R. v. Krosigk: Bürokratiekritik und Bürgerbeteiligung

Titel
Bürger in die Verwaltung!. Bürokratiekritik und Bürgerbeteiligung in Baden. Zur Geschichte moderner Staatlichkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
von Krosigk, Rüdiger
Reihe
1800-2000. Kulturgeschichten der Moderne 2
Anzahl Seiten
262 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Niels Hegewisch, Historisches Institut, Universität Greifswald

In seiner Studie „Bürger in die Verwaltung!“ zeichnet Rüdiger von Krosigk die Geschichte der Bürgerbeteiligung in der badischen Staatsverwaltung des 19. Jahrhunderts nach. Den Schwerpunkt bildet dabei die Untersuchung zweier „blinde[r] Flecken“ (S. 13) der Verwaltungsgeschichtsschreibung: Von Krosigk will zeigen, dass erstens bereits im Vormärz konzeptionelle Alternativen zum bürokratischen Obrigkeitsstaat intensiv diskutiert wurden, und zweitens sich diese Diskussion in den 1860er-Jahren in der institutionellen Implementierung partizipativer Elemente in der badischen Staatsverwaltung niederschlug. Damit wendet sich von Krosigk gegen die von der traditionellen Historiographie für das 19. Jahrhundert präferierte Dichotomie von bürokratischem Anstaltsstaat und demokratischer Selbstverwaltung.1 Zwischen diesen beiden Polen angesiedelte alternative Mischsysteme, so die gewinnbringende Erkenntnis, haben in Theorie und Praxis eine größere Rolle gespielt als bisher angenommen.

Zunächst wendet sich von Krosigk der Konzeptualisierung solcher Mischsysteme in der vormärzlichen Bürokratiekritik zu, die sich an der nachnapoleonischen Neuordnung und Expansion der Verwaltung entzündete. Durch die Analyse staatstheoretischer Quellen wie dem Staats-Lexikon und der Debatten in der badischen Zweiten Kammer arbeitet von Krosigk die Kernpunkte der vormärzlichen Bürokratiekritik heraus: den Ausschluss der Regierten von jeglicher Teilhabe an der Herrschaftsausübung, die überbordende Regulierung des gesellschaftlichen Lebens und die alleinige Verantwortlichkeit der abhängigen Beamten ihren Vorgesetzten gegenüber. Institutionell zielte die vormärzliche Bürokratiekritik vor allem auf die zwischen Innenministerium und Gemeinden stehende mittlere Verwaltungsebene der Kreisregierungen. Hier fand sich reichhaltiges empirisches Material für Bürokratiekritik: Die Kreisregierungen verfügten über zu viel Personal, gängelten die Gemeindeverwaltungen, entschieden über Verwaltungsstreitigkeiten und arbeiteten zu langsam und zu kompliziert. „Die Kreisregierungen galten der liberalen Opposition als Inbegriff einer zentralisierten und bürokratischen Verwaltung.“ (S. 53)

Hieraus ergab sich die zentrale Forderung, dass nicht nur die Kontrolle der Verwaltung tiefer in der Gesellschaft verankert werden müsse, sondern die Gesellschaft auch am Verwaltungshandeln selbst teilhaben solle. „Die Einrichtung eines repräsentativen Beratungs- und Beschlussgremiums […] sollte den Bürgern Einfluss und Kontrolle über die Verwaltung der Angelegenheiten eines Verwaltungsbezirks sichern. Elemente staatlicher Verwaltung und körperschaftlicher Selbstverwaltung sollten miteinander verschränkt werden […].“ (S. 48) Auf diesem Wege, so die Erwartung, könne die bürokratische durch eine „volkstümliche“ Verwaltung ersetzt werden, die sich durch Mündlichkeit statt Schriftlichkeit, Einfachheit statt Kompliziertheit, Ermessensspielräume statt hierarchischer Abhängigkeit sowie durch Bürgerbeteiligung und Öffentlichkeit auszeichne. Es ist ein Verdienst der Studie, dass von Krosigk zu bedenken gibt, dass Bürokratiekritik im Vormärz keine exklusiv liberale Angelegenheit war, sondern durchaus auch in konservativen Kreisen und sogar innerhalb der Verwaltung selbst geübt wurde. „Allerdings richtete sich die Kritik der Beamten […] vor allem gegen ihre eigene Stellung und Funktion als Beamte innerhalb der Verwaltungshierarchie“ (S. 74), die zumeist durch strenge Kontrollen und geringe Kompetenzen für eigenverantwortliches und selbstständiges Handeln gekennzeichnet war.

Die vormärzliche Bürokratiekritik, so resümiert von Krosigk, verweist auf zweierlei: Zunächst macht sie das Vertrauens- und Legitimationsdefizit der badischen Verwaltung augenfällig. Zugleich eröffnet sie die Perspektive, dass dem nur im Wege partizipativ reformierter Verwaltungsverfahren begegnet werden konnte.

Angesichts ausbleibender Reformen radikalisierte sich am Vorabend der Revolution von 1848/49 die Bürokratiekritik. Forderten die Liberalen nach wie vor Elemente der Bürgerbeteiligung in der Verwaltung, wollte die demokratische Opposition das Verwaltungssystem insgesamt abschaffen. Obwohl gescheitert, bereitete die Revolution von 1848/49 den Weg zur institutionellen Implementierung der vormärzlichen Bürokratiekritik. So weist von Krosigk nach, dass mit der Niederlage der revolutionären Bewegung die Bürokratiekritik keineswegs verstummte. Die Legitimations- und Vertrauenskrise der Verwaltung hielt an. „Die Ereignisse von 1848/49 haben die Grenze der politischen Integrationskraft und Legitimation des Staatswesens vor Augen geführt. Es war nicht nur den Liberalen, sondern auch den konservativen Kräften klar, dass es ohne weitreichende Reformen nicht ging.“ (S. 129)

Dessen ungeachtet sollte es bis in die 1860er-Jahre dauern, ehe eine umfassende Verwaltungsreform zur Implementierung „volkstümlicher“ Elemente in Angriff genommen wurde. Bedeutendster Bestandteil der Verwaltungsreform von 1863/64 war die Institutionalisierung von Bürgerbeteiligung an der Verwaltung auf der mittleren Ebene der Bezirksverwaltung. Die in den neu geschaffenen Bezirksräten zusammentretenden Laienbeamten wurden als Informanten, Ratgeber und Sachverständige in die Staatsverwaltung eingebunden. Darüber hinaus übten sie in Polizeiangelegenheiten Amtsautorität gegenüber ihren Mitbürgern aus. Regierung und Staatsverwaltung ging es bei der Einrichtung der Bezirksräte nicht allein um Bürgerbeteiligung, sondern auch um die Integration der Verwaltung in ihre Umwelt. „Die staatliche Verwaltung sollte eine neue Vertrauens- und Legitimationsgrundlage bekommen.“ (S. 138) Mit der Zuständigkeit des Bezirksrats für die erstinstanzliche Verwaltungsrechtspflege korrespondierte die kontinuierlich ausgebaute Implementierung von Mündlichkeit und Öffentlichkeit im verwaltungsrechtlichen Verfahren – eine weitere zentrale Forderung der vormärzlichen Bürokratiekritik. Der Bürger war nun nicht mehr nur Partei oder Gegenstand, sondern auch Publikum und Adressat eines Verfahrens. „Dem Staatsbürger war als Bezirksrat nicht nur die Mitbestimmung in der Verwaltung, sondern auch noch die Kontrolle über die staatliche Verwaltung mittels der Verwaltungsgerichtsbarkeit übertragen. Dabei repräsentierte der Staatsbürger als Bezirksrat staatliche Autorität – der Gegensatz von Staat und Gesellschaft sollte in dieser liberalen Konstruktion aufgelöst werden.“ (S. 170)

Die Implementierung einer „neuen Verwaltungskultur“ (S. 194) zeichnet von Krosigk anhand der durch die Verwaltung unterstützten regen Fachpublizistik nach, die „von der Institutionalisierung rechtsstaatlicher Standards und damit von einem sich wandelnden Verhältnis von Gesellschaft und Staat“ (S. 174) zeugt. Die Verwaltung öffnete sich, Fachzeitschriften entstanden, in denen Beamte untereinander und zur Belehrung von Öffentlichkeit und Laienbeamten über administrative und verwaltungsgerichtliche Angelegenheiten diskutierten. Ziel war es, „eine gemeinsame Sichtweise in Bezug auf Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit herzustellen“ (S. 195), um Verwaltung, Laienbeamte und Bürger politisch zu integrieren.

