A. Mattioli u.a. (Hgg.), Intoleranz im Zeitalter der Revolutionen

Cover
Titel
Intoleranz im Zeitalter der Revolutionen. Europa 1770-1848


Herausgeber
Mattioli, Aram; Ries, Markus; Rudolph, Enno
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
€ 32,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Keller, Seebahn.NET, Zürich

Der anlässlich einer Luzerner Tagung entstandene interdisziplinäre Sammelband greift mit dem Konzept der „Intoleranz-Forschung“ ein im Zeitalter der Globalisierung und der multikulturellen Gesellschaft hochaktuelles Thema auf. Der Gegenwartsbezug wird denn auch von den Herausgebern – Markus Ries, Rektor der Universität Luzern, sowie Aram Mattioli und Enno Rudolph, Professor für Neuere Geschichte bzw. für Philosophie in Luzern – explizit hergestellt: Schon im Klappentext des Buches wird gefordert, dass die Geschichtswissenschaft sich vermehrt von Problemstellungen der Gegenwart leiten lassen sollte, und in der Einleitung erklären die Herausgeber, der Band solle „zur Selbstaufklärung der Gegenwartsgesellschaft“ beitragen und das „philosophische und historische Wissen für eine wirkliche Kultur der Toleranz“ bereitstellen (S. 17). Forschungen zur Intoleranz seien v.a. in der Geschichtswissenschaft bisher kaum anzutreffen, obwohl sich „die Geschichte der Menschheit […] als Geschichte gelebter und erlittener Intoleranz schreiben“ lasse (S. 9). Unter dem Begriff der Intoleranz verstehen die Herausgeber erstens eine „absolut setzende Wahrheitsüberzeugung“ und zweitens eine „soziale Praxis der Unterdrückung, Kriminalisierung, Pathologisierung oder gar physische(n) Vernichtung“, ausgehend von kultureller, religiöser, wissenschaftlicher, sozialer oder politischer Definitionsmacht sowie struktureller Gewalt (S. 12). Forschungen unter der Perspektive des Intoleranz-Begriffs hätten den Vorteil, eine „integrierte Gesamtsicht auf die Epoche, die über Einzelfälle hinausreicht“, zu ermöglichen (S. 17). Die Konzentration auf die Zeit zwischen 1770 und 1848 zur Intoleranz-Forschung wird mit der Herausbildung verschiedener miteinander konkurrierender politischer Toleranz-Begriffe in der Aufklärung begründet – gleichzeitig lebe der konfessionelle Toleranz-Gedanke der Frühen Neuzeit weiter.

Die Beiträge des Tagungsbandes umfassen ein breites thematisches Spektrum aus den Bereichen politische Theorie, Philosophie sowie Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte. Ulrich K. Preuss, Jürgen Habermas und Enno Rudolph beschäftigen sich mit der theoretischen Konzeption, Diskussion und historischen Entwicklung des Toleranz-Gedankens seit dem 17. Jahrhundert. Dabei wird die zentrale Stellung der Glaubens- und Gewissensfreiheit für die Entwicklung des modernen, nicht (nur) konfessionell fundierten Toleranz-Gedankens seit der Aufklärung sowie seine Verrechtlichung im modernen Rechtsstaat hervorgehoben. Zwischen Religionsfreiheit und Demokratie bzw. Verfassungsstaat bestehe nicht nur ein historischer, sondern auch ein konzeptueller Zusammenhang. Toleranz könne in einem Gemeinschaftswesen nur bei „vollständiger Inklusion aller Bürger“ gefordert werden (S. 45). Toleranz heiße die „Bereitschaft, die Verhaltenswirksamkeit einer kognitiven Dissonanz, die von sich aus nach Auflösung verlangt, mit Rücksicht auf die moralisch und gegebenenfalls rechtlich gebotene gleiche Achtung für jeden zu neutralisieren“ (S. 54).

Der Band enthält weiter Beiträge von Kaspar von Greyerz, Olaf Blaschke, Aram Mattioli und Helmut Berding, die sich mit konfessionellen Intoleranz-Phänomenen auseinandersetzen. Im Zentrum ihrer Darlegungen steht dabei die Feststellung, dass konfessionelle Intoleranz trotz Aufklärung und Rechtsstaat im 19. Jahrhundert weiter bestand, ja sogar verschärft wurde – Blaschke bezeichnet die Zeit zwischen 1815 und 1970 gar als „Zweites konfessionelles Zeitalter“ (S. 199). Am Beispiel der Judenemanzipation im deutschen Raum kann Helmut Berding exemplarisch aufzeigen, dass die Forderung nach prinzipieller Gleichstellung aller Menschen mit utilitaristisch-etatistischen Denkweisen verbunden wurde.

Dass Intoleranz nicht nur ein Charakteristikum von vor- und antidemokratischen Gesellschaften darstellt, zeigen u.a. die Beiträge von Manfred Henningsen und Dieter Langewiesche aus politik- und ideengeschichtlicher Perspektive: Während Henningsen die Entstehung des neuzeitlichen Rassismus seit dem 18. Jahrhundert in Europa und USA nachzeichnet, zeigt Langewiesche die inhärente Intoleranz neuzeitlicher Ideensysteme am Beispiel des europäischen Nationalismus auf. Nationen seien als Kampfgemeinschaften entstanden, und „Toleranz gegen die ‚Fremden’ im Innern und aussen enthielt der nationale Verhaltenskodex nicht“ (S. 286). Die Beiträge von Jonas Römer und Markus Ries behandeln Intoleranz-Phänomene im Zusammenhang mit Zensur und Pressefreiheit: Beide treffen auf das paradoxe Phänomen, dass gerade aufgeklärte Regierungen die eben eingeführte Pressefreiheit wieder einschränkten, aus Gründen der Staatsräson mit dem Argument des „Missbrauchs“.

Die sozialhistorisch ausgerichteten Beiträge von Heidi Bossard-Borner und Claudia Opitz behandeln Fragen der sozialen Diskriminierung von Frauen und Randständigen: Auch sie stellen fest, dass es prinzipielle Veränderungen im Vergleich zum Ancien Régime nicht gegeben habe – Bossard-Borner konstatiert, dass gesetzliche Liberalisierungen meist keine politischen, sondern wirtschaftliche Ursachen gehabt hätten.

Abschließend sei der innovative Beitrag von Wolfgang Schmale („L’Homme enfin satisfait. Französische Revolution und Intoleranz“) besonders hervorgehoben: Schmale versucht anhand des in der Revolution auftretenden neuen Körper- bzw. Menschenbildes zu zeigen, dass „die revolutionäre Anthropologie […] den Kern des Intoleranzdispositivs der Revolution“ ausmache (S. 151). Die Körpermetaphorik war zentral im Willen der Erschaffung eines „neuen Menschen“ und „neuen Volksköpers“ (Ebd.). Das neue mann-menschliche Körperideal schloss potentiell andere Weisen, Mensch zu sein, aus – Schmale bezeichnet dies als „Totalitarismus der revolutionären Anthropologie“ (S. 159).

Die Mehrzahl der Beiträge sind anregend und sehr informativ und zeichnen sich durch eine gute Leserbarkeit aus. Sie lassen an Detailreichtum und Mannigfaltigkeit der Perspektiven und Fragestellungen kaum zu wünschen übrig. Trotzdem und wohl auch gerade deshalb – und dies ist grundsätzlich ein Problem von Sammelbänden – leidet die in der Einleitung versuchte analytische Verknüpfung der Beitrage unter der Intoleranz-Perspektive. Unter der Formel „Intoleranz“ werden derart verschiedene Fragen erörtert und Themen behandelt, dass man sich schlussendlich mit der (an sich immer konfliktiven) sozialen Realität als Ganzes konfrontiert sieht. Dass dies durchaus im Sinne der Herausgeber liegt, zeigen die einleitend formulierten Passagen – es ist dem umfassenden Intoleranz-Verständnis des Bandes zu verdanken, dass er ein so vielschichtiges Gesicht erhalten hat.

Als analytisches Instrument hat sich der Intoleranz-Begriff vor allem bei den geschichtswissenschaftlichen Beiträgen m.E. jedoch nicht bewährt. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass viele Autoren zwar bemüht sind, den Begriff in ihre Darlegungen einzuflechten – er kann jedoch in den Ausführungen selbst nur selten gewinnbringend operationalisiert werden. Es stellt sich daher die Frage, ob die Herausgeber die Absicht, eine integrierte Gesamtsicht über die Epoche zu schaffen, nur auf Kosten der analytischen Schärfe ihres begrifflichen Instrumentariums ermöglichen konnten.

Ist somit schon die Reduktion einer Soziologie der sozialen Ungleichheit auf ein einzelnes Begriffpaar an sich schon eine Diskussion wert, so drängt sich mit dem Begriff der Intoleranz infolge seiner langen Geschichte als ethisch und politisch stark normativer Begriff unweigerlich eine wertende Perspektive auf. Den Anspruch der Herausgeber, aufzuklären und zu einer „wirklichen” Kultur von Toleranz beizutragen, tragen offensichtlich politische Absichten; die untersuchte Intoleranz aus der Gegenwart heraus anzuprangern, anstatt sie aus der untersuchten Zeit heraus zu verstehen, dies ist auch in einigen wenigen Beiträgen spürbar. Dass dieses Problem jedoch auch erkannt wurde, lässt sich an einer Formulierung von Kaspar von Greyerz exemplarisch aufzeigen: „Was aus historischer Sicht als intolerant gelten kann, vermag sich erst aus dem genauen Vergleich zwischen unseren wertenden kategoriellen Ansprüchen und dem spezifischen historischen Kontext herauszuschälen.“ (S. 58) Die teilweise vorhandene Normativität der Beitrage ist an sich nicht problematisch, da diese von den Herausgebern offen gelegt wird – doch gerät man damit unweigerlich in eine politische Diskussion um das zeitgenössische Toleranzverständnis hinein. Würde man diese Diskussion eröffnen, so könnte man den Herausgebern beispielsweise mit Slavoj Zizek („Ein Plädoyer für die Intoleranz“, Wien 2001) entgegenhalten, ihr Wille zu mehr Toleranz sei nur ein weiterer Beitrag zum „lispelnden Konsensgeflüster im Zeitalter der Post-Politik“. Denn Intoleranz ist nicht an sich schlecht, sondern kann auch als notwendig angesehen werden, um Grenzen zu setzen und Identität zu stiften. Dennoch: Das Vorhaben, mit dem Band einer Intoleranz-Forschung in der Geschichtswissenschaft diskussionswürdige Anstöße zu geben, haben die Herausgeber bestens umgesetzt.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension