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Titel
Karl Mannheims Kultursoziologie. Eine Einführung


Autor(en)
Corsten, Michael
Reihe
Campus Studium
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
222 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Wolfes, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin

Das Buch des Hildesheimer Soziologen Michael Corsten reiht sich ein in eine inzwischen nicht mehr kleine Zahl von Titeln, die in den letzten Jahren zu Leben, Werk und Bedeutung des ungarisch-jüdischen Soziologen Karl Mannheim und der von ihm entwickelten „Wissenssoziologie“ erschienen sind. Mittlerweile liegen diverse Einführungen vor, darunter die schon etwas ältere, dafür wohl verbreitetste des Junius-Verlages von Wilhelm Hofmann.1 Erst vor kurzem ist der kenntnisreiche kleine Band von Amalia Barboza erschienen2, und zwar in der neuen Reihe „Klassiker der Wissenssoziologie“ der UVK Verlagsgesellschaft. Die Verfasserin gab 2009 auch, gemeinsam mit Klaus Lichtblau, Mannheims Schriften zur Wirtschafts- und Kultursoziologie neu heraus. Desweiteren erschienen mehrere kleinere Arbeiten und ein starker Band „Karl Mannheim. Leben, Werk, Wirkung und Bedeutung für die Osteuropaforschung“, herausgegeben von Bálint Balla, Vera Sparschuh und Anton Sterbling.3 Vor allem aber zu nennen ist Reinhard Laubes „Karl Mannheim und die Krise des Historismus“, ein Meilenstein der Mannheim-Forschung.4

Natürlich hat Mannheim mit der von ihm begründeten Wissenssoziologie auch früher schon zu den „Klassikern der Soziologie“ gehört. Lange Zeit war die Beschäftigung mit ihm aber auf einen kleinen Kreis von Spezialisten beschränkt, die sich zudem immer wieder von Einzelaspekten als Leitthemen bestimmen ließen und so wohl auch mit verantwortlich dafür waren, dass Mannheims Denken in der allgemeinen Wahrnehmung stets etwas Esoterisches anhaftete. Dieser wesentliche Unterschied zur Wirkungsgeschichte der großen Gestalten der Frankfurter Schule und ihrer konservativen Kontrahenten korrespondiert mit dem biographischen Faktum, dass Mannheim ein Einzelgängertyp war. Insofern liegt es nicht am Exilantenschicksal allein, wenn ihm die Bildung einer eigenen Schule nicht gelang.

Im Unterschied zu Hofmann und Barboza ist Corsten in seinem Buch vor allem daran interessiert, zu zeigen, inwiefern Mannheims Kultursoziologie auch auf die aktuellen Gesellschaftswissenschaften Einfluss nimmt. Als Schlüssel zu Mannheims Denken sieht er die Beschreibung des Verhältnisses von Kultur und Gesellschaft. Im Mittelpunkt steht Mannheims Idee eines „dynamischen Relationismus“, die es erlauben soll, die Beeinflussung von Kultur und Gesellschaft durch ihre Zeit und den Raum, in dem sie sich entfalten, zu analysieren. Von dieser Fragestellung aus will Corsten Mannheims Arbeiten insgesamt in den Blick nehmen und auf ihre internen Zusammenhänge hin einer nicht bereits umfassend informierten Leserschaft erschließen.

Eine solche aufs Ganze des Werkes gehende Erörterung mit einführendem Charakter ist in der Tat überfällig. Gelingen kann sie nur, wenn in hinreichendem Maße auch die biographischen Umstände gewürdigt werden. Denn auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Produktivität wurde Mannheim von den Nationalsozialisten zur Emigration gezwungen. Dies führte dazu, dass die gerade einsetzende Wirkung seiner Ideen weithin abgebrochen wurde und – bis heute – zersplittert blieb. Der biographische Aspekt ist insofern auch von Bedeutung, als die Einbettung des individuellen wie des sozialen Lebens in zeitbedingte kulturelle und politische Gegebenheiten, etwa bei der Konstruktion des Begriffes „Generation“, einen wesentlichen Faktor von Mannheims soziologischem Ansatz bildet.

Mit Recht präsentiert Corsten deshalb die Mannheimsche Wissenssoziologie als eine Form gesellschaftlicher Selbstbeschreibung, die aus den Debatten um jene, heute meist mit dem Schlagwort „Historismus“ bezeichnete epochale Krisenproblematik im frühen 20. Jahrhundert erwachsen war. Er knüpft damit an Laubes Arbeit an, führt sie aber weiter bis in die späten, von Mannheim mehr angedeuteten als begrifflich ausgeformten Versuche, die Wissenssoziologie über eine „Interpretative Sozialforschung“ bis in den Bereich dynamisch-relationistischer Synthesebildung weiterzuentwickeln und sie so zu einem Instrument kritischer Gegenwartsdeutung zu machen.

Im einleitenden Kapitel wird die alle weiteren Aspekte der Rekonstruktion leitende Frage nach Mannheims Verständnis von „gesellschaftlichem Sein“ exponiert. Aus ihm ergibt sich das besondere Profil der wissenssoziologischen Theorie und zugleich der Grund dafür, dass Mannheim das Verhältnis von sozialen Lebenslagen, Denken und Kultur präziser, interaktiver und im Ganzen dynamischer fassen konnte, als es etwa seinem wichtigsten Widerpart, Max Horkheimer, gelang. Das zweite Kapitel widmet sich der Mannheimschen Begriffsbildung in kultur-, denk- und wissenssoziologischer Perspektive. Es ging ihm dabei um die Entstehung und Etablierung von Kulturgebilden durch Kollektivvorstellungen, hierin den Konzeptionen Bourdieus („praktischer Sinn“) und Searles („institutionelle Fakten“) vergleichbar. Mit seinem Modell der „Bedeutsamkeitszusammenhänge“ wies er überdies auf Foucault voraus. Vor allem hebt Corsten hervor, dass Mannheim sich zugunsten einer konsequent empirischen Vorgehensweise vom geschichtsphilosophischen Paradigma kultursoziologischer Forschung abwandte. Das Erklärungspotential einer solchen „dokumentarischen Interpretation“ für die soziogenetische Rekonstruktion von Kultur- und Sinngebilden wird im dritten Kapitel aufgezeigt.

Eine eigene Untersuchung widmet Corsten im vierten Kapitel dem Hauptwerk „Ideologie und Utopie“ von 1929. Dieser zentrale, nach wie vor unbedingt lesenswerte Text ist ein Paradefall ideologiekritischer Analyse und macht die überragende Stellung Mannheims in der seinerzeitigen, vollkommen unübersichtlichen weltanschaulichen Gemengelage deutlich. Weitere theoretisch und wirkungsgeschichtlich relevante Arbeiten Mannheims, unter anderem zum Generationenbegriff und zum Erfolg im Wirtschaftsleben, stehen im Mittelpunkt des fünften Kapitels. Im letzten Teil arbeitet Corsten dann das noch nutzbare Vermächtnis von Mannheims Soziologie heraus, wobei auch die relevanten Modifikationen des Spätwerkes (die Planungstheorie) zur Sprache kommen.

Die Aufgabenstellung einer „Einführung“ ist klar umgrenzt und wird von Corsten, trotz seines deutlich spürbaren kritischen Engagements, durchweg respektiert. Um eine prinzipielle Hinterfragung der dargestellten Theorie kann es hier nicht gehen. Vielmehr erwartet den Leser eine eingehende, sachkundige und durchdacht strukturierte Hinleitung zu Mannheims Werk, die auch demjenigen von Nutzen ist, für den sie keine Erstbegegnung mit Mannheim darstellt. Hinzu kommt ein erfreulich unprätentiöser Stil, verbunden mit einem intelligenten Sinn für die sachlichen Zusammenhänge. Zugleich liegt eine Stärke des Buches darin, dass der Autor den freien Blick auf seinen Gegenstand behält. Klar werden die Differenzen und argumentativen Problemfelder in Mannheims Arbeiten aufgedeckt. Die Inkongruenzen, wie sie sich auch aus dem unsteten Lebensweg ergeben haben, und die Brüche zwischen den verschiedenen Schaffensphasen bleiben nicht außen vor. Ganz unbegründet ist demgegenüber nach Corsten das immer wieder vorgebrachte Vorurteil von der Disparatheit oder „Zerrissenheit“ des Mannheimschen Werkes. Was in der Außenperspektive gegeneinander gestellt wird, steht nach Corsten gerade für die Offenheit, Wandlungsfähigkeit und das hohe Synthesepotential des Ansatzes.

Hier liegt auch die Antwort des Autors auf die Frage nach der Aktualität Mannheims. Sein stetes Suchen nach Synthesen (darin Ernst Troeltsch ähnlich) eröffne, mehr als die formulierten Einsichten selbst, gewinnbringende Impulse in einer von tiefgreifenden Umbau- und Neuordnungsprozessen bestimmten Situation. Mannheim könne das gesellschaftsanalytische Denken davor bewahren, bei partikularen Momenten – „Beschleunigung“, Eventismus, Kulturkonflikte – stehenzubleiben und dazu motivieren, eine den komplexen Konstellationen und Wechselwirkungen angemessenere Beschreibungspraxis auszubilden. Diesen Überlegungen kann man nachgehen; vor allem aber legt Corstens Buch eines nahe: Aus dem Bannfluch des Relativisten, mit dem Mannheim (leider auch von Horkheimer) lange Zeit belegt worden war – und der auf gewisse Weise sein Exil noch einmal duplizierte –, ist der große Soziologe zum Glück endgültig befreit.

Anmerkungen:
1 Wilhelm Hofmann, Karl Mannheim zur EInführung, Hamburg 1996.
2 Amalia Barboza, Karl Mannheim, Konstanz 2009.
3 Bálint Balla / Vera Sparschuh / Anton Sterbling (Hrsg.), Karl Mannheim. Leben, Werk, Wirkung und Bedeutung für die Osteuropaforschung, Hamburg 2007.
4 Reinhard Laube, Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Bd. 196), Göttingen 2004.

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