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Titel
Buchenwald. Zur europäischen Textgeschichte eines Konzentrationslagers


Herausgeber
Pabst, Stephan
Reihe
Medien und kulturelle Erinnerung
Erschienen
Berlin 2023: de Gruyter
Anzahl Seiten
VII, 546 S.
Preis
€ 89,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sascha Feuchert, Arbeitsstelle Holocaustliteratur, Institut für Germanistik, Justus-Liebig-Universität Gießen

Sammelbände, zumal als Ergebnis von Konferenzen, sind oft nur mühsam thematisch zusammengehaltene „Buchbindersynthesen“, deren Mehrwert bloß in einzelnen Beiträgen liegt und weniger im Gesamten. Bei dem hier anzuzeigenden Werk ist das deutlich anders. Das von dem Hallenser Literaturwissenschaftler Stephan Pabst herausgegebene englisch- und deutschsprachige Konvolut zur „europäischen Textgeschichte“ des Konzentrationslagers Buchenwald löst ein, was es im Titel verspricht, mehr noch: Es hat das Zeug dazu, zu einem Standardwerk zu werden, an dem Historiker/innen und Literaturwissenschaftler/innen künftig im besten Sinne nicht mehr vorbeikommen. Bedauerlich ist allein die Tatsache, dass zwischen der Konferenz vom Herbst 2019 und der Publikation des Bandes in der von Astrid Erll und Ansgar Nünning verantworteten Reihe „Medien und kulturelle Erinnerung“ mehr als drei Jahre liegen: Die Beiträge haben so (noch) keinen Einfluss auf Forschungsvorhaben nehmen können, die in der Zwischenzeit liefen. Ein enormer Vorteil ist es aber, dass die Publikation auch im Open Access vorliegt und dergestalt „verlorene“ Zeit aufholen kann.

Schon die Einleitung durch den Herausgeber demonstriert die große Qualität des Bandes: Auf gut 20 Seiten durchschreitet Pabst die komplexe und wechselvolle (textliche) Rezeptionsgeschichte des Lagers und zeigt, inwiefern nur ein komparatistischer Blick auf die von den Überlebenden hinterlassenen Zeugnisse bzw. die weiteren literarischen Darstellungen dem Gegenstand gerecht werden kann. „It goes without saying that no scholar can do philological justice to this diversity […]. Even if they were in command of numerous languages, they would only be able to read a fraction of the original texts that were written by former inmates about the camp.“ (S. 2) Notwendig wird ein über die nationalen deutschen Grenzen hinweggehender, vergleichender Blick vor allem, weil das Lager selbst und sein immer größer werdendes Netz an Außen- und Nebenlagern ab 1939 zunehmend internationaler wurden: Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges kamen Angehörige von unterschiedlichsten Nationen in das KZ, die nach dem Krieg auch in den jeweiligen Landessprachen über ihre Erfahrungen berichteten und die Erinnerung an Buchenwald in ihren Herkunftsstaaten prägten, sofern sie dort zu dem politisch und gesellschaftlich jeweils geduldeten Erinnerungsnarrativ passten. Freilich ist die Zuordnung einzelner Häftlinge zu nationalen Gruppen nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag: „The prisoners' national categorisation correlated to other, for their part dynamic categorisations like ‚Jew‘, ‚political prisoner‘, ‚homosexual‘, etc. […] Moreover, the SS ascribed some prisoners to national groups that did not correspond to the way those prisoners saw themselves.“ (S. 4)

Buchenwald spielte und spielt in den Herkunftsländern eine sehr unterschiedliche Rolle, wie die Überblicksartikel zu einzelnen Ländern bzw. die Einzelstudien eindrucksvoll zeigen. Das Spektrum reicht von tschechischer, ungarischer, jugoslawischer und sowjetischer Literatur bis hin zu Werken aus Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen und Österreich. Während beispielsweise in Frankreich die Bedeutung Buchenwalds im Erinnerungsdiskurs nach wie vor groß ist, nicht zuletzt weil es sehr viele französische Häftlinge und Überlebende dieses Lagers gab, ist in Polen das Gedenken an Auschwitz (und andere Vernichtungslager) derart dominant, dass kaum Platz für die Erinnerung an weitere Terrororte bleibt. Und dennoch existieren in der polnischen Literatur ebenfalls Werke, die sich mit Buchenwald auseinandersetzen.

In einem der interessantesten Texte des Bandes lenkt der Lodzer Philologe Arkadiusz Morawiec den Blick auch auf lyrische Werke (nicht zuletzt auf solche, die im Lager selbst entstanden), die von Historiker/innen als Gattung wohl eher selten in Betracht gezogen werden (was, wie der Literaturwissenschaftler an dieser Stelle vorsichtig anmerken darf, ein Fehler ist). Erstaunlich ist zum Beispiel, dass Władysław Szlengel (1912–1943), den man hierzulande wahrscheinlich nur als Poeten des Warschauer Gettos kennt, bereits vor dem Krieg in mehreren Gedichten das Lager nahe Weimar erwähnte und damit die Intention verfolgte, „to deride the repressive policies of the German government“ (S. 54). Noch überraschender dürfte es für viele Forscher/innen in- und außerhalb Polens sein, dass es schon 1939 zwei Werke gab, die über Buchenwald informierten, darunter der Erlebnisbericht von Władysław Wójcik (1882–1940) Byłem w piekle… (Ich war in der Hölle...) und der Sammelband von Stanisław Nogaj (1897–1971) Za drutami i kratami Trzeciej Rzeszy (Hinter den Zäunen und Gittern des Dritten Reiches). Nogaj verwertete für sein Werk sieben Zeugenaussagen entlassener KZ-Häftlinge, wovon vier sich auf Buchenwald beziehen. „They reveal many details about the functioning of the camp, including a fact of which many Polish historians are unaware: namely, that Polish prisoners were already being interned in Buchenwald before the war. The report entitled The Tragedy of Jews in Buchenwald is one of the first Polish literary texts that deals with the Nazi persecution of the Jews.“ (S. 55) Einzig die Tatsache, dass Morawiec mehrfach betont, die ästhetische Qualität der Zeugnisse (auch jener aus dem Lager) sei eher mittelmäßig und konventionell, stört in diesem hervorragenden Aufsatz ein wenig: Schließlich erwähnt der Autor in diesem Zusammenhang auch selbst, dass das angesichts der Funktionen, die die Texte in psychologischer und dokumentarischer Hinsicht hatten, nachrangig ist.

Die Grazer Soziologen Christian Fleck und Andreas Kranebitter gehen in ihrem Aufsatz einer überaus spannenden Beobachtung nach: Unter den frühen Zeugnissen zu Buchenwald gibt es einige Autoren, die sich „bei ihren Analysen ihrer eigenen Erfahrungen sozialwissenschaftlicher und psychoanalytischer Denkweisen“ bedienten und beanspruchten, „allgemeine Aussagen über das Leben unter extremen Bedingungen formuliert zu haben“ (S. 167). Die Verfasser solcher Werke waren auffallend oft Österreicher. Zurecht fragen Fleck und Kranebitter deshalb, warum diese „frühe Soziologie der Konzentrationslager eine österreichische Angelegenheit gewesen zu sein scheint“ (Maja Suderland, zit. auf S. 168). Natürlich können die beiden Autoren bei ihren erhellenden vergleichenden Studien der Schriften von Bruno Bettelheim, Ernst Federn, Benedikt Kautsky, Eugen Kogon und Paul Neurath keine definitiven Antworten geben. Aber sie können doch einige schlüssige Vermutungen formulieren, warum ausgerechnet österreichische bzw. speziell Wiener Autoren zumindest auch in der retrospektiven Wahrnehmung diesen Diskurs dominierten. Zum einen spielt die bekannte Tatsache sicher eine Rolle, „dass das österreichische Bildungsbürgertum 1938 größer war als im ‚Altreich‘“ (S. 191) und in dieser Gruppe wiederum der Anteil jener Menschen, die nach den Nürnberger Gesetzen als Juden bezeichnet wurden, besonders hoch. Entscheidend ist aber auch, dass die meisten österreichischen Häftlinge unmittelbar nach dem „Anschluss“ 1938 „razziagleich“ (ebd.) verhaftet wurden, was dazu führte, „dass die aus Österreich nach Dachau [und später weiter nach Buchenwald, S.F.] Deportierten sozial weit heterogener waren als die bestehende ‚Häftlingspopulation‘ in den Lagern. […] Aufgrund ihres Lebensalters waren viele von ihnen tertiär gebildet, sie verfügten also über ein Reflexionsvermögen aufgrund sozialwissenschaftlicher oder psychoanalytischer Kenntnisse, die nach der Befreiung eine wissenschaftliche Distanznahme zur eigenen Erfahrung ermöglichten […].“ (S. 192) Am spannendsten ist die These Flecks und Kranebitters, dass alle fünf untersuchten Autoren sich auch in der damals noch virulenten „Frage des Österreichischen“ äußerten, „die in der Kontroverse darum, ob man von einer eigenen Nation sprechen könne, zum Ausdruck gebracht wurde“ (ebd.). Damit aber hängt auch der „Mythos von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus“ (S. 193) eng zusammen. Diese Kontroverse um die „Distanzierung der Österreicher von allem Deutschen“ hat, so die beiden Autoren, „paradoxerweise den Diskurs“ befördert und „die quantitative Produktion von Texten“ (ebd.) erhöht: „Dass die frühe Soziologie der Konzentrationslager eine österreichische Angelegenheit war, erscheint in diesem Licht als Nebenprodukt dieser politischen Auseinandersetzung.“ (S. 194)

In anderer Weise äußerst interessant und relevant ist der Beitrag des Nottinghamer Emeritus Bill Niven, der die Entstehungsbedingungen und Hintergründe zu Bruno Apitz' Klassiker „Nackt unter Wölfen“ (1958) seit Jahrzehnten wie kein anderer erforscht.1 Er ordnet zunächst mit wenigen Strichen diesen vielleicht wirkmächtigsten Roman über Buchenwald in den literarischen Nachkriegsdiskurs über das Lager ein: „Auf der einen Seite ist Nackt unter Wölfen als Replik auf die düsteren literarischen Darstellungen von Ernst Wiechert – Der Totenwald (1946) – und Erich Maria Remarque – Der Funke Leben (1952) – zu verstehen.“ (S. 505f.) Diesen früheren Werken setzte Apitz seine Erzählung vom heroischen kommunistischen Widerstand entgegen. Auf der anderen Seite löste auch Nackt unter Wölfen in der ostdeutschen Literatur direkte und indirekte Reaktionen aus, wie Niven betont: „Spätere DDR-Werke wie Hedda Zinners Ravensbrücker Ballade (1961), Jurek Beckers Jakob der Lügner (1966) und Fred Wanders Der siebente Brunnen (1971) greifen Motive auf, die sich in Nackt unter Wölfen finden, und behandeln diese auf eine andere, manchmal kritische Art und Weise.“ (S. 506) In einem weiteren Schritt verweist Niven dann auf ein zentrales Desiderat in der deutschsprachigen Literatur zu dem KZ: „Bei aller Erweiterung der Perspektive im deutschsprachigen Raum blieb und bleibt die Frage, inwiefern Gefangene in Buchenwald mit den Tätern kooperiert haben, eher unterbelichtet. Und doch war es Apitz selbst, der genau diese Frage in seinem ursprünglichen Romanentwurf aufgriff – um die entsprechenden Passagen von Nackt unter Wölfen dann auf Druck von Vertretern des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer vor der Veröffentlichung zu tilgen oder zu ändern.“ (S. 506f.) Die genannte Frage sieht Niven erst in den „letzten zehn, zwanzig Jahren“ wirklich adressiert, „und zwar vornehmlich in der englischsprachigen Belletristik“ (S. 507). Bei der Analyse entsprechender – bisweilen literarisch arg fragwürdiger – Beispiele bezieht sich der Autor (durchaus auch kritisch) auf das Konzept der „agonistic memory“, das von den Romanist/innen Anna Cento Bull und Hans Lauge Hansen eingeführt wurde. Mit dessen Hilfe versucht er überzeugend, jene „Grauzone“ (Primo Levi) auszuleuchten, die in den Romanen zwischen Tätern und Opfern beschrieben wird.

Auch wenn hier nur drei der neunzehn hervorragenden Beiträge besonders fokussiert wurden, sei abschließend noch einmal betont, dass der ganze Sammelband in vielerlei Hinsicht Maßstäbe setzt und sicher weitere Forschungen initiieren wird. Eine zwölfseitige „Auswahlbibliographie zur Textgeschichte Buchenwalds“ rundet den Band ab.

Anmerkung:
1 Siehe u.a. Bill Niven, The Buchenwald Child. Truth, Fiction and Propaganda, New York 2007; rezensiert von Cornelia Siebeck, in: H-Soz-Kult, 21.06.2007, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-10082 (04.08.2023).