I. Därmann u.a. (Hrsg.): Oikonomia und Ökonomie im klassischen Griechenland

Cover
Titel
Oikonomia und Ökonomie im klassischen Griechenland. Theorie – Praxis – Transformation


Autor(en)
Därmann, Iris; Winterling, Aloys
Erschienen
Stuttgart 2022: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
226 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Günther, Institute for the History of Ancient Civilizations (IHAC), Northeast Normal University, Changchun

Bruch oder Transformation? Das ist nicht nur eine heißdiskutierte Frage in der Konzeptionalisierung der Spätantike, sondern treibt auch die Forscher zur Antiken Ökonomie um, und zwar sowohl bezüglich der Analyse von Veränderungspotentialen antiker Wirtschaftsformen wie -praktiken als auch des Nachlebens der verwendeten wie diskutierten Termini und Konzepte. Insofern ist die Herausgabe dieses Konferenzbandes, der sich auf oikos- und oikonomia-Figurationen konzentriert, unbedingt zu begrüßen, auch wenn seit der Tagung Ende 2013 einige neue Stimuli gerade zur griechischen Wirtschaft hinzugekommen sind, die naturgemäß auch in den meist kurzen Nachträgen der Autoren nur marginal berücksichtigt werden konnten.1

Nach zwei kurzen einführenden Vorüberlegungen der beiden Herausgeber zu wichtigen Verortungen der oikonomia in antiken und modernen Gesellschaften (Iris Därmann) und zur adäquaten analytisch-interpretatorischen Herangehensweise an die verschiedenen Sichtweisen auf (antike wie eigene) ökonomische Ordnungen im Lauf der Geschichte (Aloys Winterling) folgen acht Beiträge, die sich der Forschungslage, antiken griechischen theoretischen Zugängen und Praktiken sowie ausgewählten Aspekten der Rezeption und Transformation in der Frühen Neuzeit und Moderne widmen.

Neville Morley beschreibt in „Re-thinking the Ancient Economy, once again“ das Aufbrechen des alten Primitivismus-Modernismus-Schismas, das durch die Herausgabe der Cambridge Economic History of the Greco-Roman World im Jahre 2007 endgültig abgelöst worden sei, jedoch durch die Etablierung der Neuen Institutionenökonomie (NIÖ) und den Glauben an Quantifizierung antiker ökonomischer Daten einer neuen Orthodoxie Platz zu machen beginne. Die von ihm aufgezeigten Felder zur Erhaltung einer gewissen Pluralität in der Forschungsdiskussion (Vergleiche vormoderner Ökonomien; Wirtschaftskulturen und kulturelle Prägung von Wirtschaftspraktiken wie -akteuren; Umweltfaktoren) sieht er im Nachtrag durch Nennung einiger neuerer Werke verwirklicht, auch wenn sich die Frage stellt, ob diese nicht in der Tendenz mit oder entlang von NIÖ-Kategorien operieren. Die Erforschung der emischen Perspektiven auf wirtschaftliche Prozesse, Praktiken und Akteure, könnte, so die Meinung des Rezensenten, das Spektrum doch noch einmal verbreitern helfen.2

Die Sektion zur antiken Theorie beginnt mit einem Vergleich von Hesiods Erga und Xenophons Oikonomikos durch Peter Spahn. Ähnlichkeiten wie Unterschiede sowie andere Schwerpunktsetzungen werden deutlich gemacht und an die jeweiligen Kontexte – soweit aufgrund der fragmentarischen Quellenlage möglich – angebunden. Der Rezensent würde der Beobachtung Spahns zustimmen, dass beide Schriften, wie insgesamt die Mehrzahl der ökonomisch gefärbten Literatur, „in einen ethischen Zusammenhang eingebunden“ sind (S. 61) und „wirtschaftliche und soziale Fragen eng“ verknüpfen (ebd.). Jedoch sollte man auch die durchaus unterschiedlichen Konzeptionen des jeweiligen ethischen Maßstabs berücksichtigen, der etwa bezüglich Xenophons daran zweifeln lässt, inwieweit die von ihm propagierte Gebrauchs- und Nutzen-/Nützlichkeitsethik noch ein religiöses Fundament benötigt, da die Einholung der göttlichen Zustimmung erst auf Grundlage eigener perfekter Vorbereitung erfolgt (vgl. dazu etwa Xen. Kyr. 1,6,5f.; vect. 6,2f.; oik. 5, 11–20; 21, 11f.). Auch die Nutzung des persischen Königs als Exemplum, was sich intensiver noch in der Kyrupädie findet, sollte man weitergehend deuten, da damit die konzeptionelle Brücke zum Transfer dieser Vorstellungen vom oikos auf die polis geschlagen wird, wie man das etwa auch in Xenophons Poroi fassen kann (vgl. dagegen Spahns Aussage auf S. 50: „Übrigens wird hier ein Oikos, der sich vergrößern lässt, jeweils nur einzelnen Personen zugeschrieben, nicht etwa auch metaphorisch der Polis insgesamt. … Die entsprechende Semantik verändert sich erst in hellenistischer Zeit. …“).

Xenophon sowie die zwei anderen philosophischen Vordenker (nicht nur) der oikonomia im 4. Jahrhundert v.Chr., Plato und Aristoteles, stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Darel Tai Engen. Prägnant, jedoch auch sehr verkürzt werden die gemeinsamen Fixpunkte wirtschaftlichen Verhaltens und die unterschiedlichen Ordnungs- und Realisierungsversuche vor dem Hintergrund der athenischen Ökonomie des 4. Jahrhunderts v.Chr. herausgearbeitet. Xenophon und seine Poroi erscheinen dabei durchaus richtig als näher am „Puls der Zeit“ als die beiden anderen Philosophen, doch hätte die jeweilige Gesamtkonzeption der ökonomischen Ordnung, die sich etwa bei Xenophon auch an Zielen wie eudaimonia orientierte3, noch stärker herausgearbeitet werden können. Für Plato ist jetzt auf Sabine Föllingers Studie zu verweisen4 und die Rekonstruktion der „Economy in Fact“ (S. 78–81) hätte durch wichtige Nachträge (vgl. oben Absatz zu N. Morley) an Tiefenschärfe gewonnen.

In die antike Praxis startet Armin Eich, indem er die geldwirtschaftlichen Beziehungen und Preisbildungsmechanismen im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. in den Blick nimmt. Besonders nimmt er sich der Knappheit der Ressource „Geld“ in der athenischen Gesellschaft an, die jedoch nicht natürlich bestanden, sondern „politisch“ erzeugt und durch die ungleiche Verteilung der Vermögen und des Durchflusses von Geld innerhalb der Gesellschaft letztlich zur Aufrechterhaltung der sozialen Schichtung trotz demokratischer politischer Struktur beigetragen habe. Dabei habe insgesamt hoher ökonomischer Druck auf den Eliten gelastet, die durch Steuern und Liturgien leistungspflichtig gegenüber staatlichen Institutionen waren und daher ihr verfügbares Kapital investieren hätten müssen. Auch hinsichtlich dieser Beobachtungen wäre es eine weiterführende Überlegung, sowohl die xenophontischen Poroi als auch dessen Oikonomikos als Reflektion über die (geld-)wirtschaftliche Ordnung Athens zu lesen. Zu der schrittweisen Etablierung einer „Zustimmungsdemokratie“ mit Experteneliten als politische, fiskalische etc. Leitungsorgane hat Dorothea Rohde das Nötige geschrieben.5

Moritz Hinsch präsentiert eine Kurzfassung seiner zuletzt erschienenen, umfänglichen Studie zum oikos als Ort und Bezugspunkt der griechischen (Haus-)Wirtschaft.6 Zentral ist seine These, dass der oikos auf die wirtschaftlichen Veränderungen der klassischen Zeit reagierte, indem er die wesentlichen ökonomischen Prozesse ins „Haus“ aufgenommen und nicht etwa nach außerhalb verlagert und in unabhängige „Unternehmensstrukturen“ verlagert habe, was letztlich dann nicht zu „modernen“ wirtschaftlichen Organisationsformen wie Handelsgesellschaften etc. geführt habe. Die sehr präzise Beschreibung der hauswirtschaftlichen Prozesse machen die Lektüre des Aufsatzes zu einem Gewinn; die vermeintlich geringen außerhauswirtschaftlichen Aktivitäten wie die mangelnde Spezialisierung innerhalb der verschiedenen oikos-Bereiche (außer bei großen Elite-Haushalten) sind allerdings sicherlich Punkte, die weitere fachwissenschaftliche Diskussion hervorrufen dürften.7

Die drei letzten Beiträge widmen sich der Transformation von oikos-Ideen in nachantiker Zeit. Neben der chrematistischen Infiltration von Geoffrey Chaucers Traumvisionen, deren Vokabular wie oikonomia-, d.h. Ordnung-(zer)störende Wirkung Wolfram R. Keller eindrücklich beschreibt, und der Herausarbeitung des „Zeitmanagements“ im Spannungsfeld von Individuum und sozialer „Einspannung“ im Haushalt wie in der städtischen Gesellschaft in einem locus classicus der oikos-Rezeptionsforschung, Leon Battista Albertis Della famiglia, durch Helmut Pfeiffer verdienen die Beobachtungen zur Polis-/Oikos-Differenz in der neuzeitlichen Ökonomie- und Politikformation durch Birger P. Priddat Aufmerksamkeit. Denn er skizziert eindrücklich, inwieweit das Referieren auf und Denken in den klassischen Topoi „Polis“ und „Oikos“ die wirtschaftlichen wie staatlichen Systembildungsprozesse der Neuzeit beeinflußte. Daran anschließend wäre etwa zu fragen, wie in globaler Hinsicht „optimierte“ Systeme konzeptionell konturiert und mehr oder weniger erfolgreich in die Praxis umgesetzt wurden und so ökonomische, soziale und/oder politische Partizipation ermöglichen sollten. Insofern man auch hier wieder, zumindest für den Westen, auf antike Vorbilder wie Platon, Xenophon und Aristoteles, aber etwa auch, um einmal über den griechisch-römischen Tellerrand zu blicken, für China und dessen Diskurse auf die Diskussionen über das Salz- und Eisenmonopol (Yán Tiě Lùn) aus der Han-Zeit verweisen könnte8, schließt sich der Kreis der Bedeutung und Wirkmächtigkeit dieser Referenztexte, einst und jetzt.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Rez., Research Survey: The Ancient Economy – New Studies and Approaches: Introduction; Ancient Greece, Journal of Ancient Civilizations 32/1, 2017, S. 55–81; Rez. / D. Rohde (eds.), 200 Years after August Boeckh’s The Public Economy of Athens: Perspectives of Economic History for the 21st Century, Changchun 2019 = Journal of Ancient Civilizations 34/2, 2019, jeweils mit weiterer Literatur.
2 Dazu Rez., (K)einer neuen Theorie wert? Neues zur Antiken Wirtschaftsgeschichte anhand Dig. 50,11,2 [Callist. 3 cognit.], Gymnasium 124/2, 2017, S. 131–144.
3 Hierzu St. Schorn, Xenophons Poroi als philosophische Schrift, Historia 60, 2011, S. 65–93 = The Philosophical Background of Xenophon’s Poroi, in: F. Hobden / Chr. Tuplin (eds.), Xenophon: Ethical Principles and Historical Enquiry, Leiden 2012, S. 689–723.
4 S. Föllinger, Ökonomie bei Platon, Berlin 2016.
5 D. Rohde, Von der Deliberationsdemokratie zur Zustimmungsdemokratie. Die öffentlichen Finanzen Athens und die Ausbildung einer Kompetenzelite im 4. Jahrhundert v.Chr., Stuttgart 2019; vgl. auch ihren Beitrag „For Everything to Remain the Same, Everything Must Change! Private Wealth and Public Revenues“ im gemeinsam mit Rez. publizierten Konferenzband unter Fußnote 1 (S. 245–271); ergänzend ebd.: Rez., Narrating Checks and Balances? The Setup of Finance-related Administrative Documents and Institutions in 5th and 4th Century BC Athens (S. 211–227).
6 M. Hinsch, Ökonomik und Hauswirtschaft im klassischen Griechenland, Stuttgart 2021.
7 Vgl. die Besprechung seiner Monographie durch Rez. in: Klio 104/1, 2022, S. 366–371. Vgl. die Rezension von W. Schmitz in H-Soz-Kult, 16.05.2022, URL: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-94074 (10.10.2022).
8 Text: E. M. Gale (ed./trans.), Discourses on Salt and Iron. Debate on State Control of Commerce and Industry in Ancient China. Chapters I–XIX Translated from the Chinese of Huan K'uan with Introduction and Notes, Leiden 1931; Discourses on Salt and Iron (Yen T'ieh Lun: Chaps. XX–XXVIII), Journal of the North China Branch of the Royal Asiatic Society 65, 1934, S. 73–110; URL: http://www2.iath.virginia.edu/saxon/servlet/SaxonServlet?source=xwomen/texts/yantie.xml&style=xwomen/xsl/dynaxml.xsl&doc.view=tocc&chunk.id=tpage&toc.depth=1&toc.id=d2.24&doc.lang=bilingual/&doc.lang=bilingual/ (10.10.2022). Dazu: K. Leese-Messing, Qin and Han Evidence: Transmitted Texts, in: S. von Reden (ed.), Handbook of Ancient Afro-Eurasian Economies. Vol. 1: Contexts, Berlin 2020, S. 497–527, hier: S. 513–518.

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