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Titel
Acht Tage im Mai. Die letzte Woche des Dritten Reiches


Autor(en)
Ullrich, Volker
Erschienen
München 2020: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Kittel, Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen

Mit seinem neuesten Buch nimmt der langjährige Ressortleiter der ZEIT und Hitler-Biograf Volker Ullrich „Die letzte Woche des Dritten Reiches“ in den Blick. Dafür hat er aus einer Vielzahl an mitunter bereits veröffentlichten Tagebüchern, Briefen und biografischen Erinnerungen, darunter auch publizierte Erinnerungsberichte einstiger Hitler-Getreuer, einen dichten Text gewoben, in den er auch die breite Forschungsliteratur hat miteinfließen lassen. Keine Frage, Ullrich kennt sein Material und versteht es, für das historisch interessierte Publikum flüssig die Ereignisse jener Mai-Tage 1945 und das Kriegsende selbst breit aufzuarbeiten. Dabei ist er darum bestrebt, „das Nebeneinander widersprüchlichster Empfindungen und Gefühle“ (S. 14) zu zeigen.

In seinem Prolog beschreibt er zunächst detailreich die Ereignisse am 30. April 1945: Adolf Hitler verabschiedet sich von seinen engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die gespenstischen letzten Stunden im „Führerbunker“ werden etwa durch seine Sekretärin Traudl Junge beschrieben. Und auch Hitlers Kammerdiener Heinz Linge, der die Leichname von Hitler und seiner zuvor angetrauten Ehefrau Eva Braun verbrannte, kommt zu Wort. Diese zuvor schon häufig beschriebenen Szenen dienen auch Ullrich als Einstieg in das Ende. Sodann schwenkt er auf die oberirdischen Ereignisse um: die Eroberung Berlins durch die sowjetische Armee einschließlich des berühmten Hissens der sowjetischen Fahne auf dem Reichstag, das am 2. Mai fotografisch nachgestellt wurde. Mit der Beschreibung der Besetzung Münchens durch US-amerikanische Truppen, der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau und der telegrafischen Benennung von Großadmiral Karl Dönitz als Nachfolger Hitlers beginnt der Mai.

Ullrich lässt das 1. Mai-Kapitel in Berlin beginnen. Die Stadt ist inzwischen von den Truppen der sowjetischen Armee eingenommen, die Gruppe im Führerhauptquartier berät über eine Teilkapitulation der Wehrmacht, um Heeresgruppen und Flüchtlinge an der Ostfront zu retten. Großadmiral Dönitz’ Rede im Radio und die Nachricht des „Heldentods“ von Adolf Hitler kontrastiert Ullrich mit Kommentaren aus verschiedenen Tagebüchern: spöttisch der Schriftsteller Erich Kästner – „Der Mann an der Drehorgel hat gewechselt“ – oder fassungslos deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft, die Dönitz „als Rindvieh“ bezeichnen, hochbewegt die Journalistin Ursula von Kardorff, die das Deutschlandlied wieder mit „Sentimentalität“ hört (S. 41f.). Stilmittel der Publikation ist das Aneinandersetzen solcherart persönlicher Einblicke, deren Entstehungszusammenhang kaum erläutert wird. Die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Ereignisse – die Freude über das Ende auf der einen Seite, Verzweiflung, Fanatismus und Entsetzen auf der anderen – macht er anhand der Beschreibung des massenhaften Suizids in Demmin, einer Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern deutlich. Hier nutzt Ullrich historische Forschungserkenntnisse. Auch wenn die tatsächliche Zahl der Selbsttötungen nicht eindeutig geklärt ist, kann von mindestens 900 Menschen ausgegangen werden, vor allem Frauen und Kinder, die die antisowjetische Propaganda, aber auch die plündernden und marodierenden Soldaten in kollektive Panik versetzt hatte. Viele Frauen hatten offenbar auch Vergewaltigung am eigenen Leibe erlebt. Die Tagebuchnotiz einer Lehrerin, „Freitote, am Sinn des Lebens irre geworden“ (S. 49), irritiert hier, soll aber vermutlich das Grauen auf einen Punkt bringen.

Anhand des 2. Mai 1945 beschreibt Ullrich die definitive „Entzauberung“ Hitlers. Hierfür zitiert er bekannte Hitler-Gegnerinnen wie etwa Ruth Andreas-Friedrich und aus den „Berliner Aufzeichnungen 1945“ von Karla Höcker, die im Luftschutzkeller vom Tod Hitlers erfährt. Ihr zufolge kommentiert eine Frau nüchtern „na denn is ja jut“ und erntet dafür „dünnes Gelächter“ (S. 62). „Ein Großer“ sei „von dieser Welt gegangen“ schreibt dagegen zeitgleich der Chefredakteur der Hamburger Zeitung in einem Nachruf (S. 63). Mit der inneren Leere, die der 16-jährige Hitlerjunge Lothar Loewe verspürt, stellt Ullrich eine weitere Facette der Gefühle dieser Nachkriegstage dar. Rund um den 2. Mai erzählt Ullrich auch vom Zerfall der „Volksgemeinschaft“, der Rückkehr der Politemigranten aus Moskau, über die militärischen Entwicklungen und die Verhaftung Wernher von Brauns; hier fasst der Historiker die Ereignisse auf Basis der Forschungsliteratur zusammen. Am Ende des Kapitels lässt er auch Victor Klemperer zu Wort kommen, dessen Tagebuchnotizen die Gefühle der Befreiung wiedergeben.

Durch Montage der unterschiedlichsten zeitgenössischen Beobachtungen und historischen Erkenntnisse bietet der Historiker den Lesenden ein buntes Panorama an Ereignissen dieser ersten Mai-Woche 1945. Die Auswahl der Themen fügt sich zwar der groben Chronologie, scheint häufig aber vor allem mit Blick auf eine innere Dramaturgie erfolgt zu sein. Die Massenvergewaltigung von Frauen durch Soldaten der Roten Armee etwa thematisiert Ullrich umfassend im Kapitel zum 3. Mai 1945, auch wenn unklar bleibt, weshalb die kriegsbedingte sexuelle Gewalt just für diesen Tag abgehandelt wird. Hier diskutiert Ullrich zudem das Tagebuch der „Anonyma“, eine in der Vergangenheit schon oft hinterfragte Quelle, deren Authentizität er prüft und bestätigt. Die Besetzung des Obersalzbergs durch die US-amerikanische Armee setzt er im Kapitel des 4. Mai 1945 in Szene, behandelt umfassend auch die Geschichte und Gesellschaft auf Hitlers privatem Wohnsitz, dem Berghof. An jenem 4. Mai 1945 beschreibt Klaus Mann in einem Brief an seinen Vater Thomas das einstige Reich Hitlers als einen „Trümmerhaufen. Sonst ist nichts mehr da“ (S. 128). Am selben Tag wird Ullrichs Darstellung zufolge Konrad Adenauer als Oberbürgermeister von Köln eingesetzt und der junge Offizier Helmut Schmidt notiert im britischen Kriegsgefangenenlager in seinem Taschenkalender Gedanken über das Kriegsende. Die KZ-Häftlinge von Dachau finden in diesem Kapitel ebenfalls Erwähnung, ihre Befreiung fand jedoch bereits Ende April 1945 statt. Doch diese Spitzfindigkeit nur am Rande.

Volker Ullrich verbindet auf diese Weise „Endzeitstimmung“ und „Aufbruchstimmung“ (S. 14) als parallele Erfahrungswelten. Dies kombiniert er besonders gut im Kapitel zum 5. Mai 1945, in dem das hektische Festhalten der NS-Elite an ihrer Macht und die Situation der befreiten KZ-Häftlinge und Displaced Persons nebeneinander beschrieben werden. Dass dabei auch die Biografie Simon Wiesenthals ausführlich wiedergegeben wird, irritiert und verwirrt. Einmal mehr vermischen sich Daten und Zeitpunkte mit den Vor- und Nachgeschichten. Der Eindruck verdichtet sich, dass es Ullrich nur vordergründig um die Ereignisse jener Mai-Woche geht und diese lediglich als Anker dienen, um so viel wie möglich über die NS-Zeit zu erzählen. Ullrich ist mit seiner Montage zudem allzu oft an der Oberfläche oder im Plakativen verhaftet. Er mag nicht wirklich ergründen, was einem sein Material über den ersten Blick hinaus zu erzählen vermag. So gerät beispielsweise seine Thematisierung des inzwischen weithin bekannten Fotos der US-amerikanischen Fotojournalistin Lee Miller in der Badewanne von Hitlers Münchener Wohnung, fotografiert von ihrem Kollegen David Scherman, viel zu kurz. Ullrich nutzt das Bild lediglich als Illustration und Schnappschuss, um Miller eine „makabre Inszenierung“ zu unterstellen, die sich aus dem „Überschwang des Triumphgefühls“ (S. 127) ergeben habe. Hier hätte man sich mehr über die Entstehungsgeschichte des Bildes gewünscht, das an jenem Tag in großer Eile entstanden war (auch Scherman ließ sich übrigens in der Badewanne fotografieren). Auch die Geschichte von Lee Miller selbst hätte etwas mehr Hintergrund verdient, beendete sie doch nach ihrer Rückkehr aus Deutschland ihre Karriere als Fotojournalistin – und dies wohl aufgrund ihrer Erfahrungen als Fotografin der befreiten Konzentrationslager Dachau und Buchenwald.

Neben den skizzierten Einwänden ist auch Ullrichs Umgang mit den zeitgenössischen Quellen problematisch. Sie werden in den seltensten Fällen quellenkritisch kommentiert, kaum einmal wirklich als Ausdruck einer subjektiven Realität diskutiert, sondern in der Regel als bloße Tatsachenberichte gelesen, die unhinterfragt nach Absicht und Motiv eins zu eins übernommen werden. Besonders eklatant fällt dies bei den herangezogenen Tagebuchauszügen und autobiografischen Darstellungen ehemaliger Hitler-Getreuer ins Auge, deren Entstehungskontexte an keiner Stelle aufgezeigt werden. Hier wäre deutlich mehr Distanz und Einordnung gefordert gewesen, was der Zusammenstellung der Erfahrungen keinen Abbruch getan hätte und sicherlich auch für das nicht-wissenschaftlich geschulte Publikum lesenswert gewesen wäre. Das Fazit zu Volker Ullrichs Buch fällt in Anbetracht der geäußerten Kritik eher verhalten aus. Zwar ist es Ullrich gelungen, Endzeit und Aufbruch in den ersten Mai-Tagen 1945 dicht darzustellen. Doch stellt sich die Frage, ob die Publikation durch eine klarere inhaltliche Strukturierung und mit einem stärkeren analytischen Blick nicht einen nachhaltigeren Eindruck der Ereignisse jener acht Tage im Mai hinterlassen hätte.

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