M. Frese u.a. (Hrsg.): Willkommenskulturen?

Cover
Titel
Willkommenskulturen?. Re-Aktionen auf Flucht und Vertreibung in der Aufnahmegesellschaft der Bundesrepublik


Herausgeber
Frese, Matthias; Paulus, Julia
Reihe
Forschungen zur Regionalgeschichte (86)
Erschienen
Paderborn 2020: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
VII, 434 S.
Preis
€ 72,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Hirschfeld, Fach Geschichtswissenschaft, Universität Vechta

Über die Aufnahme der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg ist besonders in den letzten zwei Jahrzehnten viel geforscht und geschrieben worden. Das Bestechende an dem vorliegenden Sammelband, dessen Beiträge auf eine Tagung des LWL-Instituts für Regionalgeschichte in Münster zurückgehen, ist die Anspielung auf den im Kontext der großen Fluchtbewegungen von 2015 viel verwendeten Begriff der „Willkommenskultur“ im Titel, hier im Plural verwendet und mit einem Fragezeichen versehen.1 So unterschiedlich die Situation 70 Jahre zuvor war, als nicht Menschen aus einem anderen Kulturkreis, sondern Deutsche zu Deutschen fliehen mussten bzw. vertrieben wurden, so bedenkenswert erscheint die von Matthias Frese und Julia Paulus eingangs geschlagene gedankliche Brücke zu der Frage, wie willkommen die 1945 heimatlos gewordenen Menschen in den westlichen Besatzungszonen bzw. der späteren Bundesrepublik überhaupt gewesen sind.

Dabei setzen Frese und Paulus voraus, dass es je nach dem Umfeld, in welches die Flüchtlinge und Vertriebenen aus Ost- und Westpreußen, Pommern, Ostbrandenburg und Schlesien sowie nicht zuletzt aus dem Sudetenland und zahllosen deutschen Siedlungsgebieten in Ostmittel- und Südosteuropa gelangten, unterschiedliche Willkommenskulturen gab (vgl. S. 15), womit der Plural im Buchtitel sinnfällig erklärt ist. Dieser zentrale Terminus verdeutlicht überdies, dass der Fokus hier auf den Einheimischen liegt. Allerdings sind sich die Herausgeber als Experten der Gesellschaftsgeschichte durchaus bewusst, dass die jüngere Vertriebenenforschung die Aufnahmegesellschaften bereits differenziert in den Blick genommen hat. Neu ist hingegen, dass Frese und Paulus die Verfasser einschlägiger Studien zum Thema gebeten haben, ihre Forschungsergebnisse „gegen den Strich zu lesen“ und auf diese Weise „gängige Narrative zur Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen“ zu überprüfen (S. 16). Inwieweit dieser in der Einführung versprochene „Blickwechsel“ (S. 15) in den vierzehn Aufsätzen des Sammelbandes eingelöst wird, soll im Folgenden anhand kleiner Sonden auf einen Großteil der Beiträge kritisch überprüft werden.

So lässt sich aus dem ersten Aufsatz, in dem Harald Dierig am Fallbeispiel des damaligen Landkreises Münster Einblicke in die dortige Vertriebenenaufnahme gibt, einerseits das Bemühen ablesen, die Seite der Einheimischen ins Zentrum zu stellen. Der Autor zeigt quellennah Reaktionen und Lösungsansätze von Behörden, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden auf. Andererseits wird an dieser Studie auch implizit deutlich, dass sich die Aufnahmegesellschaft nicht separat beleuchten lässt, Einheimische und Vertriebene also stets zwei Seiten einer Medaille sind (vgl. S. 50f.).

Stringenter an die Vorgaben hält sich Ingeborg Höting in ihrem Aufsatz über das Kreisdurchgangslager Lette bei Coesfeld, indem sie zum einen die Berichterstattung der Lokalpresse nutzt, zum anderen in einem Oral-History-Projekt in den Jahren 2014 und 2015 befragte Zeitzeugen mit deren Aussagen einbezieht. Letzteres ist zwar keineswegs ungewöhnlich, trifft aber die Intention der Herausgeber, indem Stimmen von Einheimischen mit der Sicht der Vertriebenen gespiegelt werden. Allerdings wirkt Hötings Ergebnis, dass „die Aufnahmebereitschaft der Einheimischen entscheidend“ für den Erfolg der Integration gewesen sei (S. 126), doch sehr verkürzt.

Dass Tiefenbohrungen in dieser Hinsicht vielfach an Quellenmangel scheitern, legt Jens Gründler in seiner gesundheitsgeschichtlichen Sonde auf das Thema dar, bei der er sich zwar auf Behördenberichte zur Seuchenprävention stützen kann, aber „nur sporadisch Berichte von Einheimischen zu den skizzierten Maßnahmen“ (S. 134) vorgefunden hat. Am Fallbeispiel der 1945 nahezu unzerstörten alten Residenzstadt Oldenburg, die 40.000 Vertriebene aufnahm, welche mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung stellten, erteilt Andreas von Seggern dem Narrativ „einer solidarischen Notgemeinschaft in Zeiten der lokalen Nachkriegsgesellschaft“ (S. 167) eine deutliche Absage, sieht Oldenburg dabei aber keineswegs als Sonderfall.

Bisher wenig beachtete Sichtweisen auf die Thematik liefern die Aufsätze von Jeannette van Laak und Holger Köhn über Flüchtlingslager der Nachkriegszeit, in denen Perspektiven von Administration und Presse im Zentrum stehen, während sich Bernhard Parisius hauptsächlich auf in den Jahren 2009 und 2010 geführte Interviews mit Lagerbewohnern stützt und den Aspekt der Solidarität der Vertriebenen als Baustein zur Integration in den Vordergrund stellt (vgl. S. 257). Vergleichend betrachtet wird an diesen sehr unterschiedlichen Beiträgen deutlich, dass die herangezogenen Quellenarten Perspektiven und letztlich Ergebnisse nicht unwesentlich mitbestimmen.

Lediglich auf den ersten Blick bestechend ist die These von Markus Stadtrecher, innerhalb der katholischen Kirche habe sich nur die kirchliche Hierarchie für die Vertriebenen interessiert, während die Laien sie abgelehnt hätten. Seine Perspektive auf ein „Bündnis zwischen Amtskirche und Vertriebenen“ (S. 269) vermag nicht zu überzeugen, weil gerade die westdeutschen Bischöfe im Wesentlichen nur an karitativen Hilfen für die Vertriebenen interessiert waren, eine Sonderseelsorge durch Vertreter der Vertriebenenhierarchie jedoch durchweg ablehnten. Stadtrechers knapper Aufsatz ignoriert zudem die einschlägige Forschung zum Themenfeld Katholische Kirche und Vertriebene.2 Überzeugender fällt dagegen der kulturgeschichtlich verankerte Beitrag von Felix Teuchert über die Aufnahme evangelischer Vertriebener aus. Eine besondere Problematik sieht er zu Recht in den unterschiedlichen Konfessionen (lutherisch, reformiert, uniert), die parallel zum Flüchtlingszustrom unter dem neuen Dach der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zusammengeführt wurden. Dass diese Akteure ebenso wie die westdeutschen Landeskirchen „eine Assimilationsstrategie verfolgten“ (S. 288), macht er exemplarisch anhand der Lutheraner im traditionell reformierten rheinischen Rheydt deutlich und konstatiert treffend, dass „diese Differenzerfahrungen und der pragmatische Umgang mit der eigenen Tradition in der langfristigen Perspektive zu einem Relevanzverlust dogmatischer Lehrinhalte beitrugen“ (S. 294).

Als besonders instruktiv erweist sich der Aufsatz von Karl Ditt über den Westfälischen Heimatbund in den Jahren 1945–1965. Dieser „wandte sich vergleichsweise früh dem Flüchtlingsproblem zu und suchte nach konstruktiven Lösungen“ (S. 313). Letztere bezogen sich entweder auf eine separate Pflege ostdeutschen Kulturguts oder auf eine Einbeziehung von ostdeutschen Themen in die Veranstaltungen des Heimatbundes. Ditt berührt damit eine bisher kaum beachtete Facette der Gesamtthematik.

Verwunderlich erscheint, dass der im Kontext der Thematik vielfach verwendete Begriff „Integration“ in keinem der Aufsätze grundlegend diskutiert wird. Bernhard Parisius definiert ihn lediglich kurz und sehr allgemein als seit den 1980er-Jahren verbreitetes Synonym für einen Eingliederungsprozess (vgl. S. 258). Dagmar Kift stimmt inhaltlich zu, sieht den Terminus aber bereits in den 1950er-Jahren in einer vom Sozialministerium Nordrhein-Westfalens herausgegebenen Schrift verwendet. Felix Teuchert versteht den Begriff stärker praktisch als „Ebene des alltäglichen Umgangs miteinander“ (S. 292).

Trotz dieser Heterogenität ist allen, auch den hier nicht ausdrücklich genannten, Beiträgen das Bemühen um den ihnen aufgetragenen „Blickwechsel“ anzumerken, wobei die konkrete Umsetzung je nach Thema und Quellenlage in unterschiedlicher Intensität gelungen ist. Verständlich ist das Ansinnen der Herausgeber, ein möglichst für ganz Westdeutschland repräsentatives Bild vorzulegen. Aber fünf der vierzehn Aufsätze beschränken sich auf Westfalen bzw. Teilgebiete von diesem. Je zwei weitere Beiträge (von Seggern und Parisius bzw. van Laak und Köhn) kreisen um das benachbarte westliche Niedersachsen bzw. Hessen. Diesen besonderen geografischen Fokus im Untertitel zu erwähnen, wäre nur redlich gewesen und hätte der berechtigten Intention, mit dem Sammelband eine überregionale Aufmerksamkeit zu erhalten, keinen Abbruch getan. Auch mehrere Aufsatztitel verheißen einen allgemeineren Überblick, den sie letztlich nicht einlösen. So bewegt sich Jürgen Gojnys Untersuchung von „Kleinstädten und Dörfern Westfalens“ (S. 54) ausschließlich im heutigen Kreis Warendorf. Und bei Ingeborg Höting entpuppt sich das „Beispiel des Münsterlandes“ (S. 87) wie erwähnt als Studie zu einem Lager bei Coesfeld. Egal, wie kleinräumig die Einzelstudien angelegt sind, zu verstecken brauchen sie sich keineswegs. Denn letztlich dürfte auch für viele andere, hier unberücksichtigte Regionen und Orte in der alten Bundesrepublik gelten, was Frese und Paulus am Ende ihrer Einführung vorsichtig über die Einheimischen schreiben, dass nämlich die Vertriebenen bei ihnen „eher fragile Verunsicherungen“ (S. 23) hervorriefen (im Sinne einer Zerbrechlichkeit, die unter der Oberfläche gehalten wurde) – Verunsicherungen, welche die Konstruktion einer Mehrheitskultur verstärkt haben. Die Frage, inwieweit sich letztlich die einzelnen Aufnahmegesellschaften lokal bzw. regional mehr als nur graduell voneinander unterschieden, hätte sich bei einer breiteren regionalen Streuung der präsentierten „Willkommenskulturen“ möglicherweise vertiefend beantworten lassen.

Nicht nur optisch unschön, sondern auch störend für den Lesefluss wirkt die durchgehende Nutzung des „Binnen-I“ in den Texten. Nur gut, so möchte man abschließend bemerken, dass der für diesen Sammelband so zentrale Terminus „Flüchtlinge und Vertriebene“ sich (noch!) der Gendermode entzieht.

Anmerkungen:
1 Siehe auch den Tagungsbericht von Regina Göschl, in: H-Soz-Kult, 22.02.2018, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7567 (17.10.2021). Für einen ähnlichen Titel, mit inhaltlichem Schwerpunkt auf dem protestantischen Milieu in der Bundesrepublik, siehe Claudia Lepp (Hrsg.), Christliche Willkommenskultur? Die Integration von Migranten als Handlungsfeld christlicher Akteure nach 1945, Göttingen 2020; rezensiert von Martin Belz, in: H-Soz-Kult, 09.06.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-95527 (17.10.2021).
2 Vgl. z.B. Sabine Voßkamp, Katholische Kirche und Vertriebene in Westdeutschland. Integration, Identität und ostpolitischer Diskurs 1945–1972, Stuttgart 2007; Rainer Bendel, Aufbruch aus dem Glauben? Katholische Heimatvertriebene in den gesellschaftlichen Transformationen der Nachkriegsjahre 1945–1965, Köln 2003; und als Fallstudie mit deutlichem Bezug zu Münster bzw. Westfalen: Michael Hirschfeld, Katholisches Milieu und Vertriebene. Eine Fallstudie am Beispiel des Oldenburger Landes 1945–1965, Köln 2002.