller im bzw. auf den Ersten Weltkrieg: Als etwa Salomon An-Ski vom Leiden der jüdischen Zivilbevölkerung erfuhr, brach er sofort zu einer Hilfsmission auf und dokumentierte die Reise in seinem Tagebuch. Die Vertreter der jüngeren Generation, wie Uri Zvi Grinberg und Peretz Markish, hatten gerade erst zu schreiben angefangen, als sie zur österreichischen bzw. russischen Armee eingezogen wurden. Ihre traumatischen Erlebnisse an der Front und die teilweise hautnah erfahrenen Nachkriegspogrome in Osteuropa spiegeln sich in ihrer Prosa und Lyrik wider.

Martina Steer beleuchtet die patriotischen Aktivitäten des Jüdischen Frauenbundes. Als Ausgangsmoment für politische, soziale und kulturelle Strömungen der Weimarer Republik wie z.B. die sogenannte Jüdische Renaissance sieht sie den Ersten Weltkrieg als eines der Schlüsselereignisse der modernen deutsch-jüdischen Geschichte. Ihr Artikel analysiert die bisher von der Forschung vernachlässigten Kriegserfahrungen der deutschen Jüdinnen als zentralen Aspekt für das Verständnis der deutsch-jüdischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zeigt das dreifache Dilemma auf, mit dem sich jüdische Frauen konfrontiert sahen: Vaterlandstreue, Frauensolidarität und jüdische Identität.

Auch Juden aus dem ländlich geprägten Bayerisch-Schwaben eilten zu den Waffen, wie Alois Epple in seinem Beitrag „Unsere jüdischen Herzen jauchzten ob der deutschen Siege“ ausführt. Jüdische Organisationen unterstützten die Soldaten mit „Liebesgaben“ und spendeten für das Rote Kreuz. Trotz alledem wurde die Minderheit verdächtigt, den Krieg zu sabotieren und für Mängel bei der Rohstoff- und Lebensmittelversorgung verantwortlich zu sein. Nach dem Krieg legten Juden großen Wert darauf, dass ihrer Gefallenen würdig gedacht wurde. Sie ließen Gedenkblätter herausbringen und Denkmale errichten, wie Alois Epple bei Recherchen in zahlreichen örtlichen Gemeindearchiven herausgefunden hat.

Einem oft vernachlässigten Kapitel der Kriegsgeschichte widmet sich Birgit Seemann: der jüdischen Krankenpflege an der Heimatfront und in der Etappe. Hier steht die Forschung noch am Anfang. Im wilhelminischen Kaiserreich kam Frankfurt a.M. als bedeutendem jüdischen Pflegeort eine tragende Rolle zu: Im Frankfurter jüdischen Krankenhaus, Schwesternhaus und Gumpertz’schen Siechenhaus entstanden Lazarette für Verwundete aller Konfessionen; die Frankfurter jüdische Gemeinde stiftete einen eigenen Lazarettzug. Motivation waren nicht nur Patriotismus, sondern ebenso Selbstbehauptung gegen Antisemitismus und der Kampf um die Zugehörigkeit zur deutschen Nation. Im Zentrum des historischen Überblicks stehen Frankfurter jüdische Pflegende wie Oberin Julie Glaser (Festungslazarett in Straßburg), deren Engagement nicht nur durch die NS-Zeit und die Shoa in „Vergessenheit“ geriet.

Anhand der persönlichen Aufzeichnungen eines Berliner HNO-Arztes untersucht die Psychiaterin Ruth Jacob, wie durch den Kriegseinsatz die verschiedenen Ebenen individueller Identität in Konflikt geraten. In seinem 1916 an der Westfront verfassten Kriegstagebuch schildert der „Civilarzt“ Joseph Lachmann Alltagsszenen, die beispielhaft die Parallelität von unverbrüchlichem Zionismus und patriotischem Stolz sowie die herzliche Kameradschaft, aber auch die kränkende Zurücksetzung in der Truppe dokumentiert. Jacob postuliert, dass in diesem steten Identitätskonflikt nur eine geistige „doppelte Buchführung“ die psychische Integrität der jüdischen Kriegsteilnehmer zu schützen vermochte. Wie diese Anpassungsstrategie nach 1933 zwangsläufig zusammenbricht und in Kränkung über den ungelohnten Dienst am Vaterland mündet, zeichnet dieser biografische Text anschaulich nach.

Die als Balfour-Deklaration bezeichnete Sympathieerklärung der britischen Regierung aus dem Jahre 1917 für die Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina fand ungeheuren Widerhall sowohl in der jüdischen als auch in der nichtjüdischen Welt. So zog die Erklärung eine breite und lang andauernde publizistische innerjüdische Debatte nach sich. Monika Brockhaus untersucht diese Diskussion anhand der Berichterstattung zweier deutsch-jüdischer Zeitungen – der Jüdischen Rundschau und der Allgemeinen Zeitung des Judentums und zeichnet die innerjüdische Konfliktlinie um den Zionismus nach. Schwerpunkt ihres Textes bildet der Zeitraum von November 1917 bis Januar 1918.

Neben unserem Schwerpunktthema „Davidstern und Eisernes Kreuz – Juden im Ersten Weltkrieg“ enthält der Band weitere Texte, die sich mit der deutsch-jüdischen Geschichte beschäftigen.

Johannes Lang thematisiert den „Bäderantisemitismus“ im oberbayerischen Kurort Bad Reichenhall. Während die jüdischen Kurgäste anfänglich noch regelrecht hofiert wurden, diffamierte insbesondere die Konkurrenz ab dem 20. Jahrhundert den Ort als „Judenbad“. Dennoch waren in Friedenszeiten vor allem die betuchten jüdischen Kurgäste uneingeschränkt willkommen und einige Reichenhaller Juden als Wohltäter gesellschaftlich anerkannt. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurden klare antisemitische Töne angeschlagen. Dies ging einher mit dem politischen Auftreten nationalistischer und nationalsozialistischer Kreise in den Jahren von 1920 bis 1923. Gleichwohl war Bad Reichenhall – auch nach der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten – bis 1939 eine der wenigen bayerischen Urlaubsorte, in denen sich Juden weitgehend unbehelligt aufhalten konnten.

Roland Kaufhold stellt das Leben und Wirken des sozialistisch-zionistischen Pädagogen und Theoretikers Siegfried Bernfeld vor. Er gehörte dem engen Kreis um Sigmund Freud an und verknüpfte die Psychoanalyse mit den Bereichen Pädagogik und Gesellschaftskritik. Bernfeld, der 1920 kurzzeitig als Sekretär Martin Bubers wirkte, publizierte mehrere Bücher über jüdische Erziehungsfragen. Viele seiner in Wien und Berlin aufgewachsenen, von Freuds Werk inspirierten Schüler gingen später nach Palästina und waren maßgeblich am Aufbau der Psychoanalyse, des Erziehungssystems und der sozialistischen Kibbuzbewegung in Erez Israel beteiligt. Bernfelds 1919 in Wien eröffnetes „Kinderheim Baumgarten“ war ein kurzlebiges Modellprojekt, ein Zufluchtsort für knapp 300 jüdisch-galizische Kriegsflüchtlinge und Waisen. Es gilt bis heute als ein psychoanalytisch-pädagogisches Experiment, an welches der Beitrag auch erinnern will.

Zum Abschluss präsentieren wir auch in diesem Jahrbuch wieder eine wissenschaftliche Forschungseinrichtung: das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln. Die Mitarbeiter Werner Jung und Barbara Becker-Jákli stellen mit dem EL-DE-Haus eine wichtige lokale Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus vor. Das Profil der Einrichtung ist dadurch geprägt, dass es sich in gleichen Teilen dem Gedenken an die Opfer des NS-Regimes sowie dem Erforschen und Vermitteln der Geschichte Kölns im Nationalsozialismus widmet. Es versteht sich mithin als Gedenkort, Lernort und Forschungsort in einem.

Das nächste Jahrbuch erscheint im Jahr 2016 und wird sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Kinder beschäftigen.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Der Bamberger eiserne Ritter
Wie fränkische Juden die Kriegskasse füllten
Von Timo Saalmann

„… nichts als hingebungsvolle Liebe zum so schwerbedrohten Deutschtume“
Das erste Kriegsjahr im Spiegel jüdischer Zeitungen
Von Jim G. Tobias/Nicola Schlichting

„Mit farisene Kep un mit durchgeschosene Majler – wi lejmene Golems“
Erfahrungen Jiddischer Schriftsteller im Ersten Weltkrieg
Von Andrea und Aviv Livnat

Patriotismus, Frauensolidarität und jüdische Identität
Der Jüdische Frauenbund im Ersten Weltkrieg
Von Martina Steer

„Unsere jüdischen Herzen jauchzten ob der deutschen Siege“
Die Landjuden in Bayerisch Schwaben und der Erste Weltkrieg
Von Alois Epple

„Wir wollen sein ein einig Volk von Schwestern“
Jüdische Krankenpflege und der Erste Weltkrieg
Von Birgit Seemann

Westfront 1916: Aus dem Tagebuch des jüdischen Bataillonsarztes Joseph Lachmann (1882–1961)
Von Ruth Jacob

„… da es sich bei der Erklärung um einen antideutschen Versuch handelt …“
Die Balfour-Deklaration im Spiegel der Jüdischen Rundschau und der Allgemeinen Zeitung des Judentums 
Von Monika Brockhaus

Vom „Judenbad“ zum „judenfreien“ Staatsbad
Jüdische Kurtradition und Bäderantisemitismus in Bad Reichenhall
Von Johannes Lang

„Das Schulwesen und die Erziehungseinrichtungen sind veraltet“
Siegfried Bernfeld: Zionist und psychoanalytischer Pädagoge
Von Roland Kaufhold

Das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Von Barbara Becker-Jákli/Werner Jung

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