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Titel
"Land in Sicht"?. Agrarexpositionen in der deutschen Systemauseinandersetzung: Die »Grüne Woche« und die DDR-Landwirtschaftsausstellung in Leipzig-Markkleeberg 1948–1962


Autor(en)
Schultze, Sven
Reihe
Zeitgeschichte im Fokus 4
Erschienen
Berlin 2015: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
526 S., 17 Abb.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Madlen Benthin, Leipzig

Die gesamtdeutsche Nachkriegsgeschichte ist vertrackt: Es entstehen zwei deutsche Staaten mit divergenter Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Sie bleiben aber in vielerlei Hinsicht aufeinander bezogen. Das Konzept der „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“ von Christoph Kleßmann mit seinen Parametern „Abgrenzung“ und „Verflechtung“ setzt genau hier an. Bisher hat es sich für eine integrale Erforschung der deutsch-deutschen Geschichte nach 1945 als besonders produktiv erwiesen. Sven Schultze wendet es nun auf der Mikroebene an und vergleicht die zwei größten deutschen Agrarausstellungen im Kalten Krieg: die West-Berliner „Grüne Woche“ und die DDR-Landwirtschaftsausstellung in Leipzig-Markkleeberg. Die historische Erforschung von Ausstellungen erfreut sich zwar seit zehn Jahren zunehmender Beliebtheit. Ausstellungen, die bestimmte Landnutzungsformen zum Thema haben, gerieten aber bisher kaum in den Fokus. Lediglich für die „Gartenbauausstellungen in Hamburg und Erfurt im Kalten Krieg“ liegt eine Monografie vor.1

Schultze geht in seiner Arbeit der Frage nach, wie die Ausstellungen die noch ungelöste deutsche Frage und die politischen Krisenereignisse zwischen 1948 und 1962 begleiteten, beantworteten oder im weiteren Verlauf sogar beeinflussten (S. 24f.). Inwiefern spiegelten diese also die Systemkonkurrenz wider? Zudem untersucht der Autor, welche agrarpolitischen Programme und Zielvorstellungen als die jeweils überlegenen vermittelt wurden und welchen Einfluss diese Konzepte auf die Auswahl von Ausstellern und Exponaten oder auf deren Präsentation und Kommentierung hatten (S. 16).

Der Aufbau der Arbeit ist stringent. In der Einleitung (S. 13–33) stellt Schultze neben Thema, Forschungsstand und Fragestellungen seine Methodik der Ausstellungsanalyse vor. Ausstellungen sind für ihn „Verhandlungsräume für Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit“. Maßgebliche Akteure und Institutionen dieser Bereiche finden in ihnen einen geeigneten Ort „zur Implementierung ordnungspolitischer Vorstellungen“. Damit seien Messen gleichsam „Schauplätze einer konstruierten Realität“ (S. 26). Der Autor hebt neben deren wichtigen ökonomischen Funktion, nämlich neue Waren und Produkte vorzustellen sowie nationalen und internationalen Handel, Austausch und Wettbewerb zu fördern, somit auch deren „Schaufensterfunktion“ hervor. Darauf aufbauend legt Schultze seiner Arbeit ein kategoriales Raster zugrunde, um die beiden deutschen Landwirtschaftsausstellungen vergleichend zu analysieren und zu bewerten, und zwar 1) „als Bühnen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Kalten Krieg“, 2) „durch die wirtschaftliche Relevanz des Gegenstandes“, 3) „durch Ort und Raum“ (Verhältnis von Ausstellungsgelände und gastgebender Stadt), 4) „durch das Ereignis und die Praktiken des Zeigens“ (S. 28f.). Zwar werden die vier Kategorien aufgrund des dominanten politikgeschichtlichen Ansatzes der Arbeit nicht gleichermaßen ausgeschöpft, was insbesondere mit Blick auf die kulturellen Zeigestrategien von Ausstellungen deutlich wird. Dennoch bieten sie einen klaren und in ihrer Kombination innovativen Rahmen zur differenzierten Betrachtung des landwirtschaftsbezogenen Ausstellungswesens.

