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Titel
Integration und Gedächtnis. NVA-Offiziere im vereinigten Deutschland


Autor(en)
Leonhard, Nina
Erschienen
Konstanz 2016: UVK Verlag
Anzahl Seiten
390 S., 16 s/w Abb.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Wenzke, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam

Vor dem Hintergrund einer weiter andauernden Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit leistet dieses Buch einen bemerkenswerten theoretischen und empirischen Beitrag. Nina Leonhard, die seit einigen Jahren als Soziologin in verschiedenen Wissenschaftseinrichtungen der Bundeswehr tätig ist, verfolgt mit ihrer Arbeit, die 2015 in Münster als Habilitationsschrift angenommen wurde, zwei grundsätzliche Ziele: Sie möchte „zum besseren Verständnis der beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen des gemeinhin längst als abgeschlossen angesehenen Vereinigungsprozesses“ beitragen. Zudem geht es ihr darum, „die sozialwissenschaftliche Diskussion über Bedingungen und Faktoren sozialer Integration“ (S. 13) weiterzuentwickeln.

Im Mittelpunkt ihrer Untersuchung stehen ehemalige staatliche Funktionsträger der DDR, konkret die Berufssoldaten der Nationalen Volksarmee (NVA). In der Tat bilden die Offiziere der DDR-Streitkräfte sowohl aus soziologischer wie auch aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive eine überaus interessante Personengruppe. Leonhard schreibt ihnen bis 1989/90 nicht nur eine besondere Systemnähe und Verbundenheit mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu. Sie rechnet sie nach dem Ende der DDR auch jenem Personenkreis hinzu, der sich in „spezifischer Weise diskreditiert sah“ (S. 16). Mit 42 NVA-Angehörigen führte die Verfasserin berufsbiographisch fokussierte Interviews, um soziale Lage und Selbstverständnis vormaliger NVA-Offiziere anderthalb Jahrzehnte nach der Herstellung der deutschen Einheit zu beleuchten.

Im Ergebnis entstand auch für den Fachhistoriker, dessen Sicht diese Besprechung widerspiegelt, eine verständliche und lesenswerte Studie. Das Buch mit seinen zehn Kapiteln gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil wendet sich Leonhard dem konzeptionellen Rahmen ihrer Arbeit zu. Sie wirft dabei anfangs einen soziologischen Blick auf Kategorien wie Gedächtnis, Erinnern und Vergessen und vergleicht wissenssoziologische Gedächtniskonzepte. Dies ist notwendig und sinnvoll, weil es hilft, sich von anderen disziplinären Zugängen, beispielsweise der Geschichts- und Kulturwissenschaften, zu unterscheiden und damit neue Wege für innovative soziologische Zugänge zu eruieren. Es folgt ein Überblick zum Begriff der Integration als soziologisches Forschungsfeld. Leonhard fasst dabei Integration als Inanspruchnahme und Austausch von Wissensbeständen in einem fortlaufenden Prozess auf. Ausführungen zu Konzepten wie „Gedächtnispolitik“ und „Biographie“ beschließen den theoretischen Teil und leiten zur Analyse des empirischen Forschungsgegenstandes über.

Dieser zweite Teil widmet sich dann der Darstellung der politischen und sozialen Lage von NVA-Offizieren vor und nach dem 3. Oktober 1990. Hier wird der Leser auf knappem Raum zuerst mit wichtigen historischen Fakten, Hintergründen und Entwicklungen zur Rolle der NVA und ihres Offizierkorps im SED-Staat bekannt gemacht. Es folgt eine sachlich-kritische Beschreibung und Bewertung des Aufbaus der Bundeswehr im Osten Deutschlands anhand der einschlägigen Sekundärliteratur. Für den Historiker ist in diesem Kontext beispielsweise der Abschnitt „Degradierungsrituale“ von besonderem Interesse, in dem es um Fragen der Eingliederung vormaliger NVA-Soldaten in die Bundeswehr und deren Bewertung geht. Die Soldaten hatten mit ihrer Übernahme – aus soziologischer Sicht – einen neuen militärischen Status zugewiesen bekommen. Damit sei, so die Autorin, eine „Abwertung der Vergangenheit“ verbunden gewesen. Doch stellte diese Abwertung aus ihrer Sicht „die Voraussetzung für die Zuweisung einer neuen Identität dar, die wiederum die Integration in die Gruppe oder Organisation ermöglicht“ (S. 137). Solche als „Degradierungsrituale“ bezeichneten Vorgänge spiegeln „die Machtverhältnisse wider, die zwischen dem Einzelnen und der den Degradierungsprozess durchführenden Organisation bestehen“ (S. 137).