Abschließend untersucht von Krosigk das Zusammenspiel von ehrenamtlichen Bezirksräten und der Staatsverwaltung in der Praxis. Von der Verwaltung wurde die Zusammenarbeit mit den Bezirksräten überwiegend positiv beurteilt. Insbesondere dann, wenn der Amtsvorstand durch die Bezirksräte lokale Problemwahrnehmungen und Beurteilungen des Verwaltungshandelns sowie vollzugsrelevante Ortskenntnisse erlangen konnte, erwiesen sich die Bezirksräte als ein wirkungsvolles Instrument. Die zentrale Leistung der Bezirksräte sei demnach, so von Krosigk, neben ihrer Vertrauen und Legitimität generierenden Funktion die Bereitstellung lokal-operationalen Orientierungswissens gewesen.

Diesen Befund seiner Mikrostudie generalisiert von Krosigk, indem er mit Ellwein gegen Weber und Bourdieu argumentiert, dass sich Verwaltung nicht allein in der Kombination von bürokratischer Herrschaft und abstraktem Fachwissen erschöpfe, sondern darüber hinaus der Rückkoppelung an die lokale Ebene und der Institutionalisierung von Aushandlungsprozessen bedürfe.2 Ist dies nicht gegeben, so zeigt der badische Fall, sind tiefgreifende Vertrauens- und Legitimationskrisen der Verwaltung die Folge.

Von Krosigk legt mit „Bürger in die Verwaltung!“ eine konzise und auf breiter Quellenbasis fußende Studie zu einem bisher unterbelichteten Gegenstand der Verwaltungsgeschichte vor. Es gelingt ihm, die Ursprünge der institutionellen Implementierung der Bürgerbeteiligung in der badischen Staatsverwaltung in der konzeptionellen Vorarbeit der vormärzlichen Bürokratiekritik nachzuweisen und so einen weite Teile des 19. Jahrhunderts umspannenden Bogen zu schlagen. Die besondere Betonung der Rolle von Vertrauen und Legitimität generierenden Verfahren sowie lokal-operationalen Orientierungswissens für die Effizienz und Akzeptanz von Verwaltungshandeln weist über den engeren Zusammenhang der Verwaltungsgeschichtsschreibung hinaus und macht die Studie an verwaltungs- und politikwissenschaftliche Fragestellungen anschlussfähig.

Bedauernswert ist, dass in der Einleitung eine tiefer gehende methodologische Reflexion zu vermissen ist und bisweilen grundlegende Begriffe wie „Denkhorizonte“ (S. 73) unscharf bleiben. Darüber hinaus wäre es angesichts des Quellenmaterials überlegenswert gewesen, methodische Anleihen bei der unlängst im deutschsprachigen Raum erneut popularisierten Cambridge School zu nehmen und die politische Sprache von Bürokratiekritik und Verwaltungsreform in den Fokus zu rücken.3 So hätte eine der wichtigsten Erkenntnisse der Arbeit, dass Konservative und Liberale sowie Gemeinden und Staatsverwaltung ein gemeinsames Vokabular hinsichtlich der Verwaltung und ihrer Vertrauens- und Legitimationskrise teilten und sich infolgedessen gemeinsam auf die Implementierung von Bürgerbeteiligung an der Staatsverwaltung in den Bahnen der konstitutionellen Monarchie einigen konnten, deutlicher konturiert hervortreten können. Zu solch weiterführenden Fragestellungen anzuregen, die neue Perspektiven auf die Verwaltungsgeschichte des 19. Jahrhundert eröffnen, ist das fruchtbare Ergebnis dieser gelungenen Arbeit.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999; Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000.
2 Thomas Ellwein, Der Staat als Zufall und Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe, Bd. 1, Die öffentliche Verwaltung in der Monarchie 1815-1918, Opladen 1993; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972; Pierre Bourdieu, Esprits d’État. Genèse et structure du champ bureaucratique, in: Actes de la Recherche en Sciences Sociales 96/97 (1993), S. 42-62.
3 Martin Mulsow / Andreas Mahler (Hrsg.), Die Cambridge School in der politischen Ideengeschichte, Berlin 2010.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch