Cover
Titel
Wie Geschichtsschulbücher erzählen. Narratologische, transtextuelle und didaktische Perspektiven


Autor(en)
Jansen, Johannes
Erschienen
Köln 2022: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michele Barricelli, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Schulbuchforschung gehört zum Kerngeschäft der Geschichtsdidaktik. Das ist so, weil nach wie vor im Geschichtsunterricht das ethnokulturelle Selbstverständnis von Staaten und Nationen verhandelt, nicht selten gelehrt wird. Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung ist daher oft auch ein Ansatz zur Optimierung von Praxis (die 1951 von Georg Eckert als One-Man-Show in Braunschweig gegründete Einrichtung hieß nicht umsonst „Institut zur Schulbuchverbesserung“ – es ist heute ein international vernetztes, transkulturell arbeitendes Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft). In diesen gut vorbereiteten, bereits differenziert ausgebauten Forschungskontext fügt sich die Dissertationsschrift von Johannes Jansen (Universität zu Köln) ein, was ohne Umschweife am überaus reichen Verzeichnis der genutzten Literatur zu erkennen ist. Gerade in Anbetracht des überbordenden Schrifttums scheint es schwierig, einen eigenen Zugang zur Materie zu gewinnen, und so ist es Jansen anzurechnen, dass er nicht auf die leichte Lösung verfällt, den vielen substantiell-gegenstandsgebundenen Analysen (in den letzten Jahren sowohl zu den ganz großen Themen wie Nationalsozialismus, DDR oder Kalter Krieg als auch zu kleineren Einheiten wie den Kreuzzügen oder Karl Martell) eine weitere hinzuzufügen. Er reklamiert für sich stattdessen einen innovativen Zugang, will „die formative Eigenständigkeit des Geschichtsschulbuches“ in seiner „Eigenlogik“ begreifen (S. 11), indem er nicht studiert, „was“, sondern „wie“ etwas dargestellt wird. Das mag etwas hochgestochen wirken, denn den behaupteten Unterschied kann es insofern gar nicht geben, als sich in historicis vermeintliche Gegenstände immer erst in der Art ihrer narrativen Konstruktion konstituieren. Geliefert wird also im Kern etwas Erprobtes, nämlich eine materielle Produktanalyse. Doch ist anzuerkennen, dass das Vorhaben, ein Schulbuch vor allem als Konglomerat von Texten sehr unterschiedlicher Provenienz mit einer genretypischen Verweisstruktur zu begreifen, konsequent verfolgt wird. Die „narratologische Analyse“ wird dementsprechend als medienspezifische Perspektive gewinnbringend eingesetzt. Den inhaltlichen Rahmen bildet die Darstellung des Ersten Weltkriegs – ein in Deutschland mittlerweile vollständig historisiertes, schulisch eher unbedeutendes Thema (in Frankreich oder Großbritannien mit dem noch lebendigen Weltkriegsgedenken hätte eine ähnliche Fragestellung gänzlich andere Voraussetzungen gehabt). Mithilfe einer solchen diachron-vergleichenden Untersuchung des Erzählens über einen Zeitraum von annähernd einhundert Jahren (Übersicht S. 174: 42 Werke von 1921 bis 2017) möchte Jansen demnach zu einer Aussage gelangen, wie „das gesamte Geschichtsschulbuch als Geflecht geforderter und geleisteter, offener und verdeckter, narrativer und anderer Bezugnahmen auf Vergangenheit und Geschichte zugänglich“ (S. 17) gemacht werden kann.

Nun stehen Erzählen und, fachdidaktisch abgeleitet, narrative Kompetenz seit einigen Jahren im Zentrum der Debatte um die Eigenheit, die Relevanz und das Innovationspotenzial von Geschichtsunterricht; sämtliche der großen Themen oder Umwälzungen, welche die Schule bzw. das Fach heute betreffen, beispielsweise Digitalität (der Lebenswelt, der Medien) oder Diversität (der Lernenden, der Hinsichten auf Vergangenheit), werden jetzt bevorzugt danach befragt, wie sie das Erzählen im Zuge historischen Lernens betreffen. Jansens Ansatz ist jedoch, wie er betont, weniger formalanalytisch als funktional-linguistisch, wofür es durchaus Vorbilder gibt (vgl. etwa Schrader 2013 1, welches Werk von ihm selbstverständlich herangezogen wird). So ergibt sich ein im Ganzen ansehnliches Programm, das mit einigem Eifer und zäher Mühe eingelöst wird.

Jansen geht bei seiner Studie nicht, wie womöglich zu erwarten gewesen wäre, von Geschichtsunterricht als Theorie, Konzept oder Praxis aus, sondern er betrachtet das Geschichtsschulbuch zuvorderst als etwas Genuines, nämlich „multimodales, transtextuelles Erzählwerk“ (S. 43), das folglich auch außerhalb des Unterrichts existiert, und zwar innerhalb einer (historisch) disziplinären wie fachübergreifenden Erzähltheorie („Querschnittsdisziplin“ [S. 21]), die zu Beginn auf langen Seiten in ihren bekannten strukturalistischen Bezügen abgehandelt wird. Selbstverständlich fehlt nicht der Hinweis, dass Geschichtsschulbücher „komplexe Erzähltexte“ seien, wobei man durchaus gern erfahren hätte, welchen anderen Erzähltexten das bedeutungssteigernde, heute inflationäre Rubrum der Komplexität nicht zukommt. Die mit Bezug auf „Kategorien narratologischer Schulbuchanalyse“ (S. 49ff.) folgenden Überlegungen zum Charakter des Schulbuchs als Verbindung von Text und Paratext („transtextuelles Gefüge“ [S. 125]), sodann die Auswertung der einigermaßen geläufigen Diskurse um die Gegenüberstellung von Geschichte und Geschehen, Erklären und Verstehen, Person und Figur, erlebter und erzählter Welt enthalten wenig Neues, festigen aber das Erkenntnisinteresse. Spätestens mit der begrifflichen Betonung von Sprecherpositionen, Erzählstimme, Fokalisierung, vor allem mit der Herausarbeitung des „heterodiegetischen“ und „homodiegetischen Erzählers“ (S. 111; den Rezensenten überzeugt die in Fußnote 1, S. 17, wie so oft eher läppisch begründete Entscheidung für das „generische Maskulinum“ nicht) wird noch einmal der linguistische oder literaturwissenschaftliche Bias deutlich. Doch es gelingt, insbesondere durch Bezugnahme auf Hans-Jürgen Pandels Schriften über die narrative Grundlage historischen Lernens, immer wieder der Schulterschluss mit der Geschichtsdidaktik.

Die Darlegung der eigenen Empirie beginnt (erst) im zweiten Drittel der Arbeit. Interessant ist hierbei vor allem die Vorannahme, dass ein über hundert Jahre gespannter Längsschnitt einerseits die „Spezifik“ und „Kontinuität“ des „konzeptionellen Wandels des Geschichtsschulbuches“ einfängt, andererseits genauso „mit den 1970er-Jahren eine Zeit wegweisender Entwicklungen“ (S. 165) zu profilieren vermöchte. Die Stichprobe richtet sich an Reichweite und Vergleichbarkeit der untersuchten Lehrmittel aus, bleibt aber, was eingeräumt wird, mit der Bevorzugung gymnasialer Werke ein theoretical sample – denn noch 1950 betrug die Abiturientenquote lediglich 3%, so dass entsprechende Schulbücher, während ihnen in der Forschung besondere Relevanz zukommt, zu den Orchideen zählen müssen.

Die Befunde sind wie eigentlich immer vielfältig, zugleich in ihrer Bedeutung schwer abzuschätzen und können hier nur angedeutet werden. Das historische Präsens („Hindenburg vernichtet durch zangenförmige Umfassung eine der russischen Armeen“ [S. 177]) erlebt seinen absoluten Höhepunkt im Zeitraum 1940-1949 (welch merkwürdige Zeiteinteilung) und verschwindet danach quasi spurlos – ob das vielleicht etwas mit den politischen Umständen zu tun haben könnte, wird nicht gefragt. Die Teilnahme „des“ Erzählers am Erzählten („Im Jahre 1917 versuchte der Feind, uns in mehreren Flandernschlachten die U-Boot-Stützpunkte zu entreißen“ [S. 182]) nimmt seit den 1950er-Jahren ab – zur Erklärung wird immerhin eine Reflexion auf die Definition von Zeitgeschichte als „Epoche der Mitlebenden“ unternommen. Die Kriegs- als Pathos-Erzählung („Eine ungeheure Welle der Kriegsbereitschaft überflute die Völker Europas“ [S. 200], immerhin noch 1964) verflüchtigt sich. Generell ist im Laufe der Jahre ein „Gewinn an Objektivität“ zu erkennen, indem sich zunehmend „der Text als historischer Diskurs präsentiert“ (S. 191); Verfassertexte bleiben aber bis heute weitgehend positivistisch und ebenso „sakronsankt“ (S. 379). Werturteile sind in der ersten Hälfte des Jahrhunderts offen tendenziös, lange parteilich, erst spät wenigstens ansatzweise multiperspektivisch. In den 1970er-Jahren wird dann alles anders – Schulbücher mit noch heute in den Ohren von Geschichtsdidaktiker:innen hell klingenden Namen wie „Geschichtliche Weltkunde“ (zuerst 1976) oder „Fragen an die Geschichte“ (1977) stellen sich endlich als Verstehensangebote, nicht barsche Instruktion, als Kommunikationsmittel, nicht pure Belehrung dar. „Der“ Erzähler verblasst, verschwindet manchmal sogar, zugunsten der Aufforderung für eine eigenständige Urteilsbildung. Zur eigentlichen „Stimme des Geschichtsschulbuches“ (S. 276) wird nun – und, so ist zu ergänzen, mit der Kompetenzorientierung seit den 2000er-Jahren vollends – „der“ Aufgabensteller. Leider gelingt in den zugehörigen Abschnitten nicht ganz die Tiefe der Analyse und Höhe der Argumentation, wie sie zuweilen in den vorangegangenen Kapiteln erreicht wird – Gleiches und kategorial Zielführendes hat man z.B. bereits bei Holger Thünemann, Manuel Köster oder Birgit Wenzel 2 gelesen. Dass Schule sich genau durch die Existenz der Aufgaben von außerschulischen Erinnerungsorten wie Museum, Gedenkstätte, historischem Spielfilm oder PC-Spiel abhebt und wie genau sie sich damit als Lernort sui generis konstituiert, hätte stärkerer Reflexion bedurft. Denn erst so wird auch das Proprium des Geschichtsschulbuchs sichtbar, das Handeln im Klassenraum eben durch Erzählung vorstrukturiert, um historisches Lernen berechenbar und beobachtungsfähig zu machen.

Methodisch ist dem Werk einige Güte zu bescheinigen – und zwar obwohl keines der auf dem Feld zuletzt so beliebten penibel codierenden bzw. quantifizierenden Verfahren genutzt wird. Vielmehr überzeugen kluge Beschränkung, Akribie der Betrachtung und Fülle der Auswertung anhand von rich, intricate cases. Rein inhaltlich gibt es, wie gezeigt, neben einigem an Replikation, auch frischen Ertrag und ebenso Ansatzpunkte für neue Fragestellungen oder weitere Forschung. Zuweilen genießt man schlechterdings die schaudernde Alteritätserfahrung bei der Begegnung mit Schulbuchtexten, die so alt noch gar nicht sind („Der herrliche Geist von 1914“ [S. 80], „Die Abgewiesenen stürmen zur nächsten Truppe, ihr Heil zu versuchen“ [S. 178] usf.). Es stört indes manchmal ein wenig, dass Sprache im von politischen Kontexten weitgehend unabhängigen Elfenbeinturm betrachtet wird: Ist es wirklich Zufall, dass die „Tapferkeit der türkischen Truppen“ (S. 214) ausgerechnet ein Jahr nach dem NATO-Beitritt der Türkei (1952) gerühmt wird? Sicher, über Spekulation wäre man in solchen Fällen kaum hinausgekommen. Besonders jedoch vermisst man die beherzte Erkundung der Frage, wozu diese Art von Forschung (realisiert nicht nur in der betrachteten Arbeit) am Ende dient. Auf die heute laut werdende Forderung nach einer Third Mission der Universität bzw. der an ihr betriebenen Forschung kennen die Fachdidaktiken ja durchaus viele Antworten. Hier aber gerät der Umgang mit dem Schulbuch in seinem natürlichen Biotop, dem Klassenzimmer, – gewollt – nur beiläufig bzw. erkennbar erst bei den abschließenden „10 Thesen“ (S. 367ff.) in den Blick, mit denen „Perspektiven für die Schulbuchkonzeption“ (S. 379) eröffnet werden (so schließt sich zumindest der Kreis zu Georg Eckert vor siebzig Jahren). Ansonsten müssen wenige Besinnungen auf einen „kommunikativen Raum“ mit einer ziemlich obskuren „Erzähler-Leser-Gemeinschaft“ (S. 247) genügen. Außerhalb des Buchtitels kommt der Begriff „didaktisch“ überhaupt nur selten vor. Das gibt dem Schulbuch, zu Unrecht, den Anschein von etwas Fremdem, Überholtem. Stattdessen könnte doch gefragt werden, warum einer heutigen Gesellschaft, die geschichts- und erinnerungskulturell so informiert und interessiert ist wie keine zuvor, Geschichtsschulbücher im Grunde herzlich egal sind. Die aktuellen Debatten finden in und um Podcasts, Kunstausstellungen, Netflix-Serien statt. Dass aber nur in der Schule die systematischen Grundlagen für eine Kunst des historischen Verstehens, der Quellenkritik oder Mündigkeit im Umgang mit historischen Medien gelegt werden, ist fast bereits vergessenes Bildungsgut.

Anmerkungen:
1 Viola Schrader, Geschichte als narrative Konstruktion. Eine funktional-linguistische Analyse von Darstellungstexten in Geschichtsschulbüchern, Berlin 2013.
2 Vgl. Holger Thümenann, Historische Lernaufgaben. Theoretische Überlegungen, empirische Befunde und forschungspragmatische Perspektiven, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 141-155; Manuel Köster, Aufgabenkultur im Geschichtsunterricht, Frankfurt am Main 2021; Birgit Wenzel, Aufgaben(kultur) und neue Prüfungsformen, in: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.), Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts Bd. 2, Schwalbach/Ts. 2012, S. 37-49.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension