N. Rabuza: Verräumlichte Erinnerung

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Titel
Verräumlichte Erinnerung. Die Grenzen der Darstellung nationalsozialistischer Gewalt am Modell der KZ-Gedenkstätte Dachau


Autor(en)
Rabuza, Nina
Erschienen
Frankfurt am Main 2023: Campus Verlag
Anzahl Seiten
299 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Trottier, Gedenkstätte Bergen-Belsen, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

Gedenkstätten erfüllen verschiedene Funktionen: Als Bildungs- und Begegnungsorte, Forschungszentren, Gedenk- und Erinnerungsorte, Dokumentations- und Archivstätten, Veranstaltungsorte, archäologische Gebiete, digitale Lernorte, (erinnerungs-)politische Akteurinnen oder Publikationsstätten sind sie vielseitig und interdisziplinär tätig. Dieses breite Aufgabenfeld ist geprägt von gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Bildern und Entwicklungen sowie das Ergebnis ebenso zahlreicher Aushandlungsprozesse. In ihrer Studie „Verräumlichte Erinnerung. Die Grenzen der Darstellung nationalsozialistischer Gewalt am Modell der KZ-Gedenkstätte Dachau“ untersucht Nina Rabuza verschiedene Darstellungsmodi nationalsozialistischer Gewalt entlang ausgewählter materieller Gestaltungen der Gedenkstätte. Das Buch basiert auf einer an der Freien Universität Berlin im Fach Philosophie entstandenen Dissertation.

Über den Aspekt von Erinnerung und Zeitzeugenschaft nähert sich die Autorin Theorien des sozialen beziehungsweise kollektiven Gedächtnisses. Ausgehend von Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“ und Primo Levis „Ist das ein Mensch?“ widmet sich die Studie der Problematik intersubjektiver Vermittlung leiblichen Erfahrungswissens als einer Dimension des Zivilisationsbruchs, die auch die Gedenkstättenarbeit bis heute prägt. In einer nicht nur gut geschriebenen, sondern auch inhaltlich prägnanten Rekonstruktion problematisiert Rabuza Theorien des „kollektiven Gedächtnisses“ im Hinblick auf Widersprüche in den Entstehungsbedingungen eines kollektiven Gedächtnisses, transgenerationale Erinnerungen und ihr Verhältnis zum historischen Gegenstand selbst.

Methodologisch orientiert sich die Studie an der Geschichtsphilosophie Walter Benjamins, die Rabuza mithilfe der „Negativen Dialektik“ Adornos „negativ-dialektisch wenden“ möchte (S. 65). Daraus ergibt sich ein konstellatorisches Darstellungsverfahren, das vor allem von Rekonstruktion, Differenzierung und Montage statt induktiven (Soll-)Aussagen gekennzeichnet ist. Ausgehend vom Modell-Begriff der „Negativen Dialektik“ hat die Studie den Anspruch, allgemeine Entwicklungen und Perspektiven materieller Erinnerungskultur am konkreten Gegenstand aufzuzeigen. Die philosophische Begriffsarbeit verbindet dabei eine gesellschaftskritische Analyse der KZ-Gedenkstätte Dachau mit einer Betrachtung der einschlägigen Modi und Phänomene der bundes- und gesamtdeutschen Erinnerungskultur. Die materielle Substanz dient als Ausgangspunkt immanenter Kritik und wird mit den sie umgebenden Diskussionsständen in Beziehung gesetzt.

Während der erste Teil des Buchs sich mit den Möglichkeiten der Darstellbarkeit und Dimensionen eines Gedächtnisses „nach Auschwitz“ auseinandersetzt, spiegeln die Untersuchungen der Orte selbst jeweils unterschiedliche Zeitschichten der Gestaltung und damit verschiedene Bilder von Erinnerungskultur wider. Insgesamt drei ausgewählte Orte der KZ-Gedenkstätte Dachau – die ehemaligen Verbrennungsanlagen, das einstige Schutzhaftlager sowie der nahe gelegene Schießplatz in Hebertshausen – werden mit den jeweiligen Zeitebenen des Erinnerns in Verbindung gesetzt, die ihre physische Gestaltung prägten. Im zweiten Teil geht es um die Jahre 1945–1955 und die „Transformation zum Landschaftspark“, im dritten Teil um die Phase 1955–1968 mit den religiös dominierten Überformungen des ehemaligen Lagergeländes und im vierten Teil um die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte 1996–2014 mit ihrer stärkeren Offenlegung von historischen Relikten und Spuren.

Die Gestaltung der früheren Verbrennungsanlagen während der 1950er-Jahre setzt Rabuza in den Kontext der Gestaltung von Kriegsgräberstätten. Im Vordergrund stand die Schaffung eines Friedhofsgeländes, das ein würdevolles Totengedenken ermöglichen sollte. Diskutiert wird dies mithilfe von Adornos Begriff des „Naturschönen“, den der Philosoph während der 1960er-Jahre in seiner posthum veröffentlichten „Ästhetischen Theorie“ entwickelte. Erinnerungspolitische Diskussionen der 1960er- bis 1980er- und 1980er- bis 1990er-Jahre finden sich dann in der Analyse zur Gestaltung des ehemaligen Schutzhaftlagers und des Schießplatzes in Hebertshausen wieder. Hervorzuheben ist an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen personaler und materialer Authentizität, die eine Verlagerung des Schwerpunkts in der Gedenkkultur von normativen Dimensionen der Zeitzeugenschaft hin zu einem geschichtswissenschaftlichen Anspruch markiert.

Der Begriff „Authentizität“ folgt dabei unterschiedlichen Strategien der Sinngebung und Vermittlung.1 Er verändert sich mit den Modi der Darstellung im Laufe der Zeit und wird von Rabuza in enger Verbindung mit dem Begriff des „Wahrhaftigen“ diskutiert: Während es auf einer Erfahrungsebene nach 1945 zentral gewesen sei, „einen wahrhaftigen Ausdruck für das Leiden zu schaffen“ (S. 220), finde sich in späteren Phasen eine Verlagerung in eine materiale Authentizität mit objektivem Wahrhaftigkeitsanspruch. Dies ist naheliegend, wenn man die Wendung vom Mahnort zu Darstellungen geschichtswissenschaftlicher Erkenntnismodi skizzieren möchte. Beide Perspektiven bewegen sich dabei im Sinne Adornos in einem Spannungsverhältnis zwischen ästhetischer Unmöglichkeit und der Notwendigkeit des Versuchs der Darstellung. Gerade hier zeigt sich aber auch ein Problem der analytischen Trennung beider Perspektiven, wie es etwa in der Trennung zwischen epistemischen Kategorien und normativen Implikationen als zentralen Ebenen von Zeitzeugenschaft deutlich wird – eine Entgegensetzung, die mit dem breiten Bildungsanspruch von Gedenkstätten in ihrer heutigen Vielschichtigkeit abzugleichen wäre. So bleiben hier beispielsweise multidirektionale Erzählmodi als Standard im Angebot zeitgenössischer Gedenkstätten nicht nur in ihrer didaktischen Funktion, sondern vor allem in ihrer epistemischen Dimension unbeachtet. Auch die klassischen Herausforderungen von Oral History – etwa des „Sich-Falsch-Erinnerns“ – werden in der Studie als Begründung für die Unterscheidung zwischen Wahrhaftigkeit (Epistemologie) und Authentizität (Normenethik) angeführt, jedoch kaum als eigenständige Phänomene innerhalb dieses Spannungsfelds diskutiert. Statt diese Widersprüche im Hinblick auf ihre methodologische Bedeutung für die historische Forschung einerseits und ihre didaktische Bedeutung für die Bildungsarbeit andererseits zu reflektieren, liegt der Fokus hier auf dem Verhältnis zwischen Zeitzeug:innen und Zuhörer:innen. Letzteren müsse es offenbleiben, ob sie bereit seien, „sich dem Zeugnis und der Zeug:in zuzuwenden“ (S. 28). An dieser Stelle wird zudem im Hinblick auf die Besucher:innenperspektive eine deutliche Chance vergeben; das Publikum von Gedenkstätten erscheint auch im weiteren Verlauf der Argumentation als mehr oder weniger passiv. Dies ergibt sich aus der Reduktion der Funktionen von Gedenkstätten als Orten des faktischen Beweises sowie der Darstellung und Vermittlung leiblichen Erfahrungswissens in der physischen Gestaltung des jeweiligen Ortes.

