L. Regazzoni (Hrsg.): Schriftlose Vergangenheiten

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Titel
Schriftlose Vergangenheiten. Geschichtsschreibung an ihrer Grenze – von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart


Herausgeber
Regazzoni, Lisa
Erschienen
Anzahl Seiten
XXXV, 346 S.
Preis
€ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lioba Keller-Drescher, Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Der Sammelband „Schriftlose Vergangenheiten“ geht auf eine interdisziplinäre Tagung im Deutschen Historischen Institut Paris von 2016 zurück.1 Die damaligen Vorträge sind im Band nicht in Gänze dokumentiert; stattdessen wurden weitere Beiträge aus dem intendierten Themenfeld des historischen Arbeitens am Nicht-Schriftlichen eingeworben. Dessen Vielschichtigkeit sollte, laut Vorwort, sondiert und näher beleuchtet werden. Die Herausgeberin Lisa Regazzoni eröffnet den Band mit einem konzeptionellen Überblick (S. IX–XXXV), der angeleitet von ihren eigenen Arbeiten zur Rolle der frühgeschichtlichen Megalithen im französischen historiografischen Diskurs des 18. Jahrhunderts danach fragt, wie sich das Quellenverständnis der Geschichtsforschung im Zuge der Akademisierung auf Schriftquellen einengte und ältere Arbeitsweisen damit abdrängte, sodass man in der Folge weite Bereiche der Vergangenheit wissenschaftlich nicht mehr bearbeiten wollte und konnte.

Um dies näher zu untersuchen und zu neuen Deutungen zu gelangen, will Regazzoni zeitlich weiter zurückgehen, als es die Geschichte der Geschichtswissenschaft Frankreichs gewöhnlich tue. Diese Denkfigur könnte man mit Bruno Latour, der im Band nicht genannt wird, als den notwendigen Schritt zurück zur „Weggabelung“ bezeichnen2, um die Konstruktionsmechanismen der Wissenschaft nicht nur zu erkennen, sondern den Gegenstandsbereich, hier die Geschichtswissenschaft, danach neu zu arrondieren. Das Ziel ist also nicht nur eine zeitliche Ausweitung, sondern ein Ansatz, der erkunden möchte, was man (zurück)gewinnen könnte, wenn man den nicht mehr verfolgten Wegen folgen würde. Um es näher an den Sprachbildern der Herausgeberin zu erklären: Es geht um das Ausloten der Grenzen und der Entgrenzungsmöglichkeiten von Geschichtswissenschaft, um das Nachverfolgen historischer Grenzziehungen im Sinne von „Boundary Work“ in einem sich verwissenschaftlichenden Feld, also der bewussten Ausgrenzung von für nichtzugehörig gehaltenen Akteuren, Methoden und Themen. Im Lichte der Wissenschaftsforschung sind dies ganz normale Ausschlussmechanismen, welche die Disziplinierung der Wissensbereiche und Wissensmilieus begleiten. Es lohnt sich aber, solchen Mechanismen genauer nachzugehen und im Lichte heutiger Forschung Alternativen zu diskutieren.

Regazzoni hat den Autorinnen und Autoren des Bandes dafür eine Agenda aufgetragen, durch die einerseits die Geschichte der nicht-schriftlichen Geschichtsforschung vertieft wird, andererseits die Vorgehensweisen und Bearbeitungsformen weiterer historisch arbeitender Disziplinen mit nicht-schriftlichen Vergangenheiten betrachtet sowie aktuelle Praxisbeispiele einer nicht-textprivilegierten historischen Forschung einbezogen werden. Das Buch unternimmt dafür einen Dreischritt, der sich in seinen drei Großkapiteln widerspiegelt – überschrieben mit „Historiografische Perspektiven“, „Wissenschaftshistorische Perspektiven“ und „Praktische Perspektiven“.

Im ersten Teil untersuchen Antonella Romano, Lisa Regazzoni, Nicole Immig und Bettina Severin-Barboutie sehr unterschiedliche Bereiche der Historiografie in zeitlich aufsteigender Folge: von den überseeischen Missionaren des 16. Jahrhunderts und ihren Versuchen einer Geschichtsschreibung der zuvor in der Eroberung willentlich zerstörten Überlieferung (Romano) über die Konstruktion einer autochthonen französischen Vorgeschichte im 18. Jahrhundert und deren Folgen (Regazzoni) zu den Geschichtsbewegungen für die Erforschung erzwungener Migration in Südosteuropa (Immig) bis zur Analyse diametral unterschiedlicher zeitgenössischer Werke über die schriftlose voreuropäische Vergangenheit der Insel La Réunion (Severin-Barboutie). In diesen Aufsätzen geht es um methodische Fragen ebenso wie um Positionen der historiografisch tätigen Akteure hinsichtlich der Geschichtswissenschaft und ihres Gegenstandsbereichs. Regazzoni verfolgt den im Einleitungskapitel bereits skizzierten Ansatz selbst weiter und betrachtet hier insbesondere die Konjunkturen von historischen und ethnografischen Themenfeldern in den Akademisierungsprozessen der französischen Geschichtswissenschaft. Speziell geht es ihr um die oftmals wenig gewürdigten Ziele der frühen wissenschaftlichen Vereinigungen, etwa der Académie celtique, die sich in der Konkurrenz der Denkstile nicht langfristig durchsetzen konnten und der Diskreditierung als vorwissenschaftlich, antiquarisch etc. ausgesetzt waren. Erwähnenswert wäre an dieser Stelle die durchaus vorhandene Forschung zur Rolle der Akademie- und Vereinsarbeit in der Phase der Protowissenschaft während des 18. Jahrhunderts, etwa von Justin Stagl3, der hier nicht genannt wird und erst später in Hans Peter Hahns Aufsatz Erwähnung findet.

Unter den wissenschaftshistorischen Perspektiven im zweiten Hauptteil versammeln sich dann Positionen einzelner Wissenschaftsgeschichten von der Geschichtswissenschaft über die Archäologie, Altertums- und Volkskunde bis zur Kultur- und Sozialanthropologie, vertreten durch Stefan Jordan, Nathan Schlanger, Gudrun M. König / Elisabeth Timm und Hans Peter Hahn. Jordan gibt einen systematischen Überblick zu den Versuchen deutscher Historiker im 19. Jahrhundert, die Idee einer „Weltgeschichtsschreibung“ noch einmal aufzugreifen. Er beleuchtet einerseits die Schwierigkeiten bei der Einbeziehung schriftloser Kulturen in eine schriftzentrierte Historiografie, argumentiert aber auch gegen die Auffassung, dass das Scheitern einer adäquaten Berücksichtigung dieser Kulturen nur dem deutschen Chauvinismus zuzurechnen sei. König und Timm forschen der genauen Situierung eines zunächst museologischen und später auch dingtheoretischen Topos nach, der auf den Hamburger Museumsdirektor und Professor für Volkskunde Otto Lauffer (1874–1949) zurückgeht: dass Dinge sich nur im Zeigen äußern.4 Die Autorinnen verdeutlichen die Entstehungsbedingungen dieses Satzes in der Aushandlung und Grenzziehung zwischen Germanistik und Museum während der Etablierungsphase von Volkskunde als Wissenschaft. Hahn lotet die historisch-epistemologischen Grenzen zwischen Ethnologie und Geschichtswissenschaft aus und verknüpft dies mit der Aufforderung an sein Fach (die Ethnologie), nicht nur die historischen Bedingungen der eigenen Wissensproduktion, sondern auch die Historizität von Kulturen stärker zu berücksichtigen.

Im dritten Abschnitt thematisieren Patrick J. Geary, Nikolas Gestrich, Jens Jäger, Muriel Favre und Alessandro Triulzi konkrete Praktiken und Quellen bzw. Erkenntniswerte des Nicht-Schriftlichen von der aDNA-Forschung („ancient DNA“) für das Frühmittelalter bis zu Tonaufnahmen für das 20. Jahrhundert. Einen Einblick in ganz aktuelle Bereiche aktivistisch-künstlerischer Erinnerungsarbeit bietet schließlich ein Interview mit Giacomo Sferlazzo, der unter anderem materiale Überreste der gegenwärtigen Mittelmeer-Migration nach Lampedusa in musealen Installationen aufbewahrt und aufbereitet.

Insgesamt erscheint mir der Titel des Bandes nicht geglückt, auch wenn er spannend klingt. Aber er spiegelt das Spektrum der Aufsätze nur teilweise wider; diese handeln mitnichten nur von Vergangenheiten ohne Schrift oder schriftlosen Vergangenheiten. Sie beschäftigen sich mit der Frage der Konzepte und des Stellenwertes nicht-schriftlicher Quellen in verschiedenen historisch arbeitenden Geisteswissenschaften zu unterschiedlichen Zeiten. Man könnte sie als Beiträge zu einer historischen Wissensforschung im doppelten Sinne bezeichnen: Es geht ihnen um die abgedrängten historischen Wissensbereiche und um die neuen materialbasierten Ansätze ihrer (Wieder-)Bearbeitung. Vermutlich habe ich dabei noch einige Aspekte vernachlässigt – einen so komplexen Sammelband bringt man nicht leicht auf einen Nenner. Das weitgehende Fehlen von Konzepten der Wissenschaftsforschung in den meisten Beiträgen fällt auf und wundert, denn diese könnten die Grenzziehungen und Ausschlussmechanismen über den Einzelfall hinaus allgemeiner erklären.

Jeder Beitrag des Bandes ist interessant, lesenswert und erkenntnisreich. Hinter den sehr dichten und differenzierenden Texten scheinen langjährige Beschäftigungen mit dem jeweiligen Themenbereich zu stehen, was sich mangels Autor/innenverzeichnis leider nicht leicht nachvollziehen lässt – das ist für einen interdisziplinär angelegten Band ein echtes Manko. Das Personenregister ist hingegen sehr verdienstvoll und nützlich. Bei den Übersetzungen einzelner Texte gibt es Qualitätsunterschiede, im Ganzen sind sie aber gut verständlich, und es ist erfreulich, dass durch die Übersetzungen auch eine zusätzliche Vielstimmigkeit der Beiträger/innen möglich geworden ist. Der Band ist generell sehr sorgfältig gestaltet, was seine Lesbarkeit fördert.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Bericht von Annett Schyschka, David Spieker und Anja Westphale, in: H-Soz-Kult, 13.06.2016, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6558 (04.11.2019).
2 Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 25.
3 Stellvertretend für seine zahlreichen Publikationen in diesem Themenfeld: Justin Stagl, Die Entstehung der Völker- und Volkskunde aus der Krise der Statistik, 1750–1850, in: Gunhild Berg / Borbála Zsuzsanna Török / Marcus Twellmann (Hrsg.), Berechnen / Beschreiben. Praktiken statistischen (Nicht-)Wissens 1750–1850, Berlin 2015, S. 213–229.
4 In seinen handschriftlichen Notizen drückte Lauffer es so aus: „Sie [d.h. die Dinge] zeigen nur. Im Übrigen sind sie stumm.“ Zit. nach König / Timm, Abb. 1, S. 165 im besprochenen Buch.