A. Rittau: Interaction Allemagne-France

Titel
Interaction Allemagne-France. Les habitudes culturelles d'aujourd'hui en questions. Préface de Joseph Jurt


Autor(en)
Rittau, Andreas
Erschienen
Paris 2003: L'Harmattan
Anzahl Seiten
394 S.
Preis
€ 31,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabella von Treskow, Institut für Romanistik, Universität Potsdam

Wer weckt uns in der bürgerlichen Kellerwelt? Es sind die Kulturwissenschaftler, die ihren ethnologisch geschulten Blick auf die scheinbar harmlosen Dinge und Handlungen des Alltags richten und sie als Teil einer größeren, eben „kulturellen“ Textur entziffern. Zu diesen gehört auch Andreas Rittau, dessen Veröffentlichung „Interaction Allemagne-France“ im Titel ebenso die Zwischen- und Transfervorgänge meint wie den interkulturellen Ansatz und die Vermittlung von Kenntnissen über Frankreich und Deutschland. Rittau, Dozent für deutsche Kulturwissenschaft und interkulturelle Kommunikation an der Universität Paris XIII, geht es in erster Linie um Aufbrechen von Stereotypen und der Beschränkung aufs Konkrete ohne die zwingende Einordnung in große historische Zusammenhänge. Er kritisiert daher die homogenisierende und historisierende Forschung von Demorgon, setzt sich auch von der Erforschung der „transferts culturels“ ab, wie Espagne sie vorgeschlagen hat, bevorzugt statt dessen eine auf die Gegenwart ausgerichtete Perspektive und beruft sich u.a. auf neuere Arbeiten, die die Diversität und Widersprüchlichkeit von Kulturen betonen (Lüsebrink) oder auf die Individualität der Lernenden eingehen (Abdallah-Pretceille), bzw. auf die kulturanthropologischen Vorschläge von Martinez und Le Berre.1 Diese Wahl hängt eng mit Rittaus Intention zusammen: „Interaction France-Allemagne“ verfolgt ein didaktisches Anliegen der Interkulturalität und entwirft dafür eine neue Methode.

Der methodische Vorschlag ist ungeahnt originell. Die größte Überraschung besteht in der Subjektivität, die sowohl die innere Ordnung der im Buch versammelten kulturellen Phänomene wie die Auswahl der Quellen betrifft. Das dreiflügelige Konzept aus der Vorstellung von Literatur, Bild und soziologischem Kommentar wird in der Einleitung ausführlich vorgestellt und begründet. Die Beispiele setzen die Herangehensweise um und dienen gleichzeitig als Anschauungsmaterial, für den Unterricht. Noch relativ traditionell muten die Themen an. Gegliedert in fünf Kapitel werden u.a. untersucht: 1. „Espace urbain“: Mahlzeit, Wein und Bier, Inneneinrichtung, Straße usw., 2. „Moyens d’actions“: Auto, Fernsehen, Zeitung, Buch; 3. „Finalité esthétique“: Malerei-Museum, Musik; 4. „Nœuds de sens“: Symbol; 5. „Espace gépolitique“: Region, Landschaft, Grenzen. Dazu tritt als Sonderrubrik „Wasser“. Diese Themen werden nach einem dreiteiligen System präsentiert. An erster Stelle steht die Literatur des 20. Jahrhunderts, an zweiter das Bild (Fotografien, Zeichnungen, Werbeplakate etc.), an dritter Zusammenfassungen aus jüngsten Presse- und Medienberichten. „Musik“ wird z.B. über Ausschnitte aus Klaus Manns „Der Wendepunkt“, aus Danièle Sallenaves „Les portes de Gubbio“ und Thomas Bernhards „Der Untergeher“, über eine Grafik Tischers zu Bach, eine „Elektronische Studie“ Karlheinz Stockhausens, über Fotos der Philharmonie in Berlin und der Cité de la musique nahe gebracht. Literatur, Bild („Visualisation“) und Zusammenfassungen („Synthesen“) fungieren dabei als verschiedene Motoren der Wahrnehmung und Sinnzuweisung. Mit Hilfe der Literatur - immer die so genannte „hohe Literatur“ - soll für das jeweilige Thema sensibilisiert werden. Dazu zählt auch die Erkenntnis der Brüchigkeit herkömmlicher Klassifikationen und des ethnozentrischen Standpunktes. Literatur wird hier, wie Joseph Jurt bemerkt, mit Bourdieu als kulturelles Kondensat angesehen. Mit Hilfe der Bilder soll ein Bewusstsein der Non-Universalität der eigenen Kultur und die Konfrontation mit der „essentiellen Polyvalenz“ (S. 29) des Visuellen erreicht werden: Die visuelle Polyvalenz verdoppele diejenige der literarischen Dimension und trete ihr doch eigenständig entgegen. Die Bestandsaufnahmen zum Thema sollen die kritische Organisation des Wissens bewirken, zum einen in Bezug auf die eigene und die fremde Landeskultur, zum anderen in Bezug auf die unterschiedlichen Medien, die Wissen transportieren. Die so bezeichnete „Actualisation“ bietet zumeist einen soziologischen, z.T. auch einen am Merkantil-Kommerziellen oder am Institutionellen orientierten Zugang zum Thema. Sie liefert eine hohe Zahl von Informationen, basierend auf umfassender Dokumentation. Fast meint man, damit würde ein Gegengewicht zu den ca. halbseitigen literarischen Exzerpten und den fotografischen Momentaufnahmen gebildet, so dass sich die (auch vom Autor selbst diskutierte) Frage nach der Repräsentativität der Texte und Bilder förmlich aufdrängt. Anregend ist die Methode allemal. Insgesamt zeigen die Fotos eher die Ähnlichkeit bestimmter nationalkultureller Aspekte, die Texte eher die Diversität und versucht die Synthese eine verbindende, aber differenzierte Bilanz.

Das inhärente Problem der interkulturellen Forschung - die Zugehörigkeit der Wissenschaftler zu einer der untersuchten Kulturen bzw. das Leben à cheval zwischen zwei Kulturen, wie Joseph Rovan, Alfred Grosser u.v.a. mehr es praktizierten und praktizieren -, macht Methode und Zuschnitt des Gegenstands immer auch zu einer persönlichen Angelegenheit. Ihr geht Rittau nicht aus dem Weg. Dass die Auswahl der Texte einer individuellen, dabei wiederum recht kanonischen Wahl folgt, mag nachvollziehbar sein. Dass aber das zur Verfügung gestellte Fotomaterial vom Autor selbst stammt, ist ebenso ungewöhnlich wie die Synthesen es sind. Aus der Subjektivität macht Rittau also keinen Hehl, sondern ein polyperspektivisches Konzept. Die Heterogenität des Zugangs und des Assortiments schafft Raum für Zustimmung und Kritik. Kulturwissenschaft zeigt hier ihre verletzliche Seite. Sie setzt ohne Umschweife auf die Individualität des Forschers bzw. Lehrers und seines Publikums, lebt von der Überraschung und von der Auslassung. Die ideelle Vernetzung der präsentierten Fragmente fordert der Autor wohlwissend ein. Wenn wir uns also anlässlich des Abschnitts zur Werbung mit Bachmann die Frage stellen „Wohin aber gehen wir“ 2, dann dürfen wir „heiter und mit musik“, trotz der von Rittau konstatierten Entfernung der Hochliteratur von der aktuellen Musik und Musikszene (S. 239), d.h. trotz der Diskrepanzen, die die Methode hervorbringt, antworten: „Sei ohne Sorge“ - die Kulturwissenschaft sucht ihre „données“ und weiß um ihre „Dynamik“ (S. 66). Dass Originalität dabei kein Schade ist, zeigt dieses Buch.

Anmerkung:
1 Vgl. z.B. Demorgon, Jacques, Vivre et penser l’interculturalité franco-allemande, in: Allemagne d’aujourd’hui 140 (1997); Espagne, Michel, Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999; Lüsebrink, Hans-Jürgen, Französische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation. Theorieansätze, Gegenstandsbereiche, Forschungsperspektiven, in: ders., Röseberg, Dorothee (Hgg.), Landeskunde und Kulturwissenschaft in der Romanistik, Tübingen 1995; Abdallah-Pretceille, Martine, L’education interculturelle, Paris 1999; Martinez, Pierre, La didactique des langes étrangères, Paris 1998; Le Berre, Marie-Bernadette, De la civilisation à l’anthropologie culturelle, in: Cahiers pédagogiques 360 (1998).
2 Bachmann, Ingeborg, „Reklame“, in: Anrufung des Großen Bären, Werke, Bd. 1. München 1978, S. 114 (vgl. Rittau: Interaction France-Allemagne, Abschnitt „publicité“, S. 136).

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