Interessant ist die Rekonstruktion des Naturschönen vor dem Hintergrund des Widerspruchs zwischen Landschaftsgestaltung und historischem Gegenstand. Die Studie fokussiert sich hier vor allem auf den Aspekt der Verdrängung des Todes aus der Öffentlichkeit, den die Autorin in der Überdeckung jener Zeitschicht bemerkt, von der die Gedenkstätte erzählen möchte. Diese Interpretation liegt nahe, vernachlässigt jedoch, dass es sich beim Naturschönen in Adornos „Ästhetischer Theorie“ nicht nur um eine Konstruktion handelt, in der sich die Naturbeherrschung selbst widerspiegelt, sondern dass sich darin auch die Sehnsucht gegen ihre Unumkehrbarkeit artikuliert. Wenn das Naturschöne ebenso „sistierte Geschichte, innehaltendes Werden“ ist2, lohnt sich ein genauerer Blick auf die „Kluft zwischen den durch die Gestaltung erzeugten Bedeutungen und dem Wissen darüber, was dort geschehen ist“ (S. 267). Die Diskrepanz zwischen der physischen Umsetzung des Gedenkorts in den 1950er-Jahren und den Verbrechen selbst könnte entgegen der Interpretation der Autorin an dieser Stelle nicht nur als gestalterischer Mangel gewertet, sondern auch als Ort deutlich werden, in dem das Spannungsverhältnis innerhalb verschiedener Darstellungsmodi nationalsozialistischer Gewalt zutage tritt. Die Anerkennung einer Diskrepanz zwischen der Notwendigkeit des Versuchs und der Unmöglichkeit der Darstellung könnte so über die Analyse der Studie hinaus auch eine Perspektive zeitgemäßer Gedenkstättenarbeit sein. Wenn es, mit Benjamin gesprochen, gerade nicht um das Prinzip der „Einfühlung“ geht, sondern um die Wahrnehmung der Distanz zwischen Jetzt und Gewesenem3, stehen Gedenkstätten nicht unmittelbar vor der Herausforderung, jene Lücke zu schließen, sondern ein Angebot zur Reflexion auf sie zu schaffen. Gedenkstätten sind „keine Medizin gegen die Gewalt, noch ewige Hüterinnen der Spuren der Vergangenheit“ (S. 280), wie Rabuza treffend schreibt. Sie sind aber auch nicht nur „Zeugnisse des diskontinuierlichen Gedächtnisses“ (ebd.) und damit der Herausforderung, entsprechende Darstellungsmodi für nationalsozialistische Gewaltverbrechen und insbesondere die Shoah zu finden. Vielmehr könnten und müssten sie zugleich Orte sein, die unter Anerkennung dieser Distanz und des „Bedürfnisses im Denken“4 als Orte sozialer Teilhabe gerade durch ihre Gestaltung zum reflexiven Austausch am verdichteten Ort beitragen.

Nina Rabuza präsentiert mit ihrer Studie am „Modell“ Dachaus ein gut strukturiertes Diskussionsangebot zur kritischen Einordnung verschiedener Darstellungsmodi von KZ-Gedenkstätten in ihrer historischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Dieser vielversprechende Ansatz lädt dazu ein, die verschiedenen Funktionen von Gedenkstätten in einem weiteren, sich in der Darstellung und physischen Vermittlung gegenseitig beeinflussenden Kontext zu betrachten. Gleichzeitig bleibt das Verhältnis zwischen „Beispiel“ und „Modell“ dort zu klären, wo Besonderheiten einer bestimmten Ortsgeschichte zur erkenntnistheoretischen Prämisse für andere Orte erhoben werden, deren materielle Wirklichkeit sich nicht mit jenen Spezifika zu decken scheint und die sich in ihrer Vielfältigkeit nicht nur strukturell, sondern auch thematisch stark voneinander unterscheiden. Dieser Punkt verweist jedoch auf die Bedeutung des Themas, dem sich die Studie widmet, und schmälert weder ihre Leistung noch ihre Qualität. Vielmehr bieten sich an dieser Stelle unterschiedlichste Anknüpfungen, die darauf drängen, eine Arbeit am Gegenstand fortzusetzen, die die Angebote und weiteren materiellen Ausgestaltungen der Orte mit verschiedenen Zeit- und Erinnerungsschichten, wissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Diskussionen in Verbindung bringt.

Anmerkungen:
1 Siehe als Überblick etwa Achim Saupe, Authentizität. Version: 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.08.2015, https://docupedia.de/zg/saupe_authentizitaet_v3_de_2015 (24.03.2024).
2 Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ästhetische Theorie [1970], hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, 21. Aufl., Frankfurt am Main 2021, S. 111.
3 Vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte [1940], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2019, S. 691–704, hier S. 696.
4 Vgl. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 6: Negative Dialektik [1966], hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, 8. Aufl., Frankfurt am Main 2018, S. 399f.