H. Scharnberg: Die "Judenfrage" im Bild

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Titel
Die "Judenfrage" im Bild. Der Antisemitismus in nationalsozialistischen Fotoreportagen


Autor(en)
Scharnberg, Harriet
Erschienen
Anzahl Seiten
443 S., 95 Abb.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norman Domeier, Historisches Institut, Universität Stuttgart

In die Geschichte der Pressefotografie der 1930er- und 1940er-Jahre ist in den letzten Jahren mehr Bewegung gekommen als in den Jahrzehnten zuvor. Vor allem die transatlantischen, mitunter globalen Verflechtungen der Produktion, Vermarktung und Nutzung von Pressefotos waren viel enger als bisher angenommen. Einen wichtigen Beitrag dazu hat 2016 Harriet Scharnberg mit ihrem Aufsatz zur Zusammenarbeit von Associated Press (AP) und NS-Deutschland bis zum Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 geleistet.1

Jetzt ist ihre 2017 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angenommene Dissertation zur „Judenfrage“ in NS-Fotoreportagen erschienen.2 Das Thema des Buches ist in höchstem Maße spannend und relevant: Die illustrierte Presse des „Dritten Reiches“ ist in ihrer politischen und kulturgeschichtlichen Relevanz in der allgemeinen Geschichtswissenschaft bisher völlig unterschätzt worden. 1940 hatte allein das Flaggschiff der NS-Bildpresse, die Berliner Illustri(e)rte Zeitung (BIZ), eine Auflage von fast 3 Millionen Exemplaren mit einer Reichweite von schätzungsweise 15 Millionen Lesern (S. 8). Scharnberg ist inhaltlich vor allem an der „Judenfrage“ in Foto-Reportagen interessiert, die sie von der Auseinandersetzung der NS-Bildpresse mit dem „Weltjudentum“ und dem „Jischuw“ abzugrenzen versucht (der durchgängig verwendete Begriff „Jischuw“ wirkt im Kontext des zeitgenössischen NS-Sprachgebrauchs deplatziert, denn hier wurde meist von Palästina oder dem britischen Mandatsgebiet gesprochen; ein hebräischer Eigenbegriff war für jeden NS-Schriftleiter, außer in pejorativer Absicht, Tabu). Diese Abgrenzung ergibt analytisch durchaus Sinn, da so die in den eigenen Herrschaftsbereich gerichteten und über diesen informierenden Bild- und Textbotschaften des NS-Regimes präziser unter dem Rubrum „Judenfrage“ gefasst werden können, während die Angriffe auf die „jüdische Weltverschwörung“, den „verjudeten Bolschewismus“ oder die „Wallstreet-Juden“ den Blick aus dem Herrschaftsgebiet heraus auf das „Weltjudentum“ lenkten. Allerdings ist fraglich, ob sich die analytisch sinnvollen Differenzierungen in den Quellen durchgängig präzise widerspiegeln: Gerade im Fall der Berichterstattung über die Novemberpogrome 1938 und in der folgenden antisemitischen Pressekampagne bis zur Hitler-Rede am 30. Januar 1939 verschwimmen alle drei Bereiche ineinander. Angriffe auf die britische Politik in Palästina wurden nach der „Kristallnacht“ gebetsmühlenartig wiederholt, um von den Verbrechen im eigenen Herrschaftsbereich abzulenken. Hinzu kommt, dass der Ansatz teilweise konträr zu bewährten älteren Studien wie denen von Peter Longerich steht, in denen „Judenfrage“ und „Weltjudentum“ im umfassenderen Konzept „antisemitische Propaganda“ untersucht wurden.3

In ihrem inhaltlichen Hauptteil, der in erster Linie der visuellen Berichterstattung über Ghettos gewidmet ist, kann Scharnberg mit interessanten Ergebnissen aufwarten. So zeigt sie, dass es in der illustrierten NS-Presse keine großen Kampagnen zur „Judenfrage“ vor den Novemberpogromen 1938 gab, wenn man von der „radikalen“ NS-Presse absieht, wie Goebbels selbst vor allem Stürmer und Schwarzes Korps bezeichnete (der Illustrierte Beobachter könnte hinzugerechnet werden). Selbst das Attentat auf Wilhelm Gustloff in der Schweiz 1936 oder der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich und die Ausschreitungen gegen die Wiener Juden im März 1938 wurden aus taktischen Propaganda-Erwägungen visuell weitgehend ausgeblendet und kaum für die Erörterung der „Judenfrage“ genutzt.

Von den Novemberpogromen 1938 bis zum Angriff auf die Sowjetunion im Sommer 1941 aber, so Scharnberg, war ein Zeitfenster für große fotografische Auseinandersetzungen mit der „Judenfrage“ geöffnet. Nun erschienen Fotoreportagen, die oft das Ghetto-Leben darstellten, um der Weltöffentlichkeit vorzugaukeln, es gehe den jüdischen Menschen „im Osten“ unter der Herrschaft der Nationalsozialisten gut. Sogar Anspielungen auf die Gründung von „Judenstaaten“ unter NS-Aufsicht wurden gemacht. Diese auf Fotomaterial insbesondere der Propagandakompanien der Wehrmacht basierende Publikationsphase endete laut Scharnberg mit dem „Unternehmen Barbarossa“. Visuell sei danach, parallel zur Ermordung der Juden, die „Judenfrage“ tabuisiert worden, während die Propaganda gegen das „Weltjudentum“ auf Hochtouren weitergelaufen sei (S. 11). Bis zum Mai 1945 hätten dann nur noch wenige Ausnahme-Fotografien in der NS-Presse die Blicke auf das Schicksal der Juden unter der Herrschaft der Nationalsozialisten gelenkt.

Konzeptionell kann Scharnberg gegen die ältere Fotografiegeschichte plausibel begründen, dass „sich etwaige Spuren einer gestalterischen oder ästhetischen Lenkung der Bildberichter durch staatliche Stellen schnell im Nichts“ verlieren (S. 74). Für die Produktion von NS-Pressefotos galt vielmehr der zeitgenössische Slogan „Der Inhalt ist wichtiger als die Form“ (S. 75). Für Historiker ergibt sich für den Umgang mit NS-Fotos daraus die wichtige quellenkritische Erkenntnis, dass die nach 1945 jahrzehntelang vorherrschenden kunsthistorischen oder kommunikationstheoretisch-visuellen Analysen von NS-Fotos eher Zuschreibungen einer mehr vermuteten als belegten Allmacht des Goebbels’schen Propagandasystems repräsentieren. Diese Erkenntnis macht auch deutlich, wie entscheidend die Integration der Foto- und Bildgeschichte in die allgemeine Geschichtswissenschaft ist, um Ästhetik- und Visualisierungs-Diskurse aus benachbarten Disziplinen mit den historischen Kontexten zu verbinden.

Scharnberg arbeitet sehr gut die Bedeutung des Bildreferates im Propagandaministerium unter seinem Leiter Regierungsrat Heiner Kurzbein heraus. Hierfür nutzt sie insbesondere das „Bildpresse Zensur-Dienstbuch“ im Bestand des Bundesarchivs Berlin-Lichterfelde, das bislang von der Forschung unbeachtet geblieben sei. Allerdings wurde es von der tschechischen Historikerin Lenka Lysonková bereits 2013/14 verwendet.4 Doch auch von Scharnberg wird die Schlüsselfrage nicht eindeutig beantwortet, in welchem Umfang es 1939–1941 eine Vorzensur für Fotografien gab und in welcher Weise das Bildreferat diese in der Realität ausüben konnte, da es personell bis zum Kriegsbeginn viel zu klein war und auch danach auf aktive NS-Schriftleiter/Bildberichter als Zensoren zurückgreifen musste. Im November 1941 wurde die Foto-Vorzensur dann faktisch bereits wieder aufgehoben und die „Verantwortung“ an die Hauptschriftleiter der jeweiligen Medien zurückübertragen. Allerdings blieb eine Vorlagepflicht bestehen, sodass die militärische und die politische Seite unerwünschtes Bildmaterial vor Abdruck sperren konnten (S. 83–84). Retuschen und inhaltlich relevante Bildfälschungen, darauf weist auch Scharnberg hin, waren selbst im Krieg sehr selten. Zu diesen spannenden Bereichen von Foto-Zensur und Bildverfälschungen sind in jedem Fall noch weitere Studien notwendig; nicht zuletzt dafür wäre ein Namens- und Sachregister wünschenswert gewesen.

Einige sprachlich-inhaltliche Merkwürdigkeiten finden sich in Scharnbergs Arbeit: Das Schwarze Korps und der Stürmer „hatten auch Kontakte zu den Verfolgungsinstitutionen des NS-Staates, die ihnen hin und wieder Material zuspielten“ (S. 36). Beide Presseorgane, werden viele einwenden, waren selbst Teil der Verfolgungsinstitutionen des NS-Staates. Insgesamt ist das Buch durch Theorieüberfrachtung und eine häufig hermetische Sprache schwere Kost selbst für interessierte Leser. Ein Beispiel: „Die Leser/innen verstanden es, bei Darstellungen der Minuspartei Gegenbilder zu ergänzen, wenn diese ausnahmsweise nicht mitgeliefert wurden. Durch die kontrastive Verklammerung der Gegenbilder waren sie in der Vorstellung der Rezipient/innen auch dann anwesend, wenn physische Bilder fehlten.“ (S. 104) Doch welchen Reim sich die Leser der NS-Bildillustrierten wirklich auf die Betrachtung von Fotos machten: Wir wissen es schlichtweg nicht. Da es noch keine Demoskopie gab, sind Aussagen über Foto-Rezeptionen Vermutungen. An anderer Stelle, in ihrer Kritik am „Propaganda-Paradigma“, räumt Scharnberg auch genau dies ein und schreibt, man könne „lediglich aus theoretischen Kommunikationsmodellen abstrahieren“ (S. 16–18).

Bedauerlicherweise ist die Studie nicht mehr an den neuesten Forschungsstand angepasst worden und dadurch an einigen Stellen schon wieder überholt, insbesondere für die Zeit nach dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941. Der Aufsatz zum geheimen Deal zwischen Associated Press (AP) und dem „Büro Laux“, eines joint venture von SS und Auswärtigem Amt, das getarnt das deutsche AP-Büro bis zum Frühjahr 1945 weiterbetrieb, ist zwar einmal pflichtschuldig zitiert (S. 62).5 Die Erkenntnisse wurden jedoch nicht mehr auf das Material der Studie angewendet. Durch den täglichen geheimen Fotoaustausch von 1942 bis 1945 zwischen den Kriegsgegnern Deutsches Reich, USA und Großbritannien über die neutralen Hauptstädte Lissabon und Stockholm hatten es NS-Medien nicht nötig, „Raubkopien“ (S. 147) von Fotos aus alliierten Zeitungen und Zeitschriften anzufertigen. Denn sie erhielten täglich frisches Fotomaterial von den Kriegsgegnern USA und Großbritannien und konnten auch älteres Material aus dem Archiv der deutschen AP und aus in Europa erbeuteten Fotoarchiven nutzen. Durch den geheimen Fotoaustausch zwischen den Kriegsfeinden ist auch zu erklären, vor welchem Hintergrund (und wie zügig) eine dekontextualisierende, missbräuchliche Nutzung einer britischen Fotoserie durch die illustrierte NS-Presse stattfinden konnte, was Scharnberg zu irritieren scheint (S. 147–149): Die Fotoserie „Women Sign On For Home Defence“ in der Picture Post vom Februar 1942 zu britischen Frauen, die sich an Gewehren ausbilden ließen, wurde nur wenige Wochen später im April 1942 im Illustrierten Beobachter veröffentlicht – inhaltlich völlig verfremdet und antisemitisch ausgeschlachtet unter der Überschrift „Jüdinnen wollen in den Krieg“. Der Fotoaustausch zwischen Berlin, New York und London lief auch nach dem Kriegseintritt der USA Ende 1941 bis zum April 1945 auf Hochtouren weiter, ja er steigerte sich sogar. Es gab – zumindest visuell – keine getrennten Kriegsöffentlichkeiten und keinen „totalen Krieg“.

Anmerkungen:
1 Harriet Scharnberg, Das A und P der Propaganda. Associated Press und die nationalsozialistische Bildpublizistik, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 13 (2016), S. 11–37, http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2016/id=5324 (04.03.2019).
2 Der Bildteil ist im Internet abrufbar unter: https://www.hamburger-edition.de/fileadmin/user_upload/Hamburger_Edition/Zusatzmaterial/Die_Judenfrage_im_Bild/Abbildungen_gesamt.pdf (04.03.2019).
3 Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!“. Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006.
4 Lenka Lysonková, The Power of Photography in the News Service of the Protectorate of Bohemia and Moravia, in: Mika Elo / Marko Karo (Hrsg.), Photographic Powers. Helsinki Photomedia 2014, Helsinki 2014, S. 219–239.
5 Norman Domeier, Geheime Fotos. Die Kooperation von Associated Press und NS-Regime (1942–1945), in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 14 (2017), S. 199–230, http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2017/id=5484 (04.03.2019).

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