Cover
Titel
Akzeptiere. Das Buch und seine Geschichte


Herausgeber
Seelow, Atli Magnus
Erschienen
Anzahl Seiten
XCIII, 240 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Derksen, Historisches Institut, Universität Leiden

Es ist kein Zufall, dass die schwedischen Sozialdemokraten in den 1920er- und 1930er-Jahren die Metapher des „Volksheims“ als Leitidee für eine gerechte Gesellschaft einführten. Die Nation als gutes Zuhause für jedermann verband gesellschaftliche Solidarität mit traditionellen Familienwerten und sprach sowohl konservative als auch progressive Bevölkerungsgruppen an. Gleichzeitig war das „Volksheim“ auch eine Referenz an die katastrophale Wohnsituation der Arbeiterklasse, besaß Schweden zu Beginn des 20. Jahrhunderts doch einen der schlechtesten Wohnstandards in Europa. Hygienisches, geräumiges Wohnen war aufgrund der hohen Mieten für die meisten unerschwinglich, drei Viertel der Arbeiterwohnungen in Stockholm besaßen weder Zentralheizung noch ein eigenes Bad. Damit das „Volksheim“ als Antwort auf diese Verwerfungen überzeugte, mussten dessen Ideale auch physisch zum Ausdruck gebracht werden. Sozialpolitische Maßnahmen, vor allem jedoch die radikale Architektur des Funktionalismus wurden zu wegweisenden Werkzeugen für die Gestaltung dieser neuen, kollektiven Gesellschaft. Von kontinentalen Vertretern der Moderne inspiriert, entwickelte sich der Funktionalismus als eigenständige schwedische Ausprägung, die Städtebau, Architektur und Kunstgewerbe zusammenführte und für eine radikale Zusammenführung von Rationalität und Formschönheit, staatliche Planung und soziale Reform eintrat. Zwei Ereignisse gelten gemeinhin als Gründungsmomente: die Stockholmer Ausstellung „Kunstgewerbe, Bauen und Wohnen“ von 1930 und das ein Jahr später von den Ausstellungsmachern, den Kunsthistorikern und Architekten Gregor Paulsson, Gunnar Asplund, Wolter Gahn, Sven Markelius, Eskil Sundahl und Uno Åhrén im sozialdemokratischen „Tiden“-Verlag veröffentlichte, knapp 200 Seiten umfassende Manifest „Acceptera“ („Akzeptiere“).

„Acceptera“ beginnt als Kritik zeitgenössischer Gesellschaftsdiskussionen, welche die Autoren in einem konfrontativen Tradition-oder-Moderne-Dualismus gefangen sehen. Ausgangspunkt ist Delaisis Theorie von einem in ein modernes, industrialisiertes „A-Europa“ und ein agrarisch-handwerklich geprägtes, rückständiges „B-Europa“ geteilten Kontinent. Schweden sei zwischen diesen zerrissen und dadurch unfähig, den Herausforderungen der Moderne zu begegnen. Die Lösung sind weitreichende Reformvorschläge, in deren Zentrum der Funktionalismus als Synthese von Industrie und Handwerk, Gesellschaft und Individuum sowie „guter“, das heißt zeitlos rationaler Tradition und modernen, massenproduzierten Lösungen steht. Das markante Layout aus fettgedruckten Überschriften, prägnant platzierten Absätzen und illustrativen, häufig ironisch betitelten Bildern, Fotografien und Collagen unterstreicht diese stellenweise launenhafte Argumentation. Mit einer sachlich-didaktischen, durch Statistiken, internationale Beispiele und fiktive Dialoge mit konservativen Kritikern ergänzten Rhetorik ruft „Acceptera“ zur bewussten Gestaltung des unabwendbaren Fortschritts auf, wie der namensgebende Appell unterstreicht: „Akzeptiere die vorhandene Wirklichkeit – nur auf diese Weise haben wir die Aussicht, sie zu beherrschen, sie zu meistern, um sie zu verändern und die Kultur zu schaffen, die ein geschmeidiges Werkzeug für das Leben ist.“ (S. XX)

Diesen Schlüsseltext der schwedischen Moderne macht der Bauhistoriker und Architekt Atli Magnus Seelow mit „Akzeptiere. Das Buch und seine Geschichte“ nun erstmals einem deutschsprachigen Publikum zugänglich.1 Im Zentrum steht die sehr gelungene Übersetzung von „Acceptera“, die elegant die Sprachmelodie des Ursprungstextes aufgreift und auch die avantgardistische Gesamtgestaltung mit ihren prägnant gesetzten Abbildungen, Collagen und Textblöcken nahezu originalgetreu wiedergibt. Dieser vorangestellt ist eine Einführung, die anhand zeitgenössischer Debatten zu Architektur und Städtebau in Schweden um 1900, zentraler Ausstellungen und Publikationen sowie biografischer Wegmarken der Autoren die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von „Acceptera“ verfolgt. Die vielfältigen Beispiele und Illustrationen, darunter Originalzitate, Pläne und Fotografien der Stockholmausstellung oder Ausschnitte aus Rezensionen vermitteln nicht nur ein lebendiges Bild der schwedischen Moderne, sondern erlauben auch weiterführende Vergleiche mit anderen europäischen Strömungen. Ein inhaltsreicher Anhang mit ergänzenden Textanmerkungen, Kurzbiografien der Autoren und sorgfältig ausgewählter Sekundärliteratur runden das Werk ab.

Als Hintergrund zum „Acceptera“-Manifest setzt Seelows Einführung mit einer kritischen Betrachtung innerschwedischer Entwicklungen, transnationaler Kontakte der Autoren und kultureller Transfers ausdrücklich eigene Schwerpunkte.2 Ausgangspunkt ist das Narrativ eines schwedischen „Sonderwegs“, den das Land in den 1930er-Jahren ohne den historischen Ballast des Ersten Weltkrieges, sozialer Umbrüche oder politischer Revolution auch in Bezug auf die Ideen des Funktionalismus eingeschlagen habe. Das erste Kapitel zum Schwedischen Kunstgewerbeverband und dessen Direktor, dem Kunsthistoriker Gregor Paulsson, führt diese Diskussion zu ihren Ursprüngen zurück: Ähnlich wie das britische Arts & Crafts habe der Verband sich zunächst auf nationale Eigenproduktionen mit traditionellen schwedischen Elementen konzentriert, sodass die schwedische Architektur neue Impulse verspätet, und zwar erst durch Paulssons Auslandsreisen und Kontakte zum Deutschen Werkbund, erhalten habe. Diesen transnationalen Ansatz zu einem Ideentransfer vom Kontinent in den Norden verfolgt auch das zweite Kapitel. Bedingungen für gutes, einfaches und günstiges Wohnen für Alle seien auf europäischer Ebene diskutiert, jedoch an lokale Gegebenheiten angepasst worden. Anders als die elitären Entwürfe Le Corbusiers oder die deutsche Mustersiedlung Dessau-Törten verstand sich der schwedische Funktionalismus von Beginn an als egalitäres, großflächiges Projekt, das bewusst die Nähe zur Politik der Sozialdemokratie suchte. Um die Stockholmer Ausstellung „Kunstgewerbe, Bauen und Wohnen“ von 1930 geht es im dritten Kapitel. Auch hier zeigte sich Schwedens Sonderstellung, knüpften progressive Entwürfe doch häufig an historische Vorbilder an, anstatt mit diesen zu brechen. Neben der ausführlichen Beschreibung zu Planung und Gestaltung der Ausstellung sind vor allem die unterschiedlichen Reaktionen im In- und Ausland interessant: Während konservative schwedische Kritiker die Ausstellung wegen ihrer Betonung industrieller Massenanfertigung als „unschwedisch“ (S. XLIX) ablehnten, sahen ausländische Besucher in ihr ein „Aufbruchssignal für eine strahlende Zukunft“ (S. XLVIII). „Acceptera“ selbst wird im vierten Kapitel mit Fokus auf dessen gesellschaftspolitischer Ausrichtung analysiert. Diese versteht Seelow einerseits als Antwort auf die Ausstellungskritiker, die mit sachlichen Argumenten, Statistiken und gesellschaftlichen Beispielen von der Notwendigkeit umfassender Modernisierung überzeugt werden sollten. Andererseits hätten die Autoren erkannt, dass moderne Architektur allein keine ausreichende Antwort auf die Wohnungsfrage biete, sondern nur in Verbindung mit sozialpolitischen Zielsetzunen gelingen konnte. Das letzte Kapitel schließlich beleuchtet Rezeption und Langzeiteinflüsse des Manifests. „Acceptera“ sei eine wichtige Grundlage für Standards und Normen, Städtebau und Wohnpolitik der sozialdemokratischen Regierungen bis in die 1970er-Jahre gewesen, mit dem Niedergang des Massenwohnungsbaus seien diese Resultate jedoch zunehmend kritisch bewertet worden. Heute sei „Acceptera“ ein Text, „an dem sich ein breites Spektrum von Meinungen nicht nur zur modernen Architektur, sondern auch zum schwedischen Wohlfahrtsstaat festmachen lässt“ (S. XCII).

„Akzeptiere. Das Buch und seine Geschichte“ kombiniert die lesenswerte deutsche Übersetzung mit einer aufschlussreichen Einführung, die neues Licht auf die Anfangsjahre des schwedischen Funktionalismus als einer in der internationalen Forschungslandschaft bisher wenig beachteten Spielart der europäischen Moderne wirft. Hervorzuheben ist insbesondere Seelows Bestreben, die vorhandene Lücke zur transnationalen Kontextualisierung zu schließen und der Frage auf den Grund zu gehen, inwieweit Schweden tatsächlich einen „Sonderfall“ darstellte. Eine Antwort darauf findet er in Schwedens sozialpolitischer Entwicklung: So hob sich der Funktionalismus, wie er in der Stockholmausstellung und „Acceptera“ präsentiert wurde, gerade durch seinen spezifischen Zugang zur gesellschaftlichen Frage, der sozialen Wohnungsbau für die Arbeiterschicht mit sachlich-ästhetischen Werten und kostengünstigen Planungslösungen verband, von kontinentaleuropäischen Varianten ab. Anders als Arts & Crafts oder Bauhaus, die durch politische Gegenmaßnahmen und die Unruhen des Zweiten Weltkriegs ihren sozialen Halt verloren hatten, blühte der schwedische Funktionalismus weiter auf. Hier lässt die Einführung allerdings einige Sachverhalte vermissen, die erklären könnten, warum „Acceptera“ zu einem der meistrezipierten Texte der schwedischen Architekturgeschichte avancierte. Dies betrifft zum einen den Austausch mit der schwedischen Sozialdemokratie. Inwiefern hat sich die Partei mit dessen Inhalten tatsächlich auseinandergesetzt? Wie kam es dazu, dass schwedische Neubauten bereits Ende der 1930er-Jahre hauptsächlich nach den Gestaltungsgrundsätzen des Funktionalismus gebaut wurden? Auch das Verhältnis der einzelnen Autoren zur staatlichen Planung gesellschaftlicher Lebensbereiche im Sinne des social engineering, wie sie in „Acceptera“ explizit gefordert wird, deutet die Einführung lediglich an.

Darüber hinaus wäre ein Blick auf die anderen nordischen Länder interessant gewesen. Seelow beschränkt sich hier auf eine von dem finnischen Architekten Alvar Aalto geschriebene Rezension der Stockholm-Ausstellung und gestalterische Einflüsse der dänischen Kulturzeitschrift Kritisk Revy, geht jedoch nicht weiter auf Vergleiche mit anderen nordischen Vertretern der Moderne ein, obschon diese oftmals eine ähnliche, das heißt sich auf lokale Traditionen berufende, dabei universell-funktionale und sozial engagierte Architekturphilosophie verfolgten. Vor allem im Hinblick auf europäische Vergleiche hätte sich auch eine vertiefte Diskussion von Schlüsselbegriffen und damit verknüpften, häufig widersprüchlichen nationalen Motiven angeboten. Beispielsweise setzte Deutschland den Begriff „Zweckkunst“ im Ausland bewusst als Ausdruck einer neuen Kultur nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg ein, nach der militärische Disziplin und Effizienz in eine friedliche, konsumorientierte Produktion von Gebrauchsgütern überführt wurden. Im Gegensatz dazu wendeten sich die Autoren von „Acceptera“ mit ihrer eher ästhetischen, an schwedische Gestaltungstraditionen angelehnten Definition von Zweckkunst vorrangig an ein einheimisches Publikum.

Für solche und weitere Fragen bietet das vorliegende Werk eine profunde, in viele Richtungen anschlussfähige Grundlage und bedient damit nicht nur ein spezielles Interesse an Kunst und Architektur, sondern wirft auch aufschlussreiche sozialgeschichtliche Schlaglichter auf das Thema Wohnen. Als Beispiel für dessen andauernde Aktualität kann die 2012 im dänischen Kunstmuseum Louisiana gezeigte Ausstellung „New Nordic: Architecture & Identity“ angeführt werden, die mit ihrer Präsentation eines gesellschaftlich engagierten, an universellen und ästhetischen ebenso wie an kulturellen Werten orientierten Architekturstils zentrale Vorstellungen der Stockholmausstellung und des „Acceptera“-Manifests in die Gegenwart überführt.3 Diese historischen Verknüpfungen und die transnationalen Verbindungen, die sie erzeugen, inspirieren zu weiteren Forschungen moderner wie postmoderner Strömungen im europäischen Raum.

Anmerkungen:
1 Eine englische Übersetzung wurde 2008 anlässlich einer Ausstellung im Museum of Modern Art publiziert: Lucy Creagh / Helena Kåberg / Barbara Miller Lane (Hrsg.), Modern Swedish Design. Three Founding Texts, New York 2008.
2 Vgl. Atli Magnus Seelow, From the Continent to the North – German Influence on Modern Architecture in Sweden, in: Konsthistorisk tidskrift / Journal of Art History 85/1 (2016), S. 44–62.
3 Louisiana Museum of Modern Art, New Nordic: Architecture & Identity, 29.06.–04.11.2012, https://www.louisiana.dk/en/exhibition/new-nordic (12.09.2019).

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