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Titel
Arthur Seyß-Inquart und die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden (1940–1945).


Autor(en)
Koll, Johannes
Erschienen
Anzahl Seiten
691 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Kreutzmüller, Jüdisches Museum Berlin

Mit der überarbeiteten und ergänzten Version seiner an der Universität Wien eingereichten Habilitationsschrift hat Johannes Koll eine umfassende, auf breitester Quellengrundlage gearbeitete Studie über den Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete zwischen 1940 und 1945 vorgelegt. Als zentraler Bezugspunkt der Untersuchung dient ihm die Person des Reichskommissars Dr. Arthur Seyß-Inquart. Nach einem kurzem Überblick über dessen Karriere als Rechtsanwalt, als kurzzeitiger österreichischer Bundeskanzler, Reichsminister ohne Geschäftsbereich und stellvertretender Generalgouverneur stellt Koll zunächst die vier Phasen der deutschen Besatzungsherrschaft in den Niederlanden vor und kommt dann auf die Umstände der Ernennung Seyß-Inquarts zu sprechen. Hier legt er – wie auch schon Konrad Kwiet1 und Gerhard Hirschfeld2 vor ihm – nahe, dass der Österreicher auch deshalb zum Reichskommissar in Den Haag ernannt wurde, weil er über keine Hausmacht verfügte und deshalb als relativ schwacher Kandidat galt. Entsprechend war er zwar der „einzige Spitzenvertreter des Deutschen Reichs im besetzen Gebiet“ (S. 126), konnte sich aber kaum der direkten Eingriffe der SS, des Vierjahresplans, der Zentralauftragstelle der Wehrmacht und anderer „Eindringlinge“ erwehren.

Mit dem von Werner Best eingeführten Begriff der Aufsichtsverwaltung beschreibt Koll das Wesen der deutschen Besatzungsverwaltung. Dabei gelingt es ihm an zahlreichen Beispielen en detail herauszuarbeiten, wie sehr der Erfolg der deutsche Verwaltung und ihres „herausragende[n] Funktionär[s]“ (S. 127) von dem Willen der niederländischen Behörden und Institutionen zur Zusammenarbeit abhängig war. Besonders Seyß-Inquarts Bemühungen um eine Einbeziehung der zahlenmäßig nicht unbedeutenden, aber von Grabenkämpfen zerrissenen niederländischen Nationalsozialisten kann Koll dazu nutzen, die ausgleichende Anpassungsfähigkeit Seyß-Inquarts zu exemplifizieren. Gegenüber dem „Führer des niederländischen Volkes“ Anton Adriaan Mussert zeigte der Reichskommissar eine „ambivalente Haltung“ (S. 276). Er unterstützte dessen Nationaal Socialistisch Beweeging durchaus und mit Kalkül, scheute aber lange davor zurück, sie öffentlich allzu sehr zu bevorzugen, um die nicht-nationalsozialistischen Niederländer nicht zu verprellen.

In dem anschließenden Kapitel über die Judenverfolgung schießt Koll zuweilen über das Ziel hinaus, wenn er etwa im Hinblick auf eine Äußerung des Reichskommissars vom Mai 1941, dass das Vermögen der Juden zur Finanzierung der „Endlösung“ eingesetzt werden solle, umstandslos schließt: Dies habe bedeutet, dass „die jüdische Bevölkerung ihre eigene Vernichtung bezahlen“ (S. 332) sollte. Schließlich wird Seyß-Inquart im Frühjahr 1941 noch etwas anderes unter dem Begriff der „Endlösung“ verstanden haben als das, was dann ein Jahr später in den Niederlanden mit großer, mörderischer Wucht implementiert wurde. Sehr zu Recht aber betont Koll, dass die Judenverfolgung dem Reichskommissar zur eigenen Profilierung diente. Dies galt freilich keineswegs für Seyß-Inquart allein. Deshalb kommt Koll zu der wichtigen – wenn auch wenig überraschenden – Erkenntnis, dass es trotz aller Steuerungsversuche „letztlich der Polizei- und Sicherheitsapparat [war], der der Judenverfolgung ihren unerhört radikalen Stempel aufdrückte“ (S. 351).

In den folgenden Kapiteln analysiert Koll Seyß-Inquarts Rolle bei der Verfolgung der Sinti und Roma, der Geiselpolitik und der Bekämpfung des Widerstands, in der Wirtschaftspolitik, der Kultur- und Wissenschaftspolitik. In all diesen Politikfeldern gelingt es ihm, eine eigene Handschrift des Reichskommissars nachzuweisen und nachzuzeichnen. Neben Hans Frank und Konstantin von Neurath war Seyß-Inquart, der im Mai 1945 noch zum Reichsaußenminister avancierte, der dritte relativ autonome Gebietsherrscher, der in Nürnberg vor Gericht stand. Diesem Umstand widmet sich Koll in einem letzten, besonders gelungenen Kapitel. Insbesondere anhand der überlieferten Schriften des Angeklagten vermag er zu zeigen, dass Seyß-Inquart auch zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort keineswegs von seinen nationalsozialistischen Überzeugungen abwich.

Mit Blick auf den Umfang der Studie und die intensive und kreative Quellenrecherche, die der Arbeit zugrunde liegt, ist wohl Magnus Brechtken zuzustimmen, der in seiner in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Rezension von einer „geradezu enzyklopädische Analyse der Herrschafts-, Verfolgungs- und Verwaltungspraxis“ spricht.3 Die Schwierigkeit der Anlage des Buches besteht allerdings darin, dass die Studie den Anspruch erhebt, nicht nur eine Verwaltungsgeschichte, sondern auch eine Biografie zu sein. Der Biografie jedoch fehlen persönliche Überlieferungsstränge – und eine Vorgeschichte, die der Autor freilich noch nachliefern will. Die Fokussierung auf die Person Seyß-Inquarts führt zudem zuweilen dazu, dass andere wichtige Handelnde – in Besatzungs- und zivilen Instanzen genauso wie in der niederländischen Bevölkerung – etwas ausgeblendet werden. Dessen ungeachtet wird der geneigte – und geduldige – Leser in dem Buch aber viele kluge und zutreffende Beobachtungen und Befunde entdecken können, die unser Wissen über das Reichskommissariat der besetzten niederländischen Gebiete und den Reichskommissar deutlich erweitern.

Anmerkungen:
1 Konrad Kwiet, Reichskommissariat Niederlande. Versuch und Scheitern nationalsozialistischer Neuordnung, Stuttgart 1968.
2 Gerhard Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration. Die Niederlande unter deutscher Besatzung 1940–1945, München 1984.
3 Magnus Brechtken, Profilierungssucht im Rassenwahn. Arthur Seyß-Inquart als Chefverwalter der besetzen Niederlanden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.11.2015, <http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/arthur-seyss-inquart-profilierungssucht-im-rassenwahn-13902653.html> (14.01.2016).

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