A. Luther (Hrsg.): Geschichte und Fiktion in der homerischen _Odyssee_

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Titel
Geschichte und Fiktion in der homerischen Odyssee.


Herausgeber
Luther, Andreas
Reihe
Zetemata 125
Erschienen
München 2006: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernadette Descharmes, DFG-Graduiertenkolleg "Freunde, Gönner, Getreue", Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Der vorliegende Sammelband basiert auf Vorträgen einer interdisziplinären Tagung, die im Oktober 2003 an der Freien Universität Berlin stattfand.1 Das übergeordnete Ziel dabei war, die Grenzen zwischen Fiktion und Geschichte in Homers Epos zu definieren. Auch der Sammelband verspricht, verschiedene Aspekte der homerischen Lebenswelt unter dieser Fragestellung zu betrachten. Da das Studium der homerischen Werke in der althistorischen Forschung oftmals nur spekulative Schlussfolgerungen ermöglicht, klingt das Anliegen verheißungsvoll. Doch leider werden in diesem Band die in der kurzen Einleitung erwähnten wesentlichen Versprechen nicht erfüllt. Den Bezug zum übergeordneten Ziel, das Spannungsfeld von Fiktion und Geschichte in der Odyssee zu erörtern, stellen die wenigsten Beiträge her. Mehrere Aufsätze werden der übergeordneten erkenntnisleitenden Fragestellung in schwerfälliger Weise oder gar nicht gerecht.

Dennoch werden Themen aufgegriffen, die vorwiegend sozial- und institutionsgeschichtlich zu verorten sind und auf diesem Feld durchaus interessante Ergebnisse liefern. Insgesamt elf Aufsätze untersuchen Aspekte wie Staatlichkeit und Freundschaft, vergleichen historische Realia mit dem literarischen Text oder stellen methodische und textimmanente Probleme in den Vordergrund. Es wird also ein breites Spektrum an Inhalten und Herangehensweisen aufgefächert. Der Althistoriker Pedro Barceló nimmt sich der breit und kontrovers diskutierten Frage an, inwiefern das homerische Gemeinschaftsleben Züge von Staatlichkeit aufweist. Nach Barceló ist Homer die Polis ebenso vertraut wie andere Formen organisierten Zusammenlebens und weist bereits „alle Bausteine der späteren Vorstellung von Staatlichkeit“ (S. 16) auf. Um den Institutionalisierungsprozess der Polis geht es auch im Beitrag von Martin Dreher. Er legt überzeugend die besondere Form der Hikesie in der Odyssee dar, indem er sie von der Form des sakralen Asyls und der personengebundenen Hikesie der Ilias sowie von der Ortsgebundenheit der klassischen Zeit abgrenzt.

Zwei stärker sozialgeschichtlich ausgerichtete Beiträge stellen die Aufsätze von Peter Spahn und Martin Schmidt dar. Schmidt beleuchtet die soziale Zusammensetzung des Landguts des Odysseus und die Bindungsverhältnisse zwischen Sklaven und Herrn. Er beobachtet, dass Homers poetische Sprache archaisiert und überhöht. Homer tilge zwar die weniger euphemistischen Bezeichnungen seiner Zeit, verschweige aber nicht „die Grundfakten des sozialen Lebens“ (S. 128), zu denen die Unfreiheit der Sklaven nun einmal zählte. Peter Spahn setzt gleichfalls bei den Begriffen Homers an und gliedert diverse Typen von Freundschaft auf. Gewinnbringend ist nicht nur die begriffliche Differenzierung und Abgrenzung zwischen verschiedenen freundschaftlichen und feindlichen Beziehungen, sondern auch der diachrone Vergleich dieser Begriffe, die ihm eine Einordnung der homerischen Kommunikations- und Beziehungsformen in den historischen Kontext erlauben. Diese Aufsätze tragen zur Diskussion über die (Nicht-)Staatlichkeit und über den Entstehungsprozess der Polis bei und veranschaulichen soziale Beziehungsstrukturen und Veränderungen. Sie sprechen im Rahmen ihrer thematischen Ausführungen zwar Probleme der historischen Bestimmung der homerischen Lebenswelt an, versäumen aber weitgehend, konkret und explizit auf die Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Fiktion einzugehen.

Eine Methode, dem Thema „Geschichte und Fiktion“ in deutlicher Art gerecht zu werden, präsentieren die Beiträge von Alexandra von Lieven und Andreas Luther. Lieven vollzieht eine deutliche Gegenüberstellung archäologischer und literarischer Quellen einerseits und der Odyssee andererseits. Um „Das Ägyptenbild der Odyssee“ zu rekonstruieren, überprüft sie die verschiedenen Episoden, die sich auf Ägypten beziehen, auf einen historischen Kern hin. Dieses Vorgehen legt den Schluss nahe, dass die ägyptischen und homerischen Erzählungen weniger aus einem historischen Hintergrund heraus zu erklären sind. Wahrscheinlicher ist es wohl, dass es sich um homerische und ägyptische Sageninhalte und Kulturgegenstände handelt, die wechselseitig aufeinander wirkten und Bezug aufeinander nahmen. Auch Andreas Luther, der Herausgeber des Bandes, wagt eine deutliche Abgleichung der Odyssee mit anderen historischen Quellen. Dabei geht es ihm um die historische Bedeutung, die die Odyssee für die Adeligen Euboias trug. Da zwischen den märchenhaften Phäaken und den Bewohnern des historischen Euboias mehrere Gemeinsamkeiten und Verbindungen bestehen, spricht einiges dafür, dass Scheria, die Phäakeninsel, den Adeligen Euboias als Identifikationsmittel diente. Mit dieser Interpretation weist Luther in eine neue Richtung entgegen der allgemeinen Auffassung, die Scheria mit Kerkyra identifizieren will.

In einem archäologischen und ikonographischen Vergleich antiker Musikinstrumente analysiert Monika Schuol die Formen des dichterischen Vortrags und auch der Musikinstrumente bei Homer. Im Epos werden nicht nur als Begleitung zum Tanz musiziert oder alte Geschichten besungen, auch Neuigkeiten werden thematisiert und dadurch verbreitet. Dies ist auch die künstlerische und gesellschaftliche Funktion des Gesangs und des Sängers in archaischer Zeit: „Er [der Sänger] verkörpert gewissermaßen das ‚kulturelle‘ Gedächtnis“ (S. 152). Die Erkenntnis, dass durch diese dichterische Leistung Fiktion und Realität vermengt werden, drängt sich aus dieser Perspektive geradezu auf. Auch Renate Schlesier bringt das Konzept des „kollektiven Gedächtnisses“ ein. Aber es ist nicht die Vermengung von Geschichte und Fiktion, die Schlesier thematisiert, sondern vielmehr die Überschreitung der Grenze zwischen erzählendem Protagonisten und Dichter. Odysseus selbst erzählt seine Reisegeschichte, die sein „Überleben im kollektiven Gedächtnis garantiert“ (S. 108).

In den philologisch orientierten Beiträgen ist der Bezug zum Thema „Geschichte und Fiktion“ schwer auszumachen. Der Althistoriker Heinrich Schlange-Schöningen untersucht, wie unterschiedliche literarische Quellen die Charaktereigenschaften des Odysseus darstellen. Er vertritt die These, dass der Dichter die negativen Seiten seines Helden ausblenden wollte und deshalb bestimmte Teile des Sagenkomplexes aussparte: den Palamedes-Stoff und die Erzählung vom Waffenstreit zwischen Odysseus und Aias. Ausgangspunkt für den Altphilologen Norbert Blößner ist die empirische textliche Analyse. Auf Grundlage des computergestützten „Regensburger Iteratenverzeichnisses“ klassifiziert er wiederholt auftauchende Wortverbindungen (Iterate). Blößners Beitrag bietet in erster Linie einen Ausblick auf die Möglichkeiten, die mit dieser Methode für die Homerforschung eröffnet werden, sowie ein Resümee über die bisher erlangten Ergebnisse, welche die Methoden und Resultate der unitarischen und analytischen Theorie sowie auch der Forschungen zur oral-poetry in Frage stellen. Jan Stenger untersucht eine auf Grundlage des geteilten kulturellen Gedächtnisses bestehende Erwartungshaltung der Zeitgenossen Homers. Da die literarische Konvention, die „Abmachung zwischen dem Rhapsoden und dem Publikum“ (S. 217), an manchen Stellen verletzt wurde, war der Zuhörer gezwungen, Interpretationshypothesen aufzustellen; die auftretenden Lücken setzten ein Wissen voraus, über welches das Auditorium verfügt haben muss und mit dem es den Text selbst ergänzen konnte. Erkennbare Brüche hinterfragt Stenger mit dem Ziel, das Verhältnis zwischen Rezipienten und Dichter genauer zu bestimmen.

Da diesem Sammelband letztlich nicht nur übergeordnete methodische Bezugspunkte, sondern auch thematische Anknüpfungen fehlen, werden die Möglichkeiten, die ein solches disziplinübergreifendes Unternehmen bieten kann, nicht genutzt. Eine ausführlichere Einleitung hätte die Begriffe „Geschichte“ und „Fiktion“ und damit wohl auch die Fragestellung konkretisiert. Sie hätte die Inhalte in einen thematischen Zusammenhang gebracht, um die Beiträge für den Leser zugänglicher zu gestalten. Eine solche Einleitung fehlt jedoch. In manchen Beiträgen bleibt es zudem dem Leser überlassen, Bezüge zum Leitthema herzustellen, anstatt sie in einem kurzen Resümee deutlich zu machen. Dennoch zeigen einzelne Beiträge, dass die vielfältigen Möglichkeiten der vergleichenden Quellenarbeit Erkenntnisse über den Entstehungsprozess und den gesellschaftlichen Hintergrund des Epos beisteuern. Deshalb ist zu würdigen, dass der Herausgeber zahlreiche neue und gewinnbringende Untersuchungen zu einer Vielfalt von Aspekten der Leserschaft zugänglich macht. Die Odyssee als historische Quelle zu verorten sowie das Spektrum der Möglichkeiten vorzustellen, die der Quelle unter historischer Perspektive neue Erkenntnisse abringen, ist diesem Tagungsband somit gelungen.

Anmerkung:
1 Rezeptionsgeschichtliche Beiträge derselben Tagung sind in einem gesonderten Sammelband zu finden: Luther, Andreas (Hrsg.), Odyssee-Rezeptionen, Frankfurt am Main 2005.

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