Titel
La santé au miroir de l'économie. Une histoire de l'économie de la santé en France


Autor(en)
Benamouzig, Daniel
Reihe
Sociologies 1
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinrich Hartmann, Frankreichzentrum, Freie Universität Berlin

Vom Nutzen der Geschichte für die Gesundheit – mit etwas Mut zur Platitüde könnte man die gerade vorgelegte Studie Daniel Benamouzigs zur "Gesundheit im Spiegel der Ökonomie" im Frankreich der Nachkriegszeit unter ein solches Motto stellen. Dem Autor geht es darum, durch die Bearbeitung einer ungeheuren Masse von Artikeln, Expertisen und Forschungsberichten aus dem Bereich der Gesundheitspolitik ein Verständnis für deren unterliegende Logiken und wissenschaftlichen Leitmotive zu entwickeln. Benamouzigs Vorgehensweise impliziert dabei eine fein differenzierte Analyse der Entwicklungslinien französischer Gesundheitspolitik der letzten 60 Jahre. Neben den sich wandelnden politischen Interessen und gesellschaftlichen Kontexten, durch die die Ökonomisierung der Gesundheitspolitik exogen bestimmt wurde, spielt dabei immer wieder die endogene Analyse der Gesundheitsexperten als soziale Gruppe und ihre professionellen Legitimierungsstrategien eine gewichtige Rolle. Gesundheitspolitik wird dadurch zu einem wissenschaftlichen Feld, dessen Funktionsweise sich nur aus dem Zusammengehen von neuen Reflexionsformen und sozialen Praktiken der Akteure verstehen lässt.1 Ohne unklar zu werden, erreicht die Analyse von Benamouzig hierdurch einen Grad von Differenzierung, der eine allzu oberflächliche Nacherzählung homogener Entwicklungslinien verbietet, eine Tatsache, die auch die Aufgabe des Rezensenten deutlich erschwert. Es sei also um Nachsicht gebeten, wenn in der folgenden Zusammenfassung nur eine Auswahl von Argumentationslinien vorgestellt werden kann.

Benamouzig gliedert die Untersuchung der französischen Gesundheitspolitik der Nachkriegszeit chronologisch in drei verschiedene Zeitabschnitte. In einem ersten Abschnitt beschreibt er die wechselhaften und teils widersprüchlichen Entwicklungen hin zu einer Ökonomisierung der Gesundheitspolitik. Durch die Ausrichtung des französischen Gesundheitssystems an den Fünf-Jahres-Plänen der vierten und beginnenden fünften Republik waren gesundheitspolitische Maßnahmen seit dem Krieg mit einer Zukunftsprognose verbunden. Das "comité du plan" zeigte dabei schnell ein Interesse daran, die medizinischen Aufgaben auch im Hinblick auf die generierten Kosten messbar zu machen. Doch trotz der frühen Institutionalisierung der ökonomischen Expertise im Bereich der Gesundheitspolitik hatten es die ökonomischen Argumente schwer, ihren Platz in einem politischen Aushandlungsprozess zu finden, der überwiegend von anderen Vorstellungsmustern bestimmt war. Benamouzig wählt in seiner Analyse dabei zwei typische Begegnungsorte dieser unterschiedlichen Leitvorstellungen aus: Zum einen die Expertengruppen zur Strukturierung des Krankenhauswesens, zum anderen den gerade in den 1960er-Jahren heftig geführten Streit um die Kosten eines menschlichen Lebens. Diese Zugangsweise ermöglicht es ihm, die "intrinsischen Eigenschaften der wirtschaftlichen Gedankengänge zu analysieren, die sich in dieser Periode wesentlich weiter entwickeln und gleichzeitig die ihnen zugedachte, aber nur gelegentlich stattfindende praktische Umsetzung" (S. 18). Dabei hatte die Beobachtung der Rationalisierungsbewegungen, die in den USA im Bereich der Gesundheitspolitik zu diesem Zeitpunkt stattfanden, eine katalysierende Funktion. Doch entwickelte sich aus der besonderen politischen Konstellation, aber auch der inneren Dynamik der Expertengruppen heraus, ein ganz eigenes Rationalisierungsmodell.

Die zweite Phase der Analyse setzt in den späten 1960er-Jahren ein. Parallel zu den Studentenunruhen kam es auch in Frankreich zu einer weitgehenden universitären Neustrukturierung. Gesundheitspolitik eroberte sich in dieser Phase auch in den Wirtschaftswissenschaften einen festen Platz. Doch auch wenn eine solche Aufnahme in den wissenschaftlichen Kanon die Realitäten der Sozialpolitik durchaus widerspiegelte, so beschränkte sich doch die neue Wissenschaft nicht auf reine Zuarbeit. Alte Forschungsinstitute wurden neu ausgestattet, neue Forschungsinstitute wurden gegründet, und das neue Fachgebiet erkämpfte sich auf diese Weise schnell eine institutionelle Autonomie jenseits des politisch Gewollten. Medizinische, aber auch ökonomische Experten nutzten diese Plattform zur Formulierung eigener Konzepte. Dies drückte sich nicht nur im Entstehen neuer wissenschaftlicher Institute aus, sondern auch in der Wiederbelebung und Umwidmung von alten wie der Consultance en Santé Publique (CREDES) oder dem ursprünglich rein medizinisch orientierten Institut national de la santé et de la recherche médicale (INSERM) aus.

In der dritten Periode sieht Benamouzig schließlich ein neues modernes Leitmotiv hervortreten: den Primat der praktischen Umsetzung medizinisch-wirtschaftlicher Expertisen. So gelingt es dem Autor zu zeigen, wie die beiden Wissenschaftslinien seit den 1980er-Jahren im Rahmen von Evaluierungskommissionen zueinander finden. Durch die Tätigkeit in diesen Kommissionen integrierten damit viele Mediziner das wirtschaftliche Element in den festen Katalog ihrer professionellen Bewertungskriterien. Somit erweiterte sich die Dialektik der zwei wissenschaftlichen Felder auf eine intrinsische Dynamik und blieb nicht auf eine rein institutionelle Zusammenarbeit beschränkt. Doch in eben dieser dialektischen Logik erkennt Benamouzig in seinem Schlusskapitel einen neuen Pol, in dessen Gravitationsfeld die Gesundheitspolitik mehr und mehr gerät: die "liberale Versuchung". Durch die Ökonomisierung des wissenschaftlichen Feldes würde das Gesundheitssystem empfänglich für einen Argumentationskomplex, der vorher außerhalb seiner Logik gelegen habe. Schließlich bildeten sich hierdurch aber auch vermehrt die Kriterien für eine internationale Vergleichbarkeit heraus.

Die Arbeit Benamouzigs führt den Nutzen der historischen Analyse für das Verständnis eines politisch gewachsenen Systems, aber auch der endogenen Dynamiken eines wissenschaftlichen Feldes vor. Gleichzeitig zeigt er damit deutliche Parallelen zu neuesten Studien zur Geschichte wissenschaftlicher Politikberatung in der Bundesrepublik auf 2, die ebenfalls den langsamen Wandel in der Konzeption der politischen Finalitäten konstatieren. Dennoch ergeben sich für den Historiker bei der Lektüre von Benamouzigs Studie auch Schwierigkeiten, die sich in erster Linie aus der rein funktionalisierten Perspektive auf die Geschichte ergeben. Benamouzigs Thesen setzen auf die Analyse einer differenzierten und in sich häufig genug widersprüchlichen, doch nichts desto weniger stringenten Bewegung hin auf die heutige Architektur des Gesundheitssystems zwischen Institutionen, Professionen und gedanklichen Logiken (S. 449ff.). Eine zumindest andeutungsweise skizzierte Vorgeschichte dieser Linien, die auch die Situation vor dem Krieg mit beschreibt, liegt dabei außerhalb dieser Perspektive. Doch damit vergibt sich der Autor die Chance, die Entwicklung einerseits im Dialog mit großen historischen Eckdaten darzustellen und sie andererseits in Linien einzuordnen, die den bloßen nationalen Rahmen überschreiten – mehr als dies mit der andeutungsweise einbezogenen Amerikanisierung vollzogen wurde. Es bleibt damit ein wenig bedauerlich, dass dem dialektischen Dreischritt – freilich ein essentielles Merkmal vieler französischer Arbeiten – zu schnell die Beschreibung breiterer Entwicklungslinien geopfert werden.

Die überaus detailreiche und differenzierte Analyse hat zudem den Nachteil, dass der Aufbau der Arbeit sich nur langsam erschließt. Gerade dem nicht-französischen Leser sei zudem empfohlen, sich für die Lektüre mit einem guten Abkürzungsverzeichnis auszurüsten, da auf die Aufschlüsselung der berüchtigten und zahlreich auftretenden französischen Abkürzungen in der Regel verzichtet wird.

Diese Kritikpunkte mögen dem Historiker besonders auffallen, stellen den Wert der vorliegenden Arbeit an sich aber nicht in Frage, machen in gewisser Weise sogar gerade deren Besonderheit aus. Im Gegensatz zu neueren Studien zur Geschichte der deutschen Gesundheitspolitik 3 geht er weit über das bloße Sujet hinaus. Nichts wäre etwa unzutreffender, als Benamouