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Titel
Educación a la alemana. Elite y educación en Chile en la segunda mitad del siglo XIX


Autor(en)
García Timón, Ana Belén
Reihe
Transnationalisierung und Regionalisierung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart 6
Erschienen
Anzahl Seiten
235 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jasmine Giovanelli, Romanisches Seminar, Universität Zürich

Die erzwungene Implementierung von kulturellen, politischen und wirtschaftlichen sowie institutionellen Strukturen aus Europa während der Kolonialzeit in Las Indias ist bereits gut erforscht. Auch die Entstehung der verschiedenen Länder Lateinamerikas im Kontext von Modernisierungs- und Unabhängigkeitsbestrebungen sowie die damit verbundenen Erneuerungen vor Ort haben bereits große Aufmerksamkeit erfahren. Die Entstehung des post-kolonialen bzw. unabhängigen Staates Chile und die facettenreiche Beziehung zwischen Chile und Deutschland während des 19. Jahrhunderts sind hingegen noch nicht in allen Belangen hinreichend untersucht worden. Dokumentiert sind insbesondere die Handelsbeziehungen zwischen diesen beiden Ländern. Häufig betrachtet und in zahlreichen Werken ausführlich dargestellt wurde auch die Immigration von Deutschen nach Chile. Weitere Arbeiten beleuchten den Wiederaufbau des Heers in Chile anhand des deutschen Modells.

Im Gegensatz dazu sind die Umgestaltung des Bildungssystems sowie die Entwicklung neuer pädagogischer Konzeptionen in Chile zwischen Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts bis anhin fast gänzlich ignoriert worden. Dies obwohl sie durch einen intensiven, wenn auch asymmetrischen Austausch gekennzeichnet waren. Diese große Forschungslücke kann auch die Arbeit von Ana Belén García Timón, in der sie der Thematik drei von insgesamt acht Kapiteln widmet, kaum füllen. In den restlichen fünf Abschnitten werden überwiegend Aspekte beschrieben, die aus vorangegangenen historischen, soziologischen und anthropologischen Forschungen bereits bekannt sind.

Die von Ana Belén García Timón an der Universität Leipzig verfasste Dissertation stellt im Gegensatz zu bisherigen Studien weniger die Rezeptions- und Assimilationsprozesse ins Zentrum. Vielmehr setzt sie sich mit den Ursachen bzw. Gründen, welche die chilenische Oligarchie bewegt haben, das deutsche Bildungssystem und -ideal in ihr eigenes zu integrieren, auseinander. Ziel der Arbeit ist es, die Hypothese zu belegen, „dass eher politische als pädagogische Überlegungen zur Rezeption des [deutschen] Modells geführt haben“ (S. 208).

Nach der Einleitung und dem methodischen Teil befasst sich García Timón im dritten Kapitel mit der Übernahme der europäischen Modelle durch Chile, die ab der Unabhängigkeitszeit bis zu den 1880er-Jahren zur Schaffung und Konsolidierung eines Zugehörigkeitsgefühls zur Nation beigetragen haben. Hier werden England, Deutschland, vor allem aber Frankreich als die Hauptinspirationsquellen für die Entwicklung des neuen bzw. unabhängigen Staats Chile dargestellt. England förderte insbesondere die industrielle Entwicklung und galt als kommerzieller Partner. Deutschland diente als Modell für Arbeit und Ordnung und Frankreich wurde als Berater für Politik, Kultur und Konventionen des savoir vivre wahrgenommen. Diese Zusammenhänge sind bereits früher gut dokumentiert worden. Interessant ist hingegen die These von García Timón, dass sich die Elite von Chile ab der zweiten Hälfte und insbesondere ab den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bei Bildungs- und Erziehungsfragen zunehmend an Deutschland und weniger an Frankreich orientierte. Dies liegt darin begründet, dass erstens die von der Elite in Gang gebrachte chilenische Bildungsreform auf eine strenge Ordnung und Kontrolle der Bevölkerung sowie auf die Wahrung der gängigen sozialen Strukturen bzw. Klassenaufteilung zielte, die Oligarchen also als Machtausüber und der Rest der Gesellschaft als Untertanen verstanden wurden. Und zweitens wurde, aufgrund der Instabilität und der darauffolgenden Unruhen und Aufstände, mit misstrauischen Augen auf die Dritte Französische Republik geschaut. Somit schien sich das deutsche Ideal einer vom Staat streng organisierten und kontrollierten Bildung in diesem Zusammenhang deutlich besser zu eignen. Diese These, die plausibel und nachvollziehbar ist, wird allerdings kaum mit Belegen untermauert.

