B. Kemper: Die Normierung des Wahnsinns

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Titel
Die Normierung des Wahnsinns. Unterbringungsrecht von der Weimarer Republik bis ins geteilte Deutschland


Autor(en)
Kemper, Benedikt
Reihe
Schriften des Bundesarchivs, Sonderreihe „Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus“
Erschienen
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Henning Tümmers, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Eberhard Karls Universität Tübingen

Seit über 20 Jahren setzen sich die Geistes- und Sozialwissenschaften entschieden mit dem Phänomen „Sicherheit“ auseinander. Während Eckart Conze um 2005 begann, diesen Untersuchungsgegenstand für die Politikgeschichte fruchtbar zu machen1, richtete Wolfgang Sofsky zeitgleich das Augenmerk auf die paradoxe Beziehung zwischen Sicherheit und Freiheit. „Freiheit bedarf der Sicherheit. […] In jeder Gesellschaft ist die Freiheit des einzelnen bedroht durch Übergriffe anderer“, schrieb er. Dabei habe der präventive Schutz vor solchen Gefahren allerdings seinen Preis: „Sicherheit kostet Freiheit“.2 Obwohl sich Sofsky nicht auf die Psychiatrie im 20. Jahrhundert bezog, treffen seine Sätze den Kern von Benedikt Kempers Studie: Die an der Universität Münster entstandene Dissertationsschrift verfolgt die Entstehung von gesellschaftlichen Unsicherheiten als Resultat staatlichen Sicherheitsstrebens. Konkret geht es hierbei um die Zwangseinweisung in psychiatrische Anstalten. Personen, die als „deviant“ galten, wurden zum Schutz der Gesellschaft weggeschlossen. Allerdings kam es hierbei zu Fehleinschätzungen. So avancierte diese Zwangsmaßnahme spätestens in dem Moment zu einem Schreckgespenst, als Zeitungen über die Einweisung von Gesunden berichteten und deshalb stärkere Kontrollen gefordert wurden.

Für Kemper ist die Verwaltungsebene entscheidend. Bestimmungen zur Zwangseinweisung nahmen dort ihren Ausgang. Dieser Fokus bedeutet für die Studie allerdings, dass sie den Wandel von Krankheitsvorstellungen und Diagnosen „unhinterfragt“ lässt (S. 34). Insofern führt der Titel des Buches etwas in die Irre. Genau genommen untersucht Kemper nicht die „Normierung des Wahnsinns“, sondern die rechtliche Materialisierung gesellschaftlicher Sicherheitsbedürfnisse. Der Autor will für den Zeitraum von 1923 bis 1968 „beleuchten, welche Faktoren die Evolution der Unterbringungsgesetzgebung […] prägten“ (S. 13). Schon frühzeitig seien Versuche unternommen worden, „zentralstaatliche Regelungen zu verabschieden, welche sich jedoch erst im geteilten Deutschland durchsetzen konnten“ (S. 13f.). Die zeitgenössischen Einweisungsentscheidungen versteht Kemper als Ergebnisse von Aushandlungsprozessen verschiedener Akteur:innen, nicht als „Folge einer rein an medizinischen Maßstäben orientierten Diagnose“ (S. 12). Dementsprechend definiert die Arbeit drei Analyseebenen: erstens das Verwaltungshandeln der in die Gesetzgebung involvierten Beamt:innen sowie deren Interaktion mit „Stakeholdern“, zweitens die Inhalte der Gesetzentwürfe, drittens die Reaktionen gesellschaftlicher Gruppen auf die Gesetzgebung (S. 15f.). Kempers grundlegende These besagt, dass der Einfluss zweier dichotomer „öffentlicher Unsicherheitswahrnehmungen“ maßgebend für die Genese des Unterbringungsrechts gewesen sei (S. 16). Damit meint er zum einen die von Kranken angeblich oder tatsächlich ausgehende Bedrohung, zum anderen die Angst der Bevölkerung, ungerechtfertigt der Freiheit beraubt zu werden. Rekurrierend auf soziologische Studien zur „Unsicherheit“ unterscheidet Kemper drei Qualitätsstufen: die Wahrnehmung eines „Risikos“, „Ungewissheit“ und „fundamentale Unsicherheit“ (S. 21). Am Ende, soviel sei vorweggenommen, benennt der Autor dann aber doch insgesamt sieben die Gesetzgebung prägende „Entwicklungslinien“ (S. 309), darunter die Herausnahme des Einweisungsrechts aus dem Polizeirecht, Prozesse der Versicherheitlichung, der Einfluss von Individuen sowie die Art und Weise der Kommunikation zwischen Verwaltung und „Stakeholdern“ (S. 309–327).

