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Titel
Babylon. Legend, History and the Ancient City


Autor(en)
Seymour, Michael
Erschienen
London 2014: I.B. Tauris
Anzahl Seiten
XII, 360 S.
Preis
£ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
André Heller, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Die bis heute andauernde Faszination Babylons bezeugten vom März 2008 bis März 2009 sehr gut besuchte Ausstellungen im Louvre, dem Pergamonmuseum und im British Museum.1 Michael Seymour, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Antike Kunst des Alten Orients am Metropolitan Museum of Art und Mitorganisator der Ausstellung im British Museum, spürt in seiner Monographie dem Phänomen Mythos und Wahrheit in acht Kapiteln nach. „A City and Its Ghosts“ (S. 1–5) stellt die Leitfragen vor, während das achte Kapitel „Culture and Knowledge“ (S. 253–260) die Ergebnisse prägnant zusammenfasst.

Seymour beginnt mit einem Überblick zu Babylons Geschichte und der antiken Überlieferung („Ancient Babylon“, S. 6–34, und „Tyrants and Wonders: The Biblical and Classical Sources“, S. 35–79). Nach der parthischen Plünderung von 127 v.Chr. sei Babylon mehr „a city of ruins than anything resembling its former imperial pomp“ (S. 30). Den Niedergang der Stadt verbinden antike Autoren mit den angeblichen Tempelzerstörungen Xerxes’; dieses Bild wurde beinahe topisch, so dass Kaiser Trajan 115 n.Chr. „außer Schutthalden, Steinen und Ruinen nichts fand“, wie Cassius Dio schreibt (68,30,1).2 Babylon – „a city buried under its own mythology“ (S. 3) – konnte die Erwartung nur enttäuschen. Vielleicht entstanden deshalb in seleukidischer Zeit keine aktuellen Stadtbeschreibungen, so dass Herodot und Ktesias für das Bild Babylons maßgeblich blieben oder fiktive Gebäude („Hängende Gärten“) hinzutraten. Seymours Quellenanalyse leidet allerdings darunter, dass weder die zahlreichen thematischen Beiträge Robert Rollingers und Reinhold Bichlers noch die Ergebnisse aktueller Konferenzen zu Herodot, Ktesias und Berossos berücksichtigt wurden;3 dies führt auch zu Aussagen wie: „Herodotus’ description of Babylon has regained some of its lost credibility“ (S. 55).4 Nicht nur Herodots, sondern auch Ktesias’ Anwesenheit in Babylon lässt sich jedoch plausibel bezweifeln.5 Der von Herodot beschriebene Stufenturm 6 und die erstmals bei Kleitarch erwähnten „Hängenden Gärten“ (S. 55f. und S. 72–75) stellen ein besonderes Problem dar. Die bei Berossos berichtete Verbindung zwischen ihrem Bau und Amytis, der sonst unbekannten medischen Frau Nebukadnezars, führt Seymour auf persische Tradition zurück (S. 72–75).7 Seinen Platz in der christlich-abendländischen Kultur erhielt Babylon durch Nebukadnezars Zerstörung Jerusalems und die Deportation der Juden nach Babylonien. Da in der biblischen Darstellung moralische Kategorien dominierten, sei eine „transformation from a real, physical location in Mesopotamia to a spiritual one“ erfolgt (S. 51). Nach dem Untergang der Stadt hätten Reisende nur noch unscheinbare Ruinenhügel angetroffen, „upon which layers of folklore and legend would continue to accumulate“ (S. 79).

Die geringen Spuren und die Abgelegenheit der Stätte hielten nach dem Ende der Antike Besucher ab, worauf Seymour im ersten Teil von „The Earthly City: Medieval and Renaissance Approaches“ (S. 80–129) eingeht. Als erster Europäer bereiste der jüdische Kaufmann Benjamin von Tudela um 1170 das Zweistromland – zu nennen wäre außerdem noch Petachja von Regensburg –, deren Berichte erst Jahrhunderte später bekannt wurden. Beide erhielten Hinweise auf die Siedlung Hillah bei Babylon und den Birs Nimrud (Borsippa) wenige Kilometer südlich von Babylon, dessen hochaufragende Reste für den Turm von Babel gehalten wurden; häufig galten Bagdad oder auch die Ruinen des nahen Aqar Quf (Dur Kurigalzu) als Babylon. Den postulierten Einfluss des spiralförmigen Minaretts der Großen Moschee von Samarra auf bildliche Darstellungen Babylons lehnt Seymour ab, da erst im 16. Jahrhundert Reisende dorthin gekommen seien (S. 94). Künstler wie Dürer, Rembrandt oder Bruegel griffen zur Illustration ihrer Bilder auf zeitgenössische Vorbilder zurück; gleichzeitig konnte der Einsturz des Turms als Spiegelbild und Kritik der Kirche fungieren. Mit Pietro Delle Valle (um 1620) trat ein Wendepunkt ein, da er – Seymour schreibt dies indes Jean Otter (1743) zu (S. 131) – eine sprachliche Verbindung zwischen dem Dorf Babil und Babylon herstellte. Seine, von einem flämischen Maler angefertigten Skizzen von Tell Babil zeigten erstmals die Ruinen. Der Paradigmenwechsel hin zur bildlichen und schriftlichen Darstellung ist dem Universalgelehrten Athanasius Kircher (1602–1680) zu verdanken, der in seinem Werk Turris Babel den Materialbedarf des Turms errechnete und postulierte, dass dessen Errichtung die Erde aus ihrem Gleichgewicht gebracht hätte (S. 123–128).