Im vierten Teil stellt García Timón die Akteure und ihre theoretischen Schriften dar, die zur Entwicklung einer Konzeption für die Erziehungsreform und die darauf folgende Institutionalisierung und teilweise Professionalisierung des Bildungswesens in Chile beigetragen haben. Dabei geht es in erster Linie um die Ideen von José Abelardo Núñez (1840–1910) und von Valentín Letelier (1852–1919). José Abelardo Núñez hat vor allem für die Einführung einer professionellen und reglementierten Ausbildung der Lehrerschaft plädiert. Valentín Letelier setzte sich für eine einheitliche, patriotische und vom Staat regulierte Ausbildung auf allen Ebenen, für eine Professionalisierung der Lehrerschaft sowie die Förderung der pädagogischen Forschung ein. Die Auseinandersetzung mit den Texten Organización de las Escuelas Normales von 1883 und Lucha por la cultura von 1895 ist äußerst fruchtbar für die Beurteilung der Bildungsreform, die während dieser Jahre stattfand. Namen und kurze Biographien von Ignacio Domeyko, Andrés Bello, Domingo Faustino Sarmiento werden en passant präsentiert, allerdings ohne dabei Bezug auf ihre genaue Bedeutung zum Dissertationsthema herzustellen. Der Leser / die Leserin muss bis Kapitel fünf warten, um einen Einblick in das preußische Bildungssystem der damalige Zeit zu erhalten. Im Kapitel sechs werden zwei Institutionen kurz und knapp erwähnt, die als prägend für die Einführung der Bildungsreform galten: die Escuela Normal de Preceptores und El Intituto Pedagógico. Interessant sind die hierzu von García Timón kurz dargestellten Quellen aus dem Archivo Histórico Nacional. Diese liefern relevante Informationen zur damaligen Bildungsrealität und -praxis sowie zum Engagement deutscher Lehrer.

Die Dissertationsarbeit endet mit einer an dieser Stelle entbehrlichen Beschreibung des politischen und sozialen Kontexts des damaligen Chiles, die wenig zur Bestätigung der These beiträgt. Im Schlussfazit wird ausgeführt, dass die chilenische Elite nach der Unabhängigkeit einerseits das Bildungssystem durch Modernisierungsmaßnahmen wie bspw. die Gründung wichtiger Bildungsinstitutionen nach deutschem Modell oder die Anstellung deutscher Lehrer reformieren wollte. Andererseits wollten sie die kolonialen Strukturen beibehalten, die ihnen bis dahin Privilegien verliehen hatten.

Die durch den Titel der Arbeit geweckten Erwartungen werden aufgrund der diffusen und wenig stringenten Argumentation zur Bestätigung der Hauptthese und der fehlenden Begründung der Quellenauswahl nicht eingelöst. Zudem eignet sich der von García Timón gewählte theoretische Zugang des kulturellen Transfers, welcher auf weniger als zwei Seiten zusammengefasst wird, ausschließlich zur Rekonstruktion der Übernahme des deutschen Modells, was aber nur einen kleinen Teil der Studie ausmacht. Offen bleibt, wie García Timón bei der Analyse der anderen Quellenbestände vorgegangen ist, die ihr für Aussagen über Episteme und Praktiken der damaligen chilenischen Gesellschaft dienen. Trotz dieser Mängel handelt es sich um eine für historische Kontexte und Akteure nachvollziehbare und flüssig geschriebene Darstellung Chiles während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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