Die ersten beiden Kapitel führen in das Thema ein und definieren Begriffe wie „Krankheit“, „Devianz“ und „Einweisung“, wobei Kemper darauf hinweist, dass sie als dynamische Konstrukte zu verstehen sind. Ferner wird die Geschichte psychiatrischer Anstalten skizziert, die seit der Aufklärung nicht nur der Verwahrung, sondern auch der Heilung dienen sollten. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 regelte lange den Zugang zur Anstalt. Gerichte mussten dafür „Wahnsinn“ oder „Blödsinn“ bescheinigen (S. 45). Im 19. Jahrhundert kam das Einweisungskriterium der „Gemeingefährlichkeit“ hinzu. In der Kaiserzeit beklagten Mitglieder des Reichstags fehlende Kontrollen der Einweisungspraxis. Eine reichsweite Regelung scheiterte jedoch am Widerstand Preußens, dessen Regierung nicht von den eigenen Bestimmungen abrücken wollte. Zumindest trat 1910 in Baden ein neues „Irrenfürsorgegesetz“ in Kraft. Dieses setzte „Maßstäbe für alle späteren Gesetzgebungsvorhaben auf der Landes- wie der Zentralebene“ (S. 53). Indem es Kontrollen durch die Bezirksämter vorsah, reagierte es auf die Angst vor ungerechtfertigten Einweisungen. Gleichzeitig jedoch sicherte es Mediziner:innen Handlungsspielräume.

Die „Geschichte des Scheiterns“ (S. 91) einer reichsweiten Regelung verfolgt Kemper im dritten Kapitel weiter. Zwar versuchte das Reichsinnenministerium Anfang der 1920er-Jahre ein „Irrenschutzgesetz“ zu erlassen: Einweisungen sollten durch die Amtsgerichte kontrolliert, Einzuweisenden sollte rechtliches Gehör geschenkt werden. Verwaltung und Ärzteschaft sperrten sich jedoch: Gerichtstermine, so die Medizin, würden einen schnellen Therapiebeginn gefährden. Zudem erwecke der Entwurf den Eindruck, dass Patient:innen Verbrecher:innen seien. Neuerungen brachte erst das preußische Polizeiverwaltungsgesetz (PVG), das 1931 die polizeiliche Einweisung „Gemeingefährlicher“ normierte. „Die Verschiebung der zumindest formellen Zuständigkeit für Zwangseinweisungen hin zu den Polizeibehörden schrieb dem Feld der Psychiatrie eine erhebliche Sicherheitsrelevanz zu.“ (S. 131) Diese vergrößerte sich in den folgenden Jahren noch: Ab 1933, das zeigt das vierte Kapitel, zählte nicht nur der Schutz vor Devianz zur Aufgabe der Psychiatrie. Verursacht durch „eine neue Ebene der Unsicherheitswahrnehmung“ (S. 166) sollte sie auch die „Volksgemeinschaft“ vor einer genetischen Degeneration bewahren. Dafür seien die Bestimmungen des PVG breiter ausgelegt worden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg galten die zuvor etablierten Grundsätze fort: Die Verwaltungen der britischen und der sowjetischen Besatzungszone, auf die Kemper im fünften Kapitel fokussiert, verstanden das pränationalsozialistische PVG als Ausdruck von Rechtsstaatlichkeit. Wenig später, in der jungen Bundesrepublik, erhielten Forderungen nach dem Schutz psychisch Gesunder aufgrund der NS-Vergangenheit und neuer Skandale Auftrieb. Gleichzeitig entbrannten Diskussionen über Artikel 104 des Grundgesetzes, der staatliche Freiheitsentziehungen normierte. Dieser Artikel schrieb nicht nur die Entscheidung eines Richters für eine Zwangseinweisung vor. Er entzog zugleich Einweisungen auf Basis des PVG die Rechtsgrundlage (S. 203f.). Kritiker:innen argumentierten, ohne ein entsprechendes Ausführungsgesetz sei die Anwendung des Artikels nicht möglich. Ehemalige NS-Mediziner wie Werner Villinger und Helmut Ehrhardt konnten sich mit Erfolg in die Diskussion einschalten und sprachen psychisch Kranken das Freiheitsrecht ab. Daraufhin löschten die Verantwortlichen diese Personengruppe aus dem Gesetzentwurf. Die Psychiatrie hatte damit Eingriffe in ihre Entscheidungskompetenz abgewehrt. Jedoch existierte dadurch auch nach Inkrafttreten des Ausführungsgesetzes 1956 Rechtsunsicherheit. Die Bundesländer mussten dieses Vakuum durch eigene Bestimmungen füllen. Laut Kemper markierte die Herausnahme psychisch Kranker aus Regelungen staatlicher Freiheitsentziehung eine Zäsur: „Damit wurde in der Bundesrepublik ein Entwicklungsprozess des Unterbringungsrechts vom Beiwerk zur eigenständigen Norm abgeschlossen […].“ (S. 311)

Das siebte Kapitel demonstriert, dass auch die Einweisungspraxis der DDR in der Kritik stand. Das Ministerium für Gesundheitswesen beklagte 1954 ein dem rechtsstaatlichen Selbstverständnis widersprechendes „Gewohnheitsrecht“ (zit. auf S. 282). Demnach genügte seit 1949 ein ärztliches Attest zur Zwangseinweisung. Überdies wollte man im deutsch-deutschen Systemwettstreit ein überlegenes Unterbringungsgesetz konzipieren. Dieses trat aber erst 1968 in Kraft. Als Entscheidungsinstanzen wies es Kreisärzt:innen und Kreisgerichte aus und nannte als Ziel die „Gesundheit des Kranken“ (S. 303). „Welche Auswirkungen die Vorschrift jedoch in der Praxis hatte“, so Kemper, dessen Interesse nicht der Umsetzung des Unterbringungsrechts gilt, „sei […] aber dahingestellt.“ (ebd.) Als Leser hätte man sich allerdings gewünscht, darüber mehr zu erfahren, ebenso wie über den möglichen Einfluss von Reformansätzen wie den Rodewischer Thesen zur DDR-Psychiatrie von 1963 oder der späteren, 1975 veröffentlichten westdeutschen Psychiatrie-Enquete.

Insgesamt hat Benedikt Kemper eine eng an den Quellen gearbeitete Studie vorgelegt, der das Verdienst zukommt, die Entwicklung des Unterbringungsrechts zwischen 1923 und 1968 detailliert nachzuzeichnen. Kritikpunkte lassen sich trotzdem benennen: Erstens enthält die Arbeit einige Redundanzen. Wiederholungen finden sich dabei nicht nur in den Zwischenbilanzen (S. 91–94, S. 131f., S. 251ff., S. 267f.) und dem Fazit. Darüber hinaus dienen ab dem dritten Kapitel auch die jeweils letzten Unterkapitel der Bilanzierung (etwa Kapitel 6.6.). Zweitens wirft das Konzept der „Unsicherheitswahrnehmungen“ Fragen auf. Wo liegen letztlich Gewinn und Vorteil, die Geschichte des Unterbringungsrechts im 20. Jahrhundert aus dieser Perspektive zu erzählen – und nicht als eine „Suche nach Sicherheit“ (Conze)? Diesbezüglich erscheint die sperrige „Unsicherheitswahrnehmung“ an manchen Stellen analytisch nicht hinreichend präzise. Tatsächlich bricht der Autor selbst mit seinem Konzept, wenn er alternativ auch von „Sorge“ (S. 13) oder „Gefahrenwahrnehmung“ (S. 317) schreibt. Drittens hätte man sich, entgegen Kempers Entscheidung (S. 310), im Fazit eine Priorisierung der sieben Entwicklungslinien gewünscht, die seiner Ansicht nach das Unterbringungsrecht prägten. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, an welche Stelle die „Unsicherheitswahrnehmungen“ gerückt wären. Jedenfalls könnte man mit Blick auf die jahrzehntelange Stagnation der Gesetzgebung argumentieren, dass solche Wahrnehmungen am Ende weniger Relevanz besaßen als die Machtkämpfe der Beteiligten.

Anmerkungen:
1 Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 357–380, https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2005_3_1_conze.pdf (06.05.2024); später ders., Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009.
2 Wolfgang Sofsky, Das Prinzip Sicherheit, Frankfurt am Main 2005, S. 147, S. 155.