Besonders deutlich zeigt sich dies in der Nichtanerkennung der NVA-Dienstgrade, die weder mit dem Zusatz „a.D.“ (außer Dienst) noch „d.R.“ (der Reserve) geführt werden dürfen. Der in der NVA geleistete Dienst wurde darüber hinaus als „Wehrdienst in fremden Streitkräften“ bezeichnet, später leicht variiert als „Dienst außerhalb der Bundeswehr“. Nina Leonhard wertet dies als „eine vergangenheitsbezogene Degradierung, die allerdings nicht den Einschluss in die Organisation reguliert, sondern eher den symbolischen Ausschluss – hier: von Berufssoldaten der DDR, die vereinigungsbedingt aus dem aktiven Dienst ausgeschieden sind – aus der ideellen Gemeinschaft des Militärs im vereinigten Deutschland bewirkt“ (S. 137).

Zur Kategorie der Degradierungsrituale zählt sie auch jene Prozeduren, die der Prüfung des politischen Profils der antragstellenden Soldaten (Übernahme als Berufssoldat) dienten. Die Bundeswehr stellte damals an die „Gauck-Behörde“ etwa 13.000 Auskunftsersuchen. Hinzu kamen tausende Überprüfungen durch den Militärischen Abschirmdienst (MAD) und durch einen „Unabhängigen Ausschuss Eignungsprüfung zur persönlichen Eignung (UAE)“. Bis Mitte der 1990er-Jahre ergaben sich bei rund 20 Prozent der überprüften Offiziere und Unteroffiziere Hinweise auf eine offizielle oder inoffizielle Tätigkeit für die DDR-Staatssicherheit. MAD und UAE kamen in 40 bzw. 35 Fällen zu einem negativen Votum. Insgesamt kommt die Verfasserin zu der Feststellung, dass bei der Übernahme von NVA-Personal die Deutungshoheit „klar auf Seiten der Bundeswehr“ (S. 151) lag. Die Auswahlprozedur, die verschiedene Formen der Degradierung einschloss, verfolgte letztlich das Ziel, „durch eine Diskreditierung der DDR-Vergangenheit innerhalb der Bundeswehr einheitliche, an der westdeutschen Wirklichkeitsordnung orientierte Standards durchzusetzen“ (S. 151).

Wie tief aber gerade die Degradierungsrituale und deren Ergebnisse bei ausgeschiedenen ehemaligen Offizieren noch viele Jahre später verwurzelt waren, zeigt Nina Leonhard anhand der für ihre Studie erhobenen berufsbiographischen Erzählungen im dritten Teil ihrer Studie. Hier werden die Ergebnisse der Interviewanalyse präsentiert. Dabei erkennt sie zwei Leitmotive der Betroffenen: „Ich habe nichts zu verbergen“ bei denjenigen, die in der Bundeswehr weiterdienen wollten und sich einem enormen Anpassungsdruck ausgesetzt sahen. Und: „Ich bin nicht untergegangen“ für die aus dem Militär ausgeschiedenen Offiziere, die sich auf aktive Art und Weise den Herausforderungen des zivilen Arbeitsmarktes stellen mussten. Zweifellos geben die für die Studie ausgewerteten Interviews mit ehemaligen Offizieren der NVA einen interessanten Einblick in relevante Rahmenbedingungen des beruflichen Soldatseins im Osten Deutschlands. Für die Zeit vor 1989 wird dazu beispielsweise ein „kollektiv geteilter Erfahrungshintergrund“ (S. 206) sichtbar, der durch einen doppelten Zwang der Einordnung in die militärische Hierarchie und die Unterordnung unter die Vorgaben der SED geprägt ist.

Nach der Analyse der Erfahrungswelten vormaliger DDR-Berufsoffiziere, konzentriert sich das folgende Kapitel auf biographische Sinnbildungsprozesse an der Schnittstelle konkurrierender Wirklichkeitsordnungen, anders ausgedrückt: Wie setzten sich die befragten Offiziere mit unterschiedlich kodierten „alten“ und „neuen“ Wissensbeständen auseinander? Leonhard bietet dazu eine Typologie biographischer Sinnwelten nach der Wiedervereinigung an: der Gewendete, der Aufrechtgebliebene, der Pragmatiker und der Idealist. „Empirische Einsichten“ und „theoretische Schlussfolgerungen zum Wechselverhältnis von Integration und Gedächtnis“ schließen das Werk ab.

Nina Leonhard zeigt mit ihrer eindrucksvollen Studie, wie ehemalige NVA-Offiziere das Ende der DDR und den Neuanfang in der Bundesrepublik „bewältigten“. Auf der Grundlage berufsbiographischer Interviews hat sie deutlich gemacht, wie Erinnerungspolitik soziale Integration ermöglicht. Sie hat damit einen wichtigen Beitrag zur qualitativen Sozialforschung und zur aktuellen Integrationsforschung erbracht, der unter anderem mit dem Thomas A. Herz-Preis, verliehen durch die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, gewürdigt wurde. Nicht nur Sozialwissenschaftler, sondern auch Historiker, die sich für die gesellschaftliche Integration staatlicher Funktionsträger nach einem politischen Umbruch interessieren, werden das Buch mit Gewinn lesen.

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