Das Kapitel „Discoveries and Fantasies: Enlightenment and Modern Approaches“ (S. 130–184) behandelt die ersten Ausgrabungen im Zweistromland sowie literarische und künstlerische Adaptionen. 1812 fertigte Claudius James Rich einen Plan der Ruinenstätte an, führte Grabungen durch und publizierte seine Erlebnisse. Fortan konzentrierte sich das Interesse auf die assyrischen Residenzstädte; im British Museum indes herrschte wenig Begeisterung, die als primitiv angesehenen assyrischen Kunstwerke der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Erst zwischen 1878 und 1882 grub Hormuzd Rassam, dem das British Museum seine immense Sammlung an Keilschrifttafeln verdankt, in Babylon, Borsippa und Sippar; seinen Fund des Kyros-Zylinders betrachtete er gar als Erfüllung göttlicher Vorsehung (S. 152f.). Der Fokus verschob sich nun, da die assyrischen Tontafeln, deren Entzifferung immer weitere Fortschritte machte, deutliche Parallelen zum Alten Testament zeigten und die einst legendären Herrscher Semiramis und Sardanapal, der mit Assurbanipal identifiziert wurde, Konturen historischer Figuren erhielten.

„The German Experience: Excavation and Reception“ (S. 185–219) behandelt die Grabung Robert Koldeweys (1899–1917) mit ihrer Bedeutung für das deutsche Kaiserreich sowie deren Rezeption etwa im Stummfilm oder in der Oper. Der von Friedrich Delitzsch 1902 ausgelöste „Babel-Bibel-Streit“ und der Panbabylonismus Hugo Wincklers führten zu einer stärkeren Betonung des Alten Orients gegenüber dem Alten Testament. Die Zeit nach 1917 betrachtet Seymour in „The Library of Babel: Babylon and Its Representation after the Excavations“ (S. 217–251). Etwas überzogen wirkt die Linie von den antisemitisch geprägten Schriften Delitzschs zu Gustaf Kossinas 8 Entwicklung einer rassisch-nationalen Archäologie der Nationalsozialisten; zugleich gelang diesem das Kunststück, Winckelmanns Idealisierung der klassischen Kunst in seine völkische Ideologie einzubetten (S. 220–223). Der momentane Zerfall Syriens und Iraks konterkariert Seymours Aussage, der heutige Irak sei kein künstliches Gebilde als Folge des Ersten Weltkriegs (S. 235–238). Für Saddam Hussein, der Teile Babylons monumental wiederaufbauen ließ, besaß die mesopotamische Vergangenheit hohe legitimierende Bedeutung. In der Darstellung der Folgen der amerikanischen Invasion von 2003, in deren Nachwehen das Museum in Bagdad geplündert wurde, führt Seymour Indizien an, dass dieses anfangs auf der Prioritätenliste gestanden habe, was aus unklaren Gründen nicht beachtet worden sei. Mag auch der mediale Aufschrei darüber übertrieben sein, relativiert dies nicht die amerikanische Verantwortung, deren Militärbasis in Babylon schwere Schäden anrichtete. Die momentane Lage im Irak stellt sich, was ethnisch-religiöse Säuberung sowie systematische Zerstörung durch den „Islamischen Staat“ anlangt, noch düsterer dar, als es Seymour ahnen konnte.

Trotz der unüberschaubaren Fülle an Material ist Seymour eine quellennahe und gut lesbare Darstellung gelungen, welche die großen Entwicklungslinien luzide aufzeigt, aber auch Details nicht außer Acht lässt; nicht berücksichtigt wurde aber das Weiterleben des „Turms von Babel“ in der Moderne.9 Die hohe Qualität des Buches 10, das mit einigen Schwarzweißabbildungen illustriert ist, wird durch die hauptsächlich die Antike betreffenden Kritikpunkte nicht geschmälert. Sie beweisen nur, dass Interpretationsmöglichkeiten und Faszination Babylons ungebrochen sind. Sollte tatsächlich kein antiker Autor Babylon je besucht haben, dürfte dies den Mythos der Stadt noch weiter steigern. Für den englischsprachigen Raum darf Seymours Arbeit als Standardwerk zur Gesamtthematik gelten; wer jedoch den zweibändigen Katalog zur Berliner Ausstellung zu Mythos und Wahrheit Babylons sein eigen nennt, besitzt ein beinahe erschöpfendes und reich bebildertes Werk zu dieser Stadt, ihrer Erforschung und ihrer Rezeption.

Anmerkungen:
1 Béatrice André-Salvini (Hrsg.), Babylone. À Babylone, d’hier et d’aujourd’hui, Paris 2008; Moritz Wullen / Günther Schauerte (Hrsg.), Babylon. Mythos, Berlin 2008 und Joachim Marzahn / Günther Schauerte (Hrsg.), Babylon. Wahrheit, Berlin 2008; Irving L. Finkel / Michael J. Seymour, Babylon. Myth and Reality, London 2008. Dazu „Postscript: The Babylon Exhibitions“ (S. 261–265).
2 Zum Ende Babylons, das zu Beginn des 9. Jahrhunderts noch einmal eine Blüte erfuhr, Karlheinz Kessler, Das wahre Ende Babylons – Die Tradition der Aramäer, Mandäer, Juden und Manichäer, in: Babylon. Wahrheit, S. 467–486.
3 Robert Rollinger / Brigitte Truschnegg / Reinhold Bichler (Hrsg.), Herodot und das Persische Weltreich. Herodotus and the Persian Empire, Wiesbaden 2011; Josef Wiesehöfer / Robert Rollinger / Giovanni B. Lanfranchi (Hrsg.), Ktesias’ Welt. Ctesias’ World, Wiesbaden 2011; Johannes Haubold u.a. (Hrsg.), The World of Berossos, Wiesbaden 2013.
4 Vgl. André Heller, Das Babylonien der Spätzeit (7.–4. Jh.) in den klassischen und keilschriftlichen Quellen, Berlin 2010, S. 41–57; Robert Rollinger, Babylon in der antiken Tradition – Herodot, Ktesias, Semiramis und die Hängenden Gärten, in: Babylon. Wahrheit, S. 487–504.
5 So Marco Dorati, Ctesia falsario?, in: Quaderni di storia 41 (1995), S. 33–52; vgl. Bruno Jacobs, Ktesias und die Architektur Babylons, in: Wiesehöfer, Ktesias’ Welt, S. 141–157.
6 Der Stufenturm Etemenanki könnte nur eine sechs Meter hohe Plattform gewesen sein, so Wilfrid Allinger-Csollich, Die Ziqqurrat von Babylon nach dem archäologischen Befund: Auch ein Beitrag zu Herodots Babylonischem Logos, in: Rollinger, Herodot, S. 531–556. Verwechselte vielleicht schon Herodot Babylon mit Borsippa?
7 Stephanie Dalley (The Mystery of the Hanging Garden of Babylon. An Elusive World Wonder Traced, Oxford 2013) verlegt die „Hängenden Gärten“ wegen des Schweigen Herodots und des fehlenden archäologischen Befunds nach Ninive. Zu ihnen als Teil des Palasts und einer Erklärung des Namens Robert Rollinger, Berossos and the Monuments: City Walls, Sanctuaries, Palaces and the Hanging Garden, in: Haubold, Berossos, S. 138–162, hier S. 151–155.
8 Die Schreibung Gustaf statt Gustav in der Geburtsurkunde, die Seymour wählt, wurde als germanisierte Form von Kossinna selbst präferiert.
9 Vgl. Babylon. Mythos, S. 117 (Zusammensturz des Turms auf der ersten Tafel „Winterlandschaft“ des die Bauernkriege thematisierenden Gemäldezyklus „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“ von Werner Tübke als Symbol der sozialistischen Staatsutopie); 223 (Anti-Atomkraft-Plakat von 1979); 272 (das Berliner Stadtmagazin „Zitty“ erschien 1990 zum Thema „Bauwüste Berlin“ mit einem Mercedes-Stern auf der Turmspitze).
10 Nur wenige Fehler sind zu bemerken: Statt Arabaces lies Arbaces (S. 62 u. 65); statt 1880 lies 1780 (S. 132); der Althistoriker Bowerstock heißt Bowersock (S. 295, Anm. 122 u. S. 314). Irritierend ist die Angabe „550–486 BC“ (S. 157) zu Darius, die seine Lebenszeit wiedergibt, während bei Kambyses dessen Regierungszeit genannt wird.

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