Die vier Hauptkapitel orientierten sich an historischen Zäsuren – ohne jedoch das kategoriale Raster zu vernachlässigen. Das Kapitel „Landwirtschaft und Öffentlichkeit“ (S. 34–56) stellt die Entstehung landwirtschaftlicher Ausstellungen in Deutschland im 19. Jahrhundert dar und ihre Entwicklung bis 1945. Die These, dass Agrarexpositionen die städtische Bevölkerung in Kontakt mit Landwirtschaft, Landtechnik und Landleben bringen und zur Stadt-Land-Integration beitragen (S. 9, 13, 56), ist zwar nicht zentral für die Arbeit, aber interessant. Sie bedarf wohl der Relativierung, ruft man sich die vielen Fach- und ländlichen Besucher in Erinnerung. Allerdings sind ländliche Räume und die ländliche Bevölkerung nicht automatisch agrarisch geprägt bzw. Städte und Städter nicht ausschließlich urban und auf den bloßen Verbrauch von landwirtschaftlichen Gütern hin ausgerichtet. Außerdem sind Ausstellungen kein Abbild der Realität, wie Schultze in seiner Begriffsdefinition noch treffend bemerkt. Ihr Zeigen ländlicher Arbeits- und Alltagskultur ist somit zu unterscheiden von der tatsächlichen Praxis.

Im Kapitel „Darstellung des Mangels“ (S. 57–129) reflektiert Schultze die schwierigen (agrar-)politischen Ausgangsbedingungen für einen Neustart landwirtschaftlicher Großausstellungen am Ende des Zweiten Weltkriegs und deren Konsolidierung bis 1950. Wichtig ist der Befund, dass bereits ab 1946 – trotz personeller Kontinuitäten und vielfältiger Kooperation – nicht mehr von einem gesamtdeutschen Ausstellungswesen gesprochen werden kann. Zu stark wirkten sich zonal begrenzte agrarpolitische und administrative Entscheidungen auf die ländlichen Interessengruppen aus (S. 128). Bemerkenswert sind weiter die Konzeption der „Grünen Woche“ als gesamtdeutsche Begegnungsstätte mit besonderem Fokus auf den Bürgern der Ostzone und den Vertriebenen (S. 465) sowie die bereits frühe Diskussion eines europäischen Agrarraumes und das im Vergleich zur UdSSR von Anfang an große Engagement der Westalliierten (S. 128f., 466).

Das Kapitel „Darstellen und Herrschen im Zeichen der Systemkonkurrenz“ (S. 130–331) nimmt mit den Jahren 1952 bis 1959 die Hochzeit des Kalten Krieges in den Blick. Im Mittelpunkt stehen die erste Landwirtschaftsausstellung der DDR, welche den „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ auf dem Lande propagieren sollte, sowie die Agrarschauen nach den Krisenjahren 1953 (Aufstand vom 17. Juni) und 1956 (Aufstände in Polen und Ungarn). Während bei den von der Regierung verantworteten und finanzierten Ausstellungen in Leipzig-Markkleeberg der Zugang für Aussteller und speziell für westliche Besucher sehr eingeschränkt war, zeigten sich die von Westdeutschland und den Westalliierten unterstützen Berliner „Grünen Wochen“ in dieser Hinsicht demonstrativ offen. Im Hinblick auf die Besucherzahlen waren letztere in der Tat gesamtdeutsche Begegnungsstätten (S. 329f.). Von großem Wert sind Schultzes Ausführungen zur gleichsam informellen Seite der Agrarexpositionen: zu den zahlreichen Beratungsmöglichkeiten für ostdeutsche Landwirte in den „Hinterzimmern“ der „Grünen Wochen“, zur Präsenz der Geheimdienste sowohl in Berlin als auch in Markkleeberg (S. 472f.) oder zu den aufwendigen Behinderungsmaßnahmen der DDR-Behörden. Zu letzteren zählten die Diffamierung der „Grünen Woche“, Gegenveranstaltungen in verschiedenen DDR-Städten oder strengere Reisekontrollen mit dem Ziel, die Teilnahme ostdeutscher Bürger an der West-Berliner Landwirtschaftsmesse einzudämmen (S. 284–329).

Das Kapitel „Der ,grüne Ausstellungskampf‘“ (S. 332–463) widmet sich schließlich den Krisenjahren 1958 bis 1961. Insbesondere der Einfluss des „Sozialistischen Frühlings“ (Abschluss der Kollektivierung in der DDR) und des Mauerbaus auf die Agrarschauen wird hier untersucht. Die „Grüne Woche“ nahm nach 1961 zunehmend von ihrer Fixierung auf die ostdeutschen Besucher und die deutsch-deutsche Systemkonkurrenz Abstand. Stattdessen verfolgte sie das Ziel eines europäischen Agrarmarktes und wandelte sich in eine internationale Agrarmesse. Ihr ostdeutsches Pendant fungierte weiterhin als Vermittlerin der sozialistisch konnotierten Umwälzungen auf dem Lande und warb zudem verstärkt für die Einbindung der ostdeutschen Landwirtschaft in den osteuropäischen Wirtschaftsraum (S. 469). Die Politik förderte die Agrarexpositionen also nach wie vor, um daraus Nutzen für den jeweils beabsichtigten Wandel zu ziehen (S. 462).

In der Zusammenfassung (S. 464–485) resümiert Schultze abschließend seine Ergebnisse und vermag sie mithilfe seines kategorialen Rasters auch vergleichend zu ordnen. In jeder Hinsicht plausibel ist seine These, die West-Berliner „Grüne Woche“ und die DDR-Landwirtschaftsausstellung in Leipzig-Markkleeberg seien „direkte Austragungsorte der Systemkonkurrenz“ gewesen. Sie waren für den Autor somit „Bestandteil der asymmetrisch verflochtenen deutsch-deutschen Parallelgeschichte“ (S. 464), und zwar in ihrer Doppelfunktion als „Schaufenster der Überlegenheit“ und als „deutsch-deutsche Kontaktbörse“ (S. 9). Mehr noch: Das „Konsum-Schaufenster“ in West-Berlin und das „politische Schaufenster“ in Markkleeberg (S. 478) hätten sogar konfliktverstärkend gewirkt (S. 469).

Nur wenig ist zu kritisieren. Die Beschreibung etwaiger Konvergenzen und Dissonanzen in Bezug auf die vertretenen agrarpolitischen Konzepte greift durch die Konzentration auf die Systemkonkurrenz bisweilen doch etwas zu kurz. Das gilt sowohl für die Beschreibung der Konvergenzen über zonale Grenzen hinweg als auch für die Beschreibung der Dissonanzen zwischen Regierung, Stadtverwaltung, den landwirtschaftlichen Verbänden und Ausstellungsmachern in West wie Ost. Waren die Positionen auf beiden Seiten tatsächlich so homogen? War die Abgrenzung zwischen West und Ost vor, auf und nach den Messen tatsächlich so ungebrochen? Ferner bezeichnet Schultze den überwältigenden Besuch der „Grünen Woche“ durch DDR-Bürger wiederholt als „widerständiges Verhalten“ und als einen Beweis für die „fehlende demokratische Legitimation des SED-Regimes“ (S. 9). Das ist gewiss überzeichnet. Die vergleichende Diktaturenforschung und ihr Begriffskanon für abweichendes Verhalten (z.B. Resistenz und Nonkonformität) hätte hier sicher weiterhelfen können. Wohl höher einzuschätzen sind in diesem Punkt aber der Eventcharakter und die längere Tradition der Agrarschauen in West-Berlin, deren zentrale Lage, das Informations- und Austauschbedürfnis der ostdeutschen Besucher sowie die Möglichkeit der Pflege von Freundschaften und Verwandtschaftsbeziehungen. Das stellt Schultze an anderer Stelle auch immer wieder heraus.

Insgesamt überzeugt die Arbeit durch die souveräne Erschließung einer beachtlichen Anzahl an neuen Quellen, durch die Berücksichtigung wesentlicher staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, durch die differenzierte Bewertung des Verhältnisses von Ausstellung und gastgebender Stadt und durch die Kombination des Kleßmann’schen Ansatzes mit einem neuen Forschungsgegenstand. Anerkennenswert ist schließlich die vorzügliche Ausstattung und Gestaltung des Buches (etwa mit Blick auf die Einbindung von Grafiken, Karten und Fotografien). Sven Schultze und das Lektorat haben sich zudem um einen gut lesbaren Text bemüht. Leider sind derartige verlegerischen Leistungen heute nicht mehr selbstverständlich, zumal bei wissenschaftlichen Reihen. Welchen großen Anteil sie an einer gelingenden Übersetzung jahrelanger Forschung in die Öffentlichkeit haben können, zeigt der hier besprochene Band.

Anmerkung:
1 Kristina Vagt, Politik durch die Blume. Gartenbauausstellungen in Hamburg und Erfurt im Kalten Krieg 1950–1974, München 2013.

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