O. Moliner: Frankreichs Regionalsprachen im Parlament

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Titel
Frankreichs Regionalsprachen im Parlament. Von der Pétition pour les langues provinciales 1870 zur Loi Deixonne 1951


Autor(en)
Moliner, Olivier
Erschienen
Wien 2010: Praesens
Anzahl Seiten
411 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Erfurt, Institut für Romanische Sprachen und Literaturen, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Die Situation der Regionalsprachen in Frankreich stellt bis heute einen Reizpunkt nicht nur für deren SprecherInnen dar, sondern auch für die Sprach- und Bildungspolitik staatlicher Apparate. In der französischen Öffentlichkeit und nicht zuletzt bei politischen Akteuren ist das Wissen über diese Sprachen oftmals gleichermaßen gering wie geringschätzig. Dabei stand dieses Thema in der jüngeren Vergangenheit immer wieder weit oben auf der politischen Agenda, sah sich Frankreich doch am Pranger der Europäischen Gemeinschaft, weil es die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen im Mai 1999 zwar unterschrieb, sie wegen Nichtkonformität mit Art. 2 der französischen Verfassung aber nicht ratifizierte. Die Verfassungsrichter sahen einen Konflikt vor allem zwischen dem erst 1992 neu in die Verfassung eingefügten Art. 2 – „La langue de la République est le français.“ – und der Präambel der Sprachencharta des Europarats, in welcher das Recht der Sprecher auf Verwendung ihrer Sprachen sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum festgeschrieben ist. Einigermaßen überraschend fand sich im Juli 2008 eine Mehrheit unter den ParlamentarierInnen für eine neuerliche Verfassungsänderung und erklärte in Artikel 75-1 die Regionalsprachen zum kulturellen Erbe Frankreichs: „Les langues régionales appartiennent au patrimoine de la France.“ Ob allerdings auf diese Weise die sprach- und bildungspolitischen Folgen zu bewältigen sein werden, die sich zuletzt aus der im Mai 2011 erfolgten départementalisation von Mayotte mit seiner afrikanischen Sprachenvielfalt (Shimaoré, Kibushi, Malgasy, Kiantalautsy, Arabisch und andere) – die zudem anderes darstellt als „patrimoine“ – ergeben, mag schon jetzt mit Skepsis betrachtet werden. Bezogen jedoch auf die Sprachpolitik im Kaiserreich, in der III. und der IV. Republik und in Anbetracht der mehr als 200 Jahre lang sorgsam kultivierten jakobinischen Tradition der Ächtung der patois in Frankreich stellt die Aufnahme der Regionalsprachen in die Verfassung durchaus eine Entscheidung von historischer Dimension dar. Deren Vorgeschichte, die in der parlamentarischen Diskussion über die Regionalsprachen zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzt und nach langen und zähen Auseinandersetzungen in das nach dem Parlamentarier Maurice Deixonne benannte Gesetz von 1951 mündet, ist der Gegenstand der vorzüglichen Arbeit von Olivier Moliner.

Als Dissertation unter Leitung von Jürgen Trabant an der Freien Universität Berlin angefertigt, rekonstruiert die Studie auf ca. 260 flüssig geschriebenen Textseiten und ca. 130 Seiten wissenschaftlichem Apparat den Kampf um die rechtliche Anerkennung der Regionalsprachen in Frankreich. Die Untersuchung erstreckt sich über den Zeitraum von 1870 bis 1951; 1870 deshalb, weil in diesem Jahr erstmals eine Petition zugunsten der Anerkennung der Regionalsprachen verfasst wurde und den Deputierten des Corps Législatif des Zweiten Kaiserreichs zugeleitet werden sollte. Doch bis die von den beiden Keltologen Henri Gaidoz und Charles de Gaulle und dem Baskologen Hyacinthe de Charency verfasste „Pétition pour les langues provinciales“ die gesetzgebende Versammlung erreicht, vergehen 33 Jahre. Und von 1903 an braucht es ein weiteres halbes Jahrhundert parlamentarischer Auseinandersetzungen, bis im Januar 1951 die Loi Deixonne bezüglich des Unterrichts in den lokalen Sprachen und Dialekten in Kraft tritt. „Die Arbeit möchte zeigen, dass das parlamentarische Eintreten der Befürworter der Regionalsprachen auf der Basis einer historischen Argumentation beruht, bei der parteiunabhängig auf Argumente zurückgegriffen wird, die erst nach und nach entstehen, die teilweise aufeinander aufbauen und die erst im Zuge ihrer zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz zum Einsatz kommen“ (S. 20).

Für die Studie sind folgende Fragen zentral: „Wer waren jene Abgeordneten unter der III. Republik [...], die sich parlamentarisch für die Regionalsprachen einsetzten und was für politische und sprachliche Positionen haben sie eingenommen? Welche Regionalsprachengesetze wurden, unter Umgehung des Parlaments, während des Zweiten Weltkriegs angenommen und wer war daran beteiligt? Welche Rolle haben a. die Résistancevergangenheit sowie b. die politischen Parteien in der noch jungen IV. Republik hinsichtlich der Loi Deixonne gespielt?“ (S. 21). Das Korpus der Studie besteht, neben der bereits erwähnten Petition von 1870, mit dem Jahr 1903 einsetzend, aus Parlamentsprotokollen, in welchen eine Diskussion zum Thema Regionalsprachen in Form von Anträgen, Resolutionen, Berichten, Zirkularen und Gesetzesvorschlägen belegt ist, aus umfangreicher Korrespondenz und Archivalien verschiedener Provenienz sowie aus Texten der nationalen und regionalen Presse (vgl. S. 277-286). Ergänzt wird das Korpus um Interviews mit Zeitzeugen und Familienangehörigen von Maurice Deixonne. In methodischer Hinsicht hätten sich bei einem solchen Korpus diskursanalytische Verfahren angeboten; der Autor optiert hingegen für ein dreigliedriges historisch-kritisches Verfahren, bestehend aus philologisch-hermeneutischer Textkritik (Urheberschaft, Entstehungszeit, Stilkritik, textimmanente Deutung), historischer Kritik (Beziehung von Text und zeitgenössischer Realität, Beobachtungsperspektive) und Ideologiekritik (politische und weltanschauliche Aspekte des Verfassers) (vgl. S. 27).

Wenn im Untersuchungszeitraum von Regionalsprachen die Rede ist, dann handelte es sich um Sprachen und Varietäten wie Baskisch, Bretonisch, Elsässisch-Lothringisch/Deutsch, Flämisch, Katalanisch und Okzitanisch, gelegentlich wurde auch das Gallo erwähnt. Dass die Loi Deixonne ihren Geltungsbereich letztlich nur auf Bretonisch, Katalanisch, Baskisch und Okzitanisch bezieht, ergibt sich aus der Lobbyarbeit ihrer Promotoren. Dass das Elsässisch-Lothringische, das auch 1951 noch über einflussreiche Fürsprecher verfügte, im Gesetz nicht berücksichtigt wurde, ebenso wie Flämisch, Gallo, Frankoprovenzalisch oder Korsisch, wirft ein Licht auf den politischen Kuhhandel im parlamentarischen Alltagsgeschäft. Darüber hinaus wird deutlich, dass es in der vom kolonialen Frankreich etablierten Sprachenhierarchie weder einen Platz für Arabisch, Berberisch, Kreolsprachen und viele andere, noch für migrantische Sprache wie Yiddisch oder Romani gegeben hat.

Insgesamt erscheinen die Analyse und Argumentation außerordentlich stringent und erhellend. So arbeitet der Verfasser in Kapitel 3 (1902-1939) heraus, dass es neben der Loi Trémintin zum Bretonischen mit der Loi Meck und der Loi Dahlet zwei weitere bislang unbekannte Gesetzesinitiativen zum Elsässischen gegeben hat. In Kapitel 4 (1939-1945) zeigt der Verfasser differenziert, wie die Regionalsprachen zum Spielball politischen Kalküls werden. Auf der einen Seite folgen viele okzitanische Interessenverbände Pétains „nationaler Revolution“, während unter der deutschen Besatzung und durch die Kollaboration bretonischer Lobbygruppen das Bretonische erstmals in die Schulen einzieht, eine bretonische Orthographiereform, ein bretonisches Radioprogramm und ein bretonisches Kulturinstitut auf den Weg gebracht werden. Andererseits gibt es viele Anhaltspunkte dafür, dass der maquis mehrsprachig zusammengesetzt war und die Résistance in den Regionen der Regionalsprachen, wie in der Bretagne, besonderen Rückhalt erfuhr. In den Kapiteln 5 bis 7 (1945 bis 1951) werden auf gut einhundert Seiten detailliert die Initiativen des sozialistischen Abgeordneten Maurice Deixonne und die Genese, die Modifikationen, die Konfliktfelder und die Gegenentwürfe zu dem nach ihm benannten Gesetz bis zu seiner Annahme durch das Parlament am 22. Dezember 1950 und seiner Veröffentlichung im Januar 1951 dargestellt.

Durch die Kapitel hindurch legt Moliner die Argumentationen von Befürwortern und Gegnern der Regionalsprachen entlang der keineswegs immer trennscharfen ideologischen Scheidelinien wie des demokratischen/undemokratischen, des patriotischen/nicht-patriotischen, des sprachlich eigenständigen und literarischen vs. des zersplitterten und oralen Charakters der Regionalsprachen frei; desgleichen verfolgt er die Argumentationen für und gegen die Zweisprachigkeit bis hinein in die didaktischen und curricularen Konzeptionen der schulischen Vermittlung von Französisch und Regionalsprache. Anhängerschaft und Gegnerschaft ist dabei keineswegs parteipolitisch zu definieren. Die Partei des Sozialisten Deixonne lehnt zunächst strikt jeglichen Schulunterricht der Regionalsprachen ab und verteidigt die Französischsprachigkeit und den Laizismus. Der konservative MRP, der nebenbei auch mit den konfessionellen Schulen sympathisiert, plädiert für die Regionalsprachen in der Schule, während einer seiner wortgewaltigen Führer lediglich ein hochsprachliches Bretonisch gefördert sehen möchte. Die Kommunisten, die, gestützt auf ihre Erfahrungen in résistance, Untergrund und maquis, im Nachkriegsfrankreich maßgeblich zur neuerlichen Legitimation der Thematik beitragen, befördern die Argumentation zugunsten des Elsässischen/Deutschen, Bretonischen und Katalanischen und gehen auch Zweckbündnisse mit den Vertretern anderer Parteien ein. Die Frage des Okzitanischen wird von ihnen jedoch uneinheitlich behandelt.

Kapitel 8 schließlich (S. 265-275) zieht in konziser Form Bilanz und fasst gut strukturiert die Erkenntnisse und Innovationen zusammen. Der Band ist erfreulich sorgfältig redigiert und weist nur wenige Unebenheiten auf. Aus Sicht des Rezensenten sind die Differenziertheit in den Analysen und die feinschnittigen Argumentationen besonders hervorzuheben. Die Arbeit trägt erheblich zur Erhellung der sprachpolitischen Diskurse bezüglich der Regionalsprachen in Frankreich bei.

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