Titel
Schuldig. NS-Verbrechen vor deutschen Gerichten


Herausgeber
KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Reihe
Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, H. 9
Erschienen
Bremen 2005: Edition Temmen
Anzahl Seiten
207 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Kaminsky, Ruhr-Universität Bochum

Die in loser Folge erscheinenden „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“ beschäftigten sich bereits 1997 einmal mit den frühen Nachkriegsprozessen gegen NS-Verbrecher durch die Alliierten. Nunmehr sammeln sich im vorliegenden neunten Band Beiträge über Prozesse, die vor deutschen Gerichten geführt wurden und besonders das öffentliche Bild von der NS-Vergangenheit prägten. Zudem geben sie Auskunft über die deutsch-deutsche Kooperation bzw. Obstruktion in Ermittlungs- und Strafverfahren, die besonders von der DDR im Rahmen vergangenheitspolitischer Kampagnen genutzt wurden. Auf den Dokumentations-, Meldungs- und Besprechungsteil des Bandes sei hier nicht detailliert eingegangen.

Der Beitrag von Claudia Fröhlich beschäftigt sich mit dem frühen Prozess gegen Otto Ernst Remer, der in seinem 1951 veröffentlichen Erlebnisbericht über den Aufstandsversuch des 20. Juli 1944 die Widerständler verunglimpfte. Remer war Vorstandsmitglied der rechtsextremen Sozialistischen Reichspartei und 1944 als Kommandeur des Wachbataillions „Großdeutschland“ persönlich an der Niederschlagung des Aufstandsversuchs beteiligt gewesen. Im Kampf gegen dessen Selbstentschuldung gelang dem Generalstaatsanwalt Fritz Bauer vor dem Braunschweiger Landgericht eine Rehabilitierung der militärischen Widerstandskämpfer, deren Handeln im Unrechtsstaat unter Bezug auf das Widerstandsrecht juristisch legitimiert wurde. Fröhlich verschweigt nicht die Kosten des im Ergebnis klugen Vorgehens Fritz Bauers: Die Abgrenzung der auch von der Bundesregierung instrumentalisierten „nationalen Freiheitsbewegung“ des 20. Juli vom vermeintlich landesverräterischen Widerstand der Roten Kapelle, dessen Anerkennung den antikommunistischen Konsens der Bundesrepublik gefährdet hätte. Georg Wamhof verweist unter allen Beiträgen am stärksten auf die Schwierigkeiten, die mangels gegenseitiger Anerkennung der beiden deutschen Staaten den Austausch von Ermittlungsergebnissen lange behinderten. Am Beispiel des Verfahrens vor dem Essener Landgericht wegen Verbrechen im KZ Mittelbau-Dora (1962-1970) zeichnet er das politische Selbstdarstellungsinteresse der DDR als antifaschistischer Staat mit Hilfe der Regelung des Informationsflusses an westdeutsche Ermittler und Gerichte nach.

„Fragen Sie Professor Kaul“ – so hieß eine populäre Rechtsberatersendung im Deutschen Fernsehfunk 1971 bis 1981. Dieses Motto könnte über dem Beitrag von Annette Weinke stehen, der sich mit einer der schillerndsten Personen der DDR-Justizgeschichte, dem Berliner Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul (1906-1981) befasst. Kaul, dessen persönlicher Werdegang nach Weinke, trotz des Vorliegens einer Biographie, in vieler Hinsicht nicht als widerspruchsfrei geklärt angesehen werden kann, verschrieb sich seit 1946 der SED und dem Aufbau des ostdeutschen Staats. Kaul war jüdischer Herkunft, 1945 nach einem Exil in den USA nach Deutschland remigriert und in Berlin als Anwalt zugelassen. In den 1950er Jahren verteidigte Kaul Kommunisten in westdeutschen Staatsschutzverfahren und begann Kampagnen gegen die mit NS-Richtern durchsetzte westdeutsche Justiz. Bei dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem 1960 überzeugte er die SED-Führung erfolgreich von den Vorteilen einer Nebenklagevertretung, um der DDR zu einem geschichtspolitischen Imagegewinn auf internationaler Ebene zu verhelfen. Seitdem war er wesentlich in die vergangenheitspolitischen Kampagnen der DDR gegen den bundesdeutschen Vertriebenenminister Theodor Oberländer oder den Kanzleramtsleiter Hans Globke eingeschaltet. Auch im Frankfurter Auschwitzprozess (1963-1965) agierte er in aufklärerischem Interesse wie auch im politischen Auftrag. Weinke gelingt es, sowohl seine Verdienste zu würdigen, die ihn auch bei Linken im Westen den Ruf eines bedingungslosen Aufklärers der NS-Verbrechen einbrachten, wie auch die politisch bestimmten Leerstellen und seine Selbsttäuschungen im justiziellen Antifaschismus zu erhellen.

Der kürzere Beitrag von Sabine Homann-Engel über die Ermittlungs- und Strafverfahren gegen ehemalige SS-Angehörige des KZ Neuengamme in Hamburg resümiert bis 1959 sechs Urteile mit Freiheitsstrafen. Alle späteren Ermittlungen wurden eingestellt. Die vier von ihr beschriebenen Beispiele von Hamburger Ermittlungsverfahren machen deutlich, wie spät Hinweisen und Anschuldigungen konkret nachgegangen wurde. „Verhandlungsunfähig“ könnte auch über dem „Tätigkeitsbericht“ von Jochen Kuhlmann, eines Dezernenten der Hamburger Staatsanwaltschaft, stehen. Kuhlmann war bereits 1971 bis 1985 als Staatsanwalt in Hamburg in Verfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen beteiligt gewesen und übernahm 1998 das dortige Dezernat. Trotz der Vermutung des Endes der Strafverfolgung in NS-Prozessen erhielt er durch weitergeführte Ermittlungen anderer Stellen immer wieder Anlässe für eigene neue Ermittlungen, die sich allerdings „aus biologischen Gründen auf dem letzten Teilstück ihrer langen Wegstrecke befinden“ (S. 73). Dagegen nahmen Auskunftsersuchen von Versorgungsämtern, Medien und Historikern zu. Konsequenterweise wurde der dortige NSG-Aktenbestand im Jahre 2002 dem Staatsarchiv Hamburg für die historische Forschung übergeben.

Einer der letzten großen NS-Prozesse in Deutschland war der Düsseldorfer Majdanek-Prozess (1975-1981), der allerdings, worauf Elissa Mailänder Koslov hinweist, weniger ein „Wettlauf mit der Zeit als ein Marathonlauf mit Hindernissen“ (S. 85) war. Hier ließ sich noch einmal die Verteidigungsstrategie der Verzögerung und Verschleppung seitens der Angeklagten wie auch die Schwierigkeiten mit dem Zeugenbeweis nach mehr als 30 Jahren Abstand zu den Ereignissen studieren. Auf den geschlechterspezifischen Aspekt der Strafverfolgung von NS-Verbrechen weist der Beitrag von Irmtraud Heike über die Verfahren gegen ehemalige KZ-Aufseherinnen in westdeutschen Strafverfahren hin. Deren Taten (Heike geht von über 3000 ehemaligen Aufseherinnen aus) wurden stärker psychologisiert und stärker verharmlost als bei Männern, was in den fünfziger und sechziger Jahren einer Stereotypisierung weiblicher Täterschaft Vorschub leistete, die sich, wie es hieß, im KZ in spezifischen Belastungssituationen und auf geringer Hierarchiestufe befunden hätten.

Abschließend sei noch auf die vorweg gestellte Ortsbestimmung von Oliver von Wrochem hingewiesen, der kurz und präzise den Stand der Forschung zu nationalsozialistischen Verbrechen vor Gericht zusammenfasst. Sein Hinweis auf einen im Februar 2004 vor dem Landgericht Hagen wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellten Prozess gegen einen Angehörigen der Waffen-SS unterstreicht noch einmal den Wandel der allen Beiträgen zu Grunde liegenden Ermittlungsakten der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte zu historischen Quellen. Mit diesen muss historisch-kritisch umgegangen werden; die gesellschaftspolitischen und historischen Kontexte ihrer Entstehung rücken zunehmend in den Mittelpunkt der Betrachtung. Im vorliegenden Band sind es besonders die exemplarischen Fallgeschichten mit deutsch-deutschem Hintergrund, die aus einer moralisierenden Betrachtung der mangelnden Strafverfolgung der NS-Verbrechen erlösen und den Blick auf politische Zusammenhänge richten, deren Erforschung Gewinn verspricht.

Insgesamt kommen Verhandlungen vor ostdeutschen Gerichten im vorliegenden Band aber kaum zur Sprache. Neben Hinweisen im Beitrag der mit ihrer Dissertation in diesem Feld einschlägig ausgewiesenen Annette Weinke zeichnet im Dokumentationsteil nur Herbert Diercks die Strafverfolgung des Oberarztes im SS-Sanatorium Hohenlychen, Kurt Heißmeyer, vor einem Magdeburger Gericht nach. Heißmeyer war für Menschenversuche an jüdischen Kindern, die im April 1945 in einer leer stehenden Schule am Bullenhuser Damm in Hamburg ermordet wurden, verantwortlich gewesen. Abschließend konnte er 18 Jahre unbehelligt in der DDR leben und Karriere machen. Diese mangelnde Repräsentanz der Strafverfolgung vor ostdeutschen Gerichten ist ein kleiner Wermutstropfen in einem ansonsten gelungenen Sammelband zu NS-Verbrechen vor deutschen Gerichten.

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