J. Reulecke u.a. (Hrsg.): Wissenschaften im 20. Jahrhundert

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Titel
Wissenschaften im 20. Jahrhundert. Universitäten in der modernen Wissenschaftsgesellschaft


Herausgeber
Reulecke, Jürgen; Roelcke, Volker
Erschienen
Stuttgart 2008: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Corinna R. Unger, Deutsches Historisches Institut, Washington

An Sammelbänden zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert herrscht kein Mangel.1 Die große Zahl solcher Publikationen weist auf den erfreulichen Umstand hin, dass wissenschaftshistorische Themen in den vergangenen Jahren zunehmende Aufmerksamkeit erhalten haben. Angesichts inzwischen etablierter Konzepte und Einsichten wächst die Erwartung an Neuerscheinungen, Erkenntnisse zu präsentieren, die alternative Richtungen vorschlagen oder aber etablierte Annahmen hinterfragen. Unter diesem Erwartungsdruck steht auch der vorliegende Band, der aus einer Konferenz an der Universität Gießen hervorgegangen ist, die 2006 im Vorfeld zu deren 400-Jahr-Feier stattgefunden hat. Die Herausgeber Jürgen Reulecke und Volker Roelcke, zwei namhafte Wissenschaftshistoriker, benennen folgende Problemkomplexe als Leitfragen: „1. die Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen unter dem Einfluss sowohl von wissenschaftsimmanenten Dynamiken als auch von (wissenschafts-)politischen Entwicklungen in den unterschiedlichen politischen Kontexten des 20. Jahrhunderts; 2. die zunehmende Autorität wissenschaftlicher Deutungen/Expertise im Alltagsleben, im Sinne der Strukturierung von Wahrnehmungsweisen im öffentlichen ebenso wie im privaten Leben [...]; 3. die Institutionalisierung und Differenzierung des Wechselverhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik in Form von Politikberatung, Forschungsförderung und Forschungssteuerung [...].“ (S. 7)

Die Herausgeber betonen, dass die Beiträge diese Fragenkomplexe „keineswegs erschöpfend darstellen und analysieren“ könnten (ebd.). Ein Problem ist hingegen, dass der Band eine Vielzahl von Aufsätzen versammelt, deren Struktur und Stil stark variieren und die zum Teil relativ isoliert nebeneinander stehen. Um einen kurzen Überblick zu geben: Auf eine Einführung über „Universitäten und Disziplinen in der modernen Wissenschaftsgesellschaft“ folgt ein Beitrag über Hermann Onckens Rede zum 300-jährigen Bestehen der Universität Gießen 1907. Im Kapitel „Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen“ sind Aufsätze enthalten zu Literaturwissenschaften im 20. Jahrhundert, zum ‚Primitivismus’-Diskurs im frühen 20. Jahrhundert, zur Medienforschung, zur Lehrerbildung, zu den Technikwissenschaften sowie zu Disziplinen und Interdisziplinarität. Der zweite Themenblock, „Verwissenschaftlichung des Sozialen“, präsentiert Beiträge über Politik- und Sozialwissenschaften, Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, Demographie, Wirtschaftsrecht sowie „Forcierte Nationalisierung als Komplexitätsreduktion“ in den Geisteswissenschaften. Den Abschluss bilden drei Aufsätze, die unter der Kategorie „Institutionalisierte Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft und Politik“ zusammengefasst sind. Sie behandeln die Gewalt- und Konfliktforschung, die medizinische Forschungsförderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie die Hochschul- und Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus.

Im Folgenden möchte ich kurz einige Beiträge vorstellen, die meines Erachtens besondere Aufmerksamkeit verdienen. Doris Kaufmanns Aufsatz über „‚Primitivismus’ im transdisziplinären Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts“ – die „wechselnde Aufnahme methodischer Verfahrensweisen und inhaltlicher Ergebnisse innerhalb verschiedener Wissensfelder“ (S. 41) – besticht mit seinem Bemühen, in den Debatten über die so genannte primitive Kunst die sich verschiebenden Definitionen dessen nachzuvollziehen, was „normal“ und was „abweichend“ sei. Vor dem Ersten Weltkrieg war dieses Feld eine Domäne der Kunsthistoriker, bis sich die Psychiatrie das Gebiet in den 1920er-Jahren aneignete und die Kunst psychisch Kranker zu einem prominenten Forschungsgegenstand machte. An diesem Beispiel diskutiert Kaufmann zwei Grundprobleme, nämlich die „methodische Selbstreflexion und die Wahrnehmung der Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis“ (S. 53), die zugleich das Krisenbewusstsein der Zeit reflektieren. Ihr Beitrag macht deutlich, wie lohnend es sein kann, die Entstehungsphase von Disziplinen zu untersuchen und sich zu vergegenwärtigen, dass ihre Ursprünge viel weniger weit voneinander entfernt sein können, als wir es heute annehmen.

Auch Ute Daniels Beitrag hinterfragt etablierte Perspektiven: Sie untersucht die „Entstehungskontexte der Medienforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ am Beispiel der USA und vertritt die These, dass „die Frühgeschichte der akademischen Massenmedienforschung und ihrer Theoriebildungen nur aus ihren historischen Kontexten erklärbar ist, nicht aber aus wissenschaftsinternen Zusammenhängen“ (S. 56). Wurde lange Zeit angenommen, dass Propaganda eine ungeheure Wirkung auf „die Massen“ habe, so fehlte viele Jahre eine entsprechende Theorie. Erst der Zweite Weltkrieg, der zu einem Boom der angewandten Forschung über Rezeptionspraktiken führte, änderte das – und unterminierte zugleich den Glauben an die starke Wirkung von Propaganda. Daniel zeigt, wie die US-Werbebranche die amerikanische Inlandspropaganda übernahm und wie sich im Zuge der Verschiebung von Propaganda zu Werbung die Angst vor der „unberechenbaren Masse“ auflöste und stattdessen das (konsumierende) Individuum ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Auf ein ähnliches Muster im Umgang mit dem Phänomen „Masse“ weist Vadim Oswalt hin, der am Beispiel der Universität Gießen sehr anschaulich die Reform der Lehrerbildung nachvollzieht. Die Verwissenschaftlichung der Ausbildung für Volksschullehrer und die Vereinheitlichung der Lehrerbildung in der Nachkriegszeit, vor allem seit den 1960er-Jahren, deutet er als Teil des Arrangements mit der Massengesellschaft.

Volker Roelckes aufschlussreicher Artikel über die Rivalitäten zwischen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie im 20. Jahrhundert ergänzt zum Teil Kaufmanns Beitrag, interessiert sich aber stärker für politisch und kulturell beeinflusste „Zeitstrukturen und Organisationsformen“ (S. 132). Roelcke beschreibt das Bemühen der beteiligten Ärzte und Wissenschaftler, spezifische Perspektiven auf das Soziale und damit auch spezifische Identitäten auszubilden, um Terrain für ihr Fach reklamieren zu können und selbst als Experten anerkannt zu werden. Seine These, dass sich die Psychiatrie im Nationalsozialismus beinahe selbst abgeschafft habe, indem sie ihre Patienten ermordete und zwangssterilisierte (S. 137, S. 147f.), steht in Spannung zu der Annahme, dass Wissenschaftler sehr geschickt darin seien, sich unentbehrlich zu machen – und verdient näher untersucht zu werden.

Joseph Ehmer bietet mit seinem Aufsatz über „Bevölkerungswissen und Demographie in der Wissensgesellschaft des 20. Jahrhunderts“ einen exzellenten Überblick zu der Geschichte des Faches und seiner Methodologie. Er beschreibt die Entstehung der Demographie als Disziplin, die sich stets in enger Nähe zu Staat und Politik befand und sich stärker über angewandte Forschung und Politikberatung als über theoretische Fundierung profilierte. Der konkrete Ordnungsanspruch der Demographie stellte in der Wissensgesellschaft des 20. Jahrhunderts einen erheblichen Vorteil dar und ist wohl auch ein Grund für die bemerkenswerte Flexibilität, mit der demographische Fragen popularisiert werden konnten.

Mehrere Beiträge setzen sich kritisch mit Konzepten wie jenem der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ auseinander und plädieren für Differenzierung. Mindestens ebenso interessant wäre es, bislang noch kaum bearbeitete Fragen aufzunehmen – etwa jene nach der Bedeutung von Geschlecht in der Wissenschaftsgeschichte sowie in der Wissensgesellschaft. Ulrich Siegs Hinweis auf die wichtige Rolle „junge[r], ehrgeizige[r] Männer“ im Kontext der Nationalisierung der Geisteswissenschaften vom Kaiserreich bis in den Nationalsozialismus (S. 202) könnte als Ausgangspunkt dienen, um Männlichkeitskonstruktionen in der Wissenschaft zu untersuchen. Ähnlich lohnend könnte es sein, dem Zusammenhang zwischen Wissenschaft, Popularisierung und Populärkultur nachzugehen, um die breite Öffentlichkeit und die wechselseitigen Rückwirkungen einzubeziehen.

Abschließend lässt sich feststellen, dass in dem Band überaus anregende und lesenswerte Aufsätze enthalten sind, an denen sich zukünftige Studien orientieren können. Fraglich bleibt indes, ob jede Konferenz in einem umfangreichen Sammelband dokumentiert werden muss oder ob nicht eine gezielte Auswahl einiger Konferenzbeiträge an anderer Stelle sinnvoller wäre – da präziser, effektiver und nicht zuletzt für Produzent/innen und Konsument/innen kostengünstiger.

Anmerkung:
1 Siehe u.a.: Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahme zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002 (rezensiert von Arne Schirrmacher, in: H-Soz-u-Kult, 19.11.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=1860> (25.08.2009)); Rüdiger vom Bruch / Uta Gerhardt / Aleksandra Pawliczek (Hrsg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006 (siehe meine Rezension, in: H-German, H-Net Reviews. April 2009 <http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=23796> (25.08.2009)); Sabine Schleiermacher u.a. (Hrsg.), Wissenschaft macht Politik. Hochschule in den politischen Systemumbrüchen 1933 und 1945, Stuttgart 2009.