H.-J. ten Haaf: Die Kreditgenossenschaften Westdeutschlands nach dem zweiten Weltkrieg

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Titel
Die Kreditgenossenschaften Westdeutschlands nach dem zweiten Weltkrieg. Ideologischer und wirtschaftlicher Neubeginn


Autor(en)
ten Haaf, Hermann-Josef
Reihe
Schriftenreihe des Instituts für Bank- und Finanzgeschichte (29)
Erschienen
Stuttgart 2022: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arnd Kluge, Institut für Geschichte, Universität Regensburg

Der ehemalige genossenschaftliche Ausbilder Hermann-Josef ten Haaf legt hier die chronologische Fortsetzung seiner viel beachteten Dissertation über Kreditgenossenschaften in der nationalsozialistischen Zeit vor.1 Das Buch behandelt die wirtschaftliche Entwicklung der Volks- und Raiffeisenbanken, ihre Entnazifizierung sowie weltanschauliche Neuausrichtung in den westdeutschen Besatzungszonen und den ersten Jahren der Bundesrepublik und in einem Exkurs die Genossenschaftsbanken in der Sowjetischen Besatzungszone. In erster Linie Protokolle von Gremiensitzungen der Genossenschaftsverbände und genossenschaftlichen Zentralbanken und in kleiner Auswahl Unterlagen von ten Haaf zugänglichen Genossenschaftsbanken sowie Entnazifizierungsakten bilden das Quellen-Gerüst der Studie.

Ausführlich und differenziert schildert ten Haaf die Schwierigkeiten der Genossenschaftsbanken und ihrer Verbände in der wirtschaftlichen und politischen Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit. Kriegszerstörungen, Verkehrs- und Kommunikationsprobleme, die Entwertung der Währung und der Forderungen an das Deutsche Reich, Kontrollmaßnahmen und wirtschaftspolitische Vorstellungen der Besatzungsmächte, blockierte Verbände und Zentralbanken, der Schwarzmarkt und die Entnazifizierung hemmten das Geschäftsleben. Unter den Auswirkungen der Währungsreform interessieren ihn besonders die Schwierigkeiten, welche für den Geschäftsverkehr aus den Ausgleichsforderungen entstanden, die die ausgefallenen Forderungen der Banken an das Reich ersetzten. Trotz aller Probleme gelang es den Genossenschaftsbanken, mit der wirtschaftlichen Entwicklung anderer Bankengruppen Schritt zu halten, ohne dass aus dem Buch ersichtlich wird, wieso.

Zur Entnazifizierung stimmt ten Haaf in den Chor der Kritiker ein, die monieren, man habe infolge der begrifflichen und technisch-organisatorischen Probleme der Massen-Entnazifizierung zu leicht die wirklich Schuldigen übersehen. Dabei sei es für die Genossenschaften zu Problemen bei der Besetzung von Stellen gekommen. An Beispielen zeigt ten Haaf, dass sowohl anerkannte Widerstandskämpfer als auch überzeugte Nationalsozialisten nach 1945 in der Genossenschaftsorganisation zu Amt und Würden kamen. Eine dank der genossenschaftlichen Überzeugung der Betroffenen zu vermutende größere Resistenz gegenüber nationalsozialistischer Verführung ist den Daten nicht zu entnehmen. Ebenso wenig äußerte man sich selbstkritisch zur NS-Zeit oder gar zur Verfolgung der Juden. Im Rückblick betonte man lieber, dass das deutsche Volk unter der nationalsozialistischen Politik gelitten habe. Die Genossenschaften verhielten sich, so möchte der Rezensent hinzufügen, hier nicht anders als die überwältigende Mehrheit der Deutschen. Insbesondere genossenschaftliche Banken der liberalen und konservativen städtischen und der konservativen und christlichen ländlichen Hauptrichtungen betonten bereits im 19. Jahrhundert meistens das Geschäftliche und vermieden jeden oppositionellen Geist gegen autoritäre oder totalitäre politische Gesinnungen. Ten Haaf selbst hat in seiner Dissertation den weitgehend problemlosen Übergang der Genossenschaftsbanken in die nationalsozialistische Herrschaft dargelegt.

Nachdem die deutschen Genossenschaftsbanken unter dem NS-Regime zu staatsnahen Einrichtungen geworden waren und als angeblich germanisch fundierte und damit regimetreue Unternehmen galten, mussten sie nach dem Ende des Regimes nach einer neuen weltanschaulichen Grundlage suchen. Man erinnerte sich an das aktive Christentum Friedrich Wilhelm Raiffeisens, sah im genossenschaftlichen Wirken gemeinnützige Aktivitäten, sittliches Erstarken und Teilnahme am Wiederaufbau der Nation. Die Vereinsstruktur der Genossenschaften als urdemokratisch darzustellen, schien eine erfolgreiche Strategie, um ihnen einen respektablen Platz in der Nachkriegsgesellschaft zu sichern. Der „dritte Weg“ der Genossenschaften zwischen Sozialismus und „Individualismus“ (S. 126) wurde beschworen, und so verwundert es nicht, dass man sich letztlich zur sozialen Marktwirtschaft bekannte, wobei ländliche Genossenschaften die seit langem gewohnte Regulierung der landwirtschaftlichen Märkte und städtische Genossenschaften eher den Markt als das Soziale dieses Konzeptes in den Vordergrund stellten. Die Rückbesinnung auf genossenschaftliche Werte mündete somit in der Anpassung an das wirtschaftliche und politische System, das sich in der Bundesrepublik durchsetzte, unter besonderer Berücksichtigung der Interessen der selbstständigen Mitglieder der Genossenschaften.

Es ist angesichts des immer noch leicht überschaubaren und vielfach weltanschaulich geprägten Forschungsstandes zur Genossenschaftsgeschichte sehr verdienstvoll, eine so quellengesättigte Studie zum Genossenschaftswesen vorzulegen. Selbstverständlich beantwortet sie nicht alle Fragen und muss ein Stück weit spekulativ bleiben, so lange nicht mehr Genossenschaftsbanken ihre Archive öffnen. Ten Haaf selbst weist darauf hin, dass eine repräsentative Analyse von Entnazifizierungsakten der Mitarbeiter genossenschaftlicher Organisationen aussteht. Weitere Forschungen zum Themenkomplex sind unbedingt wünschenswert.

Anmerkung:
1 Hermann-Josef ten Haaf, Kreditgenossenschaften im „Dritten Reich“. Bankwirtschaftliche Selbsthilfe und demokratische Selbstverwaltung in der Diktatur, 2. Auflage, Ostfildern 2013.

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