Cover
Titel
Die V-Leute des Gestapo-Kommissars Sattler.


Autor(en)
Grundmann, Siegfried
Erschienen
Anzahl Seiten
341 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Eumann, NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Am Anfang der Arbeit an einer geschichtswissenschaftlichen Monografie steht zumeist eine These. Durch ausgiebige Fachlektüre des einschlägig mit dem Themenkreis vertrauten Forschers wird diese zu einem Konzept ausgebaut, zu dem dann die passenden Quellenbestände gesucht werden.

Ein Gegenstück hierzu bildet der unverhoffte Aktenfund, oft durch einen Außenseiter der historischen Zunft, der die entsprechende Literatur zum Thema aber nur zum Teil überschaut. Mit letzterem haben wir es im Fall des vorliegenden Buches offensichtlich zu tun.

Siegfried Grundmann, Jahrgang 1938, war bis 1990 Professor für Soziologie an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der DDR. Seit etwa zehn Jahren befasst er sich zumeist auf der Basis vorher unerschlossener Quellenbestände mit sehr speziellen Bereichen geheimdienstlicher Arbeit während der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus. Nachdem zuletzt der Sagen umwobene Geheimapparat der KPD im Zentrum zweier Werke stand, ist es nun ein besonderer Aspekt der Überwachung oppositioneller Arbeit durch die Gestapo: der Einsatz von Vertrauensleuten durch das Marxismus-Dezernat des Geheimen Staatspolizeiamtes.

Die Erforschung der Arbeitsweise der Gestapo stößt normalerweise schnell an ihre Grenzen, wenn es um die V-Leute geht. Wer nur über die bei den Anklagebehörden gesammelten Gestapo-Dokumente verfügt, kann nur mit extrem großem Aufwand Schneisen in den Dschungel der Unkenntnis schlagen. Aber selbst wenn wir, wie im Fall der Stapoleitstelle Düsseldorf, in größerem Maße auf interne Dokumente zugreifen können, lassen sich, wie der vom Autor völlig ignorierte Wilhelm Mensing gezeigt hat, die Zuträger nur schwer ermitteln. Siegfried Grundmann hatte das Glück, im Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR umfangreiche Protokolle der Vernehmungen zu finden, denen der Leiter des Marxismus-Dezernats des Gestapa, Bruno Sattler, Anfang der 1950er-Jahre durch das MfS unterzogen worden ist. Dieser Quellenbestand bildet die Grundlage des zu besprechenden Werks.

Auch wenn man bei der Erarbeitung einer Monografie von einem Quellenfund und nicht von einem theoretischen Konzept ausgeht, gibt es immer noch genug strategische Optionen für die Darstellung. Grundmann hat sich dafür entschieden, nach einer sehr knappen Einführung (40 Seiten) ausführlich die Vertrauensleute des Marxismus-Dezernats in der Reihenfolge ihrer Decknamen „S1“ bis „S 27“ zu porträtieren (200 Seiten). Damit verbaut er sich von vornherein die Möglichkeit einer systematischen, problemorientierten Herangehensweise. Auch durch die dürre elfseitige „Schlussbilanz“, in der mit verallgemeinernder Absicht ein paar strukturelle Aspekte angesprochen werden, kann diese meines Erachtens fehlgehende Entscheidung nicht mehr wettgemacht werden.

Leider zeigt schon die Einführung in die V-Mann-Thematik, dass der Autor über keine sonderlich gründliche Kenntnis der historischen Szenerie verfügt, in der die von ihm behandelten Personen tätig waren. Die Institution „V-Mann“ war mitnichten die Notlösung als „partieller Ersatz für Folter“ (S. 278), auf die die Gestapo 1935 verfallen sein soll, nachdem Teile der Justiz sich kritisch gegenüber Geständnissen gezeigt hatten, die als Folge von Misshandlungen durch die Gestapo zustande gekommen waren. Das hätte sie auch nicht sein können, da die Vertrauensleute grundsätzlich nicht vor Gericht als Zeugen auftraten. Für das Marxismus-Dezernat des Gestapa, das sich vorrangig mit der Beobachtung der bis 1933 staatstragenden SPD im Inland und in der Emigration befasste, war zum Teil bloß nachzuholen, was für die Beobachtung der KPD durch die Politische Polizei der Weimarer Republik schon seit langem üblich war: die Einschleusung und die Anwerbung von Spitzeln. Die Bedeutung der klassischen polizeilichen Ermittlungsarbeit für die Aufrollung des Widerstands durch die Gestapo ignoriert Grundmann vollkommen.

Die biografischen Abschnitte über die 27 Vertrauensleute lassen sich am ehesten als Collagen von oft Seiten langen Zitaten aus Sattlers Berichten aus den Jahren 1934 bis 1939 und aus den Protokollen seiner Vernehmung durch das MfS beschreiben. Der Autor, der auf Grund seiner besonderen Kenntnisse fähig sein sollte, Relevantes von Überflüssigem zu trennen, reduziert sich dabei selbst auf die Funktion des Texters von Überleitungen zwischen zwei Zitaten. Von einer Komplexitätsreduktion als wissenschaftlicher Leistung kann hier keine Rede mehr sein.

Wenn es vor allem darum ging, die Sichtweisen der Gestapo aufzuzeigen, die Art und Weise, wie die V-Mann-Führer mit ihren Zuträgern verbunden waren und wie sie über sie kommunizierten, böte sich eine solche Vorgehensweise in Grenzen durchaus an. Aber darum geht es Grundmann nicht. Anscheinend hält er Sattlers Einschätzungen – ohne sie einer ausführlichen Quellenkritik zu unterziehen – für so glaubwürdig, dass er sie anstelle eigener Formulierungen einfach übernimmt. Die Aussagen der V-Männer hingegen, an deren moralischer Verkommenheit der Autor keinen Zweifel lässt, stellt der Verfasser unter den Generalverdacht, dass ihre Urheber es aus materiellen Interessen nicht immer ganz genau mit der Wahrheit genommen haben. Gegenüber dem Vorgehen Sattlers bleibt Grundmann währenddessen moralisch indifferent. Dies führt zu der absurden Situation, dass der Nazi-Henkersknecht Sattler besser wegkommt, als diejenigen, die ihm nur zugearbeitet haben.

Neben den ausführlichen Zitaten aus Dokumenten über die Spitzel kommen ihre eigenen Berichte viel zu kurz. Ein Buch über V-Mann-Arbeit, in dem aber das eigentliche Produkt der Spitzeltätigkeit fast überhaupt nicht behandelt wird, ist ein Unding. Wir können uns daher, was die Qualität der Spitzelberichte angeht, wie Grundmann nur auf die Einschätzungen Sattlers verlassen – oder eben nicht! Ob Spitzelberichte zu Verhaftungen führten, wie die Beschuldigten in ihren Vernehmungen auf die ihnen vorgehaltenen Vorwürfe der V-Leute reagiert haben, in welchen Fällen die V-Mann-Arbeit zu Verurteilungen geführt hat – all das interessiert Grundmann nicht.

Man muss kein Verständnis für Gestapo-Spitzel haben, um eine Untersuchung ihrer Motive und der Umstände, die sie zum Verrat führten und unter denen sie als Verräter lebten, ihr aufreibendes Hin und Her zwischen zwei Welten, für relevant zu halten. Auch dies interessiert Grundmann nicht. Allerdings hätte er dazu intensiv nach weiteren Quellen suchen müssen, die die Sichtweise der Spitzel authentisch wiedergeben.

Die von mir ursprünglich erwartete erste ernstzunehmende wissenschaftliche Monografie über die V-Leute der Gestapo ist dieses Buch daher leider nicht. Die vom Autor in der Einleitung entwickelte Absicht, aufzuzeigen, „wer, wie, wo, wann und warum Verrat begangen hat“, seine Intention, die „‚Betriebsgeheimnisse‘ des Geheimen Staatspolizeiamtes Berlin“ aufzudecken (S. 10), können somit nicht als erfüllt betrachtet werden. Es bleibt zu hoffen, dass das wichtige Thema Gestapo-Spitzel irgendwann auf der Basis aller verfügbaren Quellen die Behandlung erfährt, die ihm auf Grund seiner Bedeutung für die Durchsetzung des Nazi-Regimes und für seine Machterhaltung zukommt.

Was kann man nun Positives sagen über dieses Buch? Es bietet eine ungeheure Materialfülle zur Grundlagenforschung über die Gestapo. Wie alle Bücher, die einen ärgern, die man aber trotzdem zu Ende lesen muss, regt auch dieses das Nachdenken über das Thema vielleicht stärker an, als ein Werk, das man gerne liest. Nach 100 Seiten ist aber auch dieser unfreiwillige positive Effekt spätestens aufgebraucht. Die Zeit des Lesers wäre mit einer reinen Quellenedition der Sattler-Protokolle oder einer Studie über die Strukturen der V-Mann-Arbeit auf Grundlage einiger typischer Beispiele sehr viel effizienter genutzt gewesen.

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