G. Uelsberg u.a. (Hrsg.): Germanen

Cover
Titel
Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme


Herausgeber
Uelsberg, Gabriele; Wemhoff, Matthias
Erschienen
Anzahl Seiten
640 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus-Peter Johne, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Begleitband zu einer von Museen in Berlin und Bonn konzipierten Ausstellung ist ein monumentales Werk geworden, überaus großzügig ausgestattet und mit 400 farbigen Abbildungen reich illustriert.1 Dabei spielt der Katalog der in der Ausstellung gezeigten Funde selbst nur eine untergeordnete Rolle (S. 565–583). Den weitaus größten Teil des Buches nehmen die Beiträge ein, die sich mit dem Thema „Germanen“ unter ganz verschiedenen Aspekten beschäftigen, aus der Sicht von Archäologen, Althistorikern, Sprach- und Naturwissenschaftlern. Die Beiträge gehen über eine archäologische Bestandsaufnahme hinaus und behandeln Namen und Begriff der Germanen, deren Rezeption bis in die Neuzeit und verschiedene historische Probleme. Die Motivation für die Ausstellung war zum einen die Frage, wer die Germanen denn eigentlich waren, und zum anderen die Präsentation der intensiven archäologischen Forschungen der letzten Jahrzehnte.

Unstrittig ist, dass es sich bei den Germanen um eine Fremdbezeichnung der Römer für die östlich des Rheins und nördlich der Donau wohnenden zahlreichen Stämme handelt. Germanen war der Sammelname für eine Großgruppe, deren Lebensweise und Kultur sich ähnelte, vergleichbar den Kelten und später den Slawen. Dabei wird der Name der Germanen seit etwa zwei Jahrzehnten in der Forschung in Frage gestellt und beispielsweise von Jörg Jarnut 2004 direkt verworfen (S. 19 mit Anm. 1). Dagegen betonen Michael Schmauder und Matthias Wemhoff im Vorwort, dass sie sich nach eingehender Diskussion mit den Autoren für die Beibehaltung des Begriffs entschieden haben, er jedoch mit heute vertretbaren wissenschaftlichen Inhalten gefüllt werden müsse (S. 16). So zeigt Heiko Steuer die von der Archäologie berichtigten Vorurteile über die Germanen auf (S. 48–60) und trägt alle Argumente zusammen, die für eine kulturelle Einheit und ein gewisses Gemeinschaftsgefühl der Germanen sprechen (S. 60–64).

Die 33 Aufsätze sind in sieben Themenbereichen zusammengefasst. Deren erster heißt „Von Wohnstallhäusern und dunklen Wäldern“ (S. 43–115) und enthält Beiträge zu Siedlungslandschaften, Siedlungsbefunden und naturräumlichen Gegebenheiten. „Zwischen Selbstversorgung und Spezialistentum“ (S. 119–191) ist die Überschrift für Aufsätze zu Ernährung und Landwirtschaft, zu Eisen- und Kalkgewinnung, Keramikherstellung, Kunsthandwerk und Textilien. In dem Bereich „Den germanischen Gesellschaften auf der Spur“ (S. 195–269) geht es um Kult, Religion und Prunkbestattungen sowie um Sozialstruktur und Wanderbewegungen im östlichen Mitteleuropa am Beispiel der Goten. „Krieg – ein weites Feld“ (S. 273–335) ist das Thema für Analysen der Schlachtfelder von Kalkriese im Zusammenhang mit der Varusschlacht 9 n.Chr. und am Harzhorn aus der Zeit des Maximinus Thrax 235. Am Beispiel des Thorsberger Moors wird ausführlich die Sitte, die militärische Ausrüstung besiegter Gegner zu opfern, erörtert. Unter dem Titel „Rom: Ein nützlicher Gegner“ (S. 339–375) werden an Hand einzelner Funde die engen Verflechtungen zwischen Römern und Germanen sichtbar gemacht, etwa bei der Imitation römischer Keramik, der Bearbeitung römischer Beutestücke, dem Blei- und Silberbergbau für den römischen Markt oder einem neuen römischen Gefangenenrelief aus Mainz.

Der vorletzte Themenbereich „Germanen: Sichtweisen auf einen umstrittenen Begriff“ (S. 379–479) ist für Ausstellung wie Begleitband von zentraler Bedeutung. Ernst Baltrusch untersucht die ethnographischen Exkurse zu Germanen und Juden, behandelt deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede und charakterisiert die Besonderheiten der Ethnographie in der antiken Literatur. Sebastian Brather betont die unterschiedlichen Germanenbegriffe bei Historikern, Germanisten, Archäologen, Anthropologen und Geographen. Er problematisiert die Germanen als Kategorie der Forschung und unterstreicht die Komplexität der germanischen Welt. Noch kritischer ist der Beitrag von Stefan Burmeister, der feststellt: „Der von Rom geschaffene Germanenbegriff …“ sei „ein zwar etablierter – und deswegen unvermeidbarer – aber vorwissenschaftlicher Begriff“ (S. 420 u. 430). Dagegen meint Hans-Ulrich Voß, der Kollektivbegriff „Germanen“ sei „eingedenk aller Kritik und der Forschungsgeschichte geschuldeten Diskreditierung … ein alternativloser Terminus zur Darstellung und Vermittlung auch äußerst komplexer Sachverhalte“ (S. 448). Reinhard Wolters verfolgt Namen und Begriff der Germanen vom 1. Jahrhundert v.Chr. bis zum 4. Jahrhundert n.Chr. Die Ausbreitung und Einbürgerung des Namens in der römischen Welt wird bekanntlich Julius Caesar verdankt. Der Name selbst begegnet allerdings bereits Jahrzehnte vor Caesar bei Poseidonios Rhodios, der die Germanen für eine Untergruppe der Kelten hielt. Wolters äußert die ansprechende Vermutung, dass bereits die Kelten in Gallien „Germanen“ als Oberbegriff für die Menschen jenseits des Rheins verwendet und Caesar dies von seinen gallischen Informanten übernommen habe (S. 456). Interessant ist auch die Beobachtung, dass Cicero im Jahre 56 v.Chr. die Germanen noch als einen Teil der Kelten auffasst, ein Jahr später jedoch – dank der Nachrichten Caesars – sie als Großethnos neben den Galliern versteht (S. 457). Name und Begriff haben sich nach Caesar schnell verbreitet. Bereits unter Augustus bezeichneten sich germanische Angehörige der kaiserlichen Leibwache, ungeachtet der Zugehörigkeit zu einzelnen Stämmen, auch als Germanen, wussten also, dass sie von den Römern unter diesem Oberbegriff zusammengefasst wurden (S. 461). Mit der Zunahme des Söldnertums dürfte dieses Wissen auch im Inneren Germaniens bekannt geworden sein. Wojciech Nowakowski geht den Wandlungen der Forschungen zu den Germanen in der polnischen Archäologie auch unter dem Gesichtspunkt politischer Implikationen im 20. Jahrhundert nach.

Der abschließende Teil „Zwischen Wagner-Oper und musealer Präsentation“ (S. 483–561) ist der Rezeptionsgeschichte gewidmet. Hier geht es um die wechselnden Germanenbilder in Archäologie, Gesellschaft und Politik von der Frühen Neuzeit bis heute und um die einschlägigen Forschungen am Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte von 1799 bis 1945. Am Ende des umfangreichen Bandes steht eine eingehende Interpretation des aus dem Jahre 1855 stammenden Gemäldefrieses im „Vaterländischen Saal“ des Neuen Museums in Berlin mit Darstellungen der nordischen Mythologie nach der Edda aus dem 13. Jahrhundert.

In einer ganzen Reihe von Beiträgen wird der Begriff Germania magna, „Großes Germanien“, verwendet, auch in Kapitelüberschriften (S. 67) und Landkarten (S. 285). Die lateinische Bezeichnung erweckt den Eindruck, als ob es sich dabei um einen in den lateinischen Schriftquellen gängigen Terminus handeln würde. Dem ist nicht so. Der Begriff stammt von dem alexandrinischen Gelehrten Klaudios Ptolemaios aus der Mitte des 2. Jahrhunderts. Er suchte nach einem Ausdruck für die Gebiete außerhalb des Imperiums im Unterschied zu den Provinzen „Obergermanien“ und „Untergermanien“, die Kaiser Domitian aus der Provinz Gallia Belgica geformt hatte. Es waren politische Konstruktionen, um die Zugehörigkeit von Teilen Germaniens zum Römischen Reich zu demonstrieren. Der von Ptolemaios griechisch geprägte Begriff begegnet nur noch einmal in der Spätantike bei Markianos von Herakleia, und bei ihm ist er aus dem Werk des alexandrinischen Gelehrten übernommen. Kein lateinisch schreibender Autor spricht von Germania magna, obwohl der Ausdruck der Sache nach durchaus zutreffend gewesen wäre. Anachronistisch ist dagegen die auch in diesem Sammelband vorkommende Bezeichnung Germania libera, das „freie Germanien“, für alle außerrömischen Territorien (S. 184, 345f. u. 440). Sie wurde zuerst von Jacob Grimm in einer Vorlesung im Wintersemester 1835/1836 an der Universität Göttingen gebraucht.

Von der Feststellung „Tacitus und Plinius haben das Land und die Menschen, über die sie schrieben, nicht selbst kennengelernt“ (S. 119) ist nur die Tacitus betreffende Aussage richtig. Der ältere Plinius war vielmehr neben Velleius Paterculus der einzige Römer, der in Germanien gewesen ist, darüber berichtet hat und dessen Berichte auch erhalten geblieben sind. Als Offizier lernte er die Nordseeküste und ihr Hinterland, die Donauquellen im Schwarzwald und die heißen Quellen von Wiesbaden kennen. Eindrucksvoll ist der aus der Sicht des Südländers persönlich gefärbte Bericht über die Lebensweise der Chauken (Plin. nat. hist. 16,2–4).

Mit diesem Sammelband ist eine sehr informative, viele Aspekte berührende und die verschiedensten Positionen in der Forschung berücksichtigende Behandlung eines schwierigen Themas gelungen.

Anmerkung:
1 Zur Ausstellung „Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme“ des Museums für Vor- und Frühgeschichte Berlin und des LVR-Landesmuseum Bonn vgl. <https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/germanen/> (Stand: 07.01.2021).

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