H.-F. Hertz: Evangelische Kirchen im Nationalsozialismus

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Titel
Evangelische Kirchen im Nationalsozialismus. Kollektivbiografische Untersuchung der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft


Autor(en)
Hertz, Helge-Fabien
Erschienen
Anzahl Seiten
1.778 S.
Preis
€ 299,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Gailus, Technische Universität Berlin

Mehrere regionalhistorische Untersuchungen zu protestantischen Milieus im „Dritten Reich“ haben in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten wichtige Erkenntnisse über die Durchdringung der evangelischen Kirchen mit nationalsozialistischer Ideologie und entsprechenden Verhaltensweisen erbracht. Die Resultate dieser Untersuchungen waren stets die gleichen oder zumindest doch sehr ähnlich: Die Nazifizierung des konfessionellen Milieus erwies sich als außerordentlich hoch. Jedenfalls war sie viel weitreichender, als die herkömmliche kirchenhistorische Literatur unter dem Leitbegriff „Kirchenkampf“ – mit besonderer Herausstellung der Bekennenden Kirche (BK) als widerständiger Regimeopposition – bis dahin suggerierte.

In diese jüngere Forschungstradition reiht sich jetzt die gewichtige Kieler geschichtswissenschaftliche Dissertation (2021) von Helge-Fabien Hertz ein. Betreut wurde die Arbeit von Rainer Hering (Landesarchiv Schleswig-Holstein), Peter Graeff und Manfred Hanisch (beide Universität zu Kiel). Es handelt sich um eine gruppenbiografische Studie zu sämtlichen 729 Pfarrern, die kurz vor und während der NS-Zeit (1930–1945) in der schleswig-holsteinischen Landeskirche tätig waren. Die Untersuchung basiert auf breitester Quellengrundlage: Ausgewertet wurden die Personalakten der Geistlichen, herangezogen wurden Predigten und Konzepte zum Konfirmandenunterricht, Entnazifizierungsakten, ferner die einschlägigen landeskirchlichen Archivakten zum „Kirchenkampf“, Unterlagen zur NSDAP-Mitgliedschaft im Berliner Bundesarchiv, schließlich eine Fülle zeitgenössischer Vorträge, Artikel, Briefe, Tagebücher et cetera. Zum Einsatz kommt ein ausgefeiltes Instrumentarium sozialwissenschaftlicher Methoden, um die exorbitante Datenmenge der großen Personengruppe wissenschaftlich zu operationalisieren (Quantifizierung von „Einstellungen“ und „Handlungen“ anhand von Indikatoren) und in einer Vielzahl von Statistiken, Diagrammen et cetera zu präsentieren. Es ist nicht immer ganz leicht, das sei hier eingestanden, bei der extremen Komplexität der Gliederung des Gesamtwerks in „Teile“, „Abschnitte“, „Kapitel“ usw. den Durchblick auf das Ganze zu behalten.

Band 1 (392 Seiten) bringt vorab in Thesen formulierte Resultate, ferner theoretische und methodologische Grundlagen sowie als repräsentativen Querschnitt der gesamten Untersuchungsgruppe zehn prototypische NS-Biogramme, die das gesamte Spektrum des Pfarrerverhaltens aufzeigen – angefangen bei Extremfällen fanatischer NS-Aktivisten bis hin zum politisch widerständigen Bekenntnispfarrer. Band 2 präsentiert Ausprägungen von „NS-Konformität“ in der Pfarrergruppe und ist mit seinen gut 900 Seiten nicht zufällig der umfangreichste der drei Teilbände. Der im Vergleich hierzu schmalere Band 3 (circa 450 S.) bringt Befunde von „NS-Nonkonformität“ unter den Geistlichen. Eine derartige Performance kam signifikant seltener vor. Wollte man die Inhalte der drei Bände nach dem jeweiligen Grad der dargestellten NS-Farbtönungen unterscheiden, so haben wir die Wahl zwischen „braun“ (Band 1), „tiefbraun“ (Band 2) und „hellbraun“ mit einigen weißen Flecken (Band 3).

Aus naheliegenden Gründen lässt sich dieses umfangreiche, sozialwissenschaftlich hochkomplexe Werk nicht in einem Zug durchlesen. Erzählende Geschichtsschreibung ist das nicht. Vielmehr lässt sich die Studie als Handbuch über eine exemplarische Berufsstandsanalyse von Pfarrern im „Dritten Reich“ verstehen. Dabei können einleitende Abschnitte in Band 1 zugleich als eine Vorwegnahme wesentlicher Resultate gelesen werden. Die vorangestellten sechs Thesen (S. 4–30) bieten eine „inhaltliche Quintessenz“ des Ganzen. So lautet These 2: „Die Pastorenschaft des ‚Dritten Reiches’ [in Schleswig-Holstein] war vorrangig durch NS-Kollaboration und NS-Zuneigung, durch NS-konforme Handlungs- und Einstellungsweisen gekennzeichnet.“ (S. 5) Diese These wird auf den über 900 Seiten von Band 2 nach allen Regeln sozialwissenschaftlicher Analyse und Darstellungskunst mit präzisen absoluten und relativen Größenordnungen einzelner Subgruppen belegt. Das verbreitete „Kirchenkampf-Narrativ“ der herkömmlichen Kirchenhistorie sei zwar wichtig, genüge aber nicht, um die vielfältigen Befunde von Nähe und Distanz in der Beziehung zwischen Protestantismus und Nationalsozialismus komplett zu erfassen. Das wird vor allem am Beispiel der Pfarreroption für die BK verdeutlicht: „Die ‚Bekennende Kirche’ war nicht nur keine Widerstandsgruppierung. Ihre Hauptmerkmale bestanden in NS-Kollaboration, NS-Zuneigung und damit kombiniertem kirchlichen Autonomiebestreben, in der Verbindung von NS-konformen Handlungs- und Einstellungsweisen mit Selbstbehauptungsengagement.“ (These 4, S. 15)

Ebenfalls in Band 1 findet sich eine Analyse des Spektrums von Gruppenverhalten anhand von zehn möglichen „NS-Positionierungsformen“ (POS 1–10). Die hier präsentierten Biogramme bilden einen gut lesbaren Querschnitt durch sämtliche Pfarreroptionen am Beispiel ausgewählter Prototypen (S. 225–311). Wer das liest, weiß bereits einigermaßen Bescheid über die Performance schleswig-holsteinischer Pfarrer der Hitlerzeit: angefangen bei fanatischen Nazi-Pfarrern wie Ernst Szymanowski oder Johann Peperkorn (beide „Deutschkirche“) über deutschchristliche Pfarrer (27,1 Prozent der Gesamtgruppe mit N = 665), kirchenpolitisch neutrale Geistliche (26,5 Prozent) und Bekenntnispfarrer, die mit 45 Prozent (erstaunlicherweise) die größte kirchenpolitische Teilgruppe innerhalb des Samples ausmachten. Unter den „Bekennern“ befanden sich einige wenige Ausnahmepfarrer wie Friedrich Slotty, denen das sehr seltene Attribut „NS-Widerstand“ zugeschrieben werden kann.

Der dunkelbraun gefärbte Band 2 versammelt sämtliche Ausprägungen von „NS-Konformität“ unter den Pfarrern: Mitgliedschaften in der NSDAP oder bei den sehr NS-affinen Anhängern der Deutschen Christen (DC) sowie der völkisch-christlichen Deutschkirche, des Weiteren positive Bezugnahmen zum Nationalsozialismus und seiner Ideologie und Formen praktischen NS-Handelns innerhalb wie außerhalb des Kirchenraums. So werden auf 45 Seiten Belege über „Mündliche Lobpreisungen Hitlers und Einschwörung auf den NS-Staat“ vor Augen geführt. Genau 237 Pfarrer aktualisierten diesen Handlungstyp. BK-Pfarrer taten dies in Predigten und Katechesen nahezu gleich häufig wie ihre DC-Kollegen. Propst Peter Schütt (DC) zum Beispiel pries Hitler in seiner Predigt am 24. Juli 1940 nach der Besetzung Frankreichs: „So wie er geredet hat [in der Reichstagssitzung vom 19.7.1940] so konnte nur ein Sieger sprechen von vornehmster Gesinnung. [...] Er hat das Gebot, das unser Heiland in der Bergpredigt gegeben hat, in die Tat umgesetzt.“ (S. 604) Und der (spätere) BK-Pfarrer Gustav Emersleben wusste in seiner Prüfungspredigt vom 2. September 1933 über „rechte Nachfolge“ (Joh. I, 43-51): Menschen zu allen Zeiten hätten das Bedürfnis gehabt, geführt zu werden. Sie erwarteten Hilfe aus Not und Elend. Wo ein Führer aus Not und Elend auftrete, da sei Gelegenheit, rechte Nachfolge zu finden. „Wie das alles im Einzelnen sich abspielt, das hat in den letzten Jahren kein Volk besser erlebt, als wir Deutschen. Wir waren und sind [...] ein geknechtet Volk; es sind bestimmt wenige gewesen, die sich nicht nach einem wirklichen Führer gesehnt haben. Wir dürfen wohl sagen, dass er uns in unserm Kanzler geschenkt worden ist.“ (S. 611)

Die Fülle an Belegen zu einzelnen Handlungstypen, die nicht nur aufgezählt, sondern auch qualitativ und quantitativ bewertet werden, ist wahrhaft erdrückend. Rubriken sind unter anderem: Verurteilung der Weimarer Republik, Volksgemeinschaft und Führerprinzip, theologischer Antijudaismus und christlicher Antisemitismus. Nachgewiesen wird ferner die Häufigkeit der Übernahme von NS-Symbolen im kirchlichen Bereich, die Praxis der Ausstellung von „Ariernachweisen“ aus den Kirchenbüchern, die Anwendung des Hitlergrußes, die innerkirchlichen Entnazifizierungsmaßnahmen seit 1945, die in Schleswig-Holstein wie anderswo ausgesprochen milde ausfielen. Alles in allem ist dieser stark braun gefärbte Band 2 harter Lesestoff und ein überwältigender Beweis für das erschreckende Ausmaß, in dem völkisches sowie nationalsozialistisches Gedankengut und diverse Formen von NS-Praxis in das Innere einer mittelgroßen Landeskirche eindringen konnten. Das Besondere dieser Studie ist, dass dieses hohe Ausmaß nationalsozialistischer Durchdringung mit den Mitteln empirischer Sozialforschung, exakter als dies bisher geschah, gemessen werden kann. In der seit 1867 zu Preußen gehörenden Provinz zwischen Nordsee und Ostsee lebten um 1933 bei 1,6 Millionen Einwohnern circa 92 Prozent evangelisch-lutherische Christen in 466 Kirchengemeinden. Dem Nachwuchswissenschaftler ist hoch anzurechnen, dass er seine oft erschreckenden empirischen Befunde durchgängig in einer betont nüchtern-sachlichen, sozialwissenschaftlich disziplinierten Sprache vorträgt.

Abschließend (Band 3) werden Formen innerkirchlicher wie politischer NS-Nonkonformität thematisiert. Hier kommen vorwiegend „Kirchenkampf“-Konflikte im engeren Sinn zur Darstellung, vor allem Auseinandersetzungen zwischen DC und BK. Pointiert resümiert der Verfasser diesen „Kirchenkampf“ im engeren Sinn: Während sich DC-Pfarrer fast ohne Ausnahme NS-konform betätigten, wiesen die BK-Theologen ein breites Spektrum an Positionierungen auf. „Allerdings dominierten auch dort NS-Kollaboration und NS-Zuneigung, oftmals verbunden mit innerkirchlichem Autonomiebestreben (‚Kirchenkampf’) – kein Widerspruch: Der ‚Kirchenkampf’ der BK-Pastoren gegen die DC und deren Bestrebungen zur NS-Transformation des Christentums ging vielfach mit der Bejahung des NS(-Staates) und handfestem NS-Engagement einher. Zwar waren die sehr wenigen widerständigen Geistlichen durchweg BK-Mitglied, blieben jedoch auch innerhalb der BK unliebsame Ausnahme. Radikale Formen des NS-Aktivismus blieben unter BKlern selten – ebenso wie politischer Dissens. Auch für die BK insgesamt [war] eher eine braune Weste mit Schattierungen und weißen Flecken, als eine weiße Weste mit braunen Flecken [kennzeichnend].“ (S. 1697)

Fazit: Dieses Werk ist zweifellos ein bedeutender Beitrag zum Themenkomplex „Protestantismus und Nationalsozialismus“ und darüber hinaus auch zur NS-Forschung insgesamt. Man wird kaum eine ähnlich differenzierte gruppenbiografische Berufsstandsanalyse zum „Dritten Reich“ finden. Zugleich destruiert der Verfasser mit seinem „ganzheitlichen“ empirischen Forschungsansatz langlebige „Kirchenkampf“-Legenden, besonders im Blick auf die wissenschaftliche Bewertung der Performance der Bekennenden Kirche. Hier hatte in der kirchennahen Aufarbeitung der Nachkriegszeit (zumeist durch Erinnerungsberichte von Theologen in BK-Tradition und durch Kirchenhistoriker:innen an Evangelischen Fakultäten) fast immer eine interessebedingte Schönfärberei stattgefunden. Nicht von ungefähr ist Hertz mit seiner Untersuchung in konservativen Kirchenkreisen der heutigen „Nordkirche“ auf heftigen „Widerstand“ gestoßen.1 Was die kirchenpolitisch gemäßigte, hochgradig regimeangepasste schleswig-holsteinische BK betrifft, kann von Widerstand gegen das NS-Regime fast überhaupt nicht die Rede sein. Vielmehr spielten Formen von Kollaboration und Zustimmung eine tragende Rolle.

Eine vollständig integrierte konfessionsgeschichtliche Untersuchung einer protestantischen Regionalkultur ist das Werk indessen nicht. Wir erfahren wenig über Befindlichkeiten und Partizipationsformen des gewöhnlichen Kirchenvolks in den 466 Kirchengemeinden, die zur Beurteilung einer konfessionellen Regionalkultur unbedingt dazu gehören. Allerdings erscheint plausibel, dass das Denken und Verhalten der schleswig-holsteinischen Pfarrer massiv auf die mentalen Prägungen der Kirchenregion als Ganze verweist: eine stark an das NS-Regime angepasste, in vielen Aspekten sogar nazifizierte Kirchenregion der Hitlerzeit. Die evangelischen Kirchen im Norden, so resümiert der Verfasser, seien primär eine die NS-Herrschaft konsolidierende und sie mittragende gesellschaftliche Säule im „Dritten Reich“ gewesen.

Abschließender Wunsch des Rezensenten: Der Verfasser möge auf der hier ausgebreiteten empirischen Grundlage eine stark komprimierte, lesefreundliche „Volksausgabe“ von 300 Seiten (zu einem erschwinglichen Preis) schreiben. Mehr Erzählung also, und weniger Zahlen – damit die wichtigsten Resultate seiner Forschung auch jenseits akademischer Spezialistenkreise zur Kenntnis genommen werden können.

Anmerkung:
1 Zu diesem heftigen „Widerstand“ zählen: Andreas Müller, Historiografisch problematisch. Eine Kritik der Studie von Helge-Fabien Hertz zur NS-Vergangenheit von Pfarrern in Schleswig-Holstein, in: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft 23,8, August 2022; ferner die Rezension von Johannes Schilling in Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 148 (2023), S. 319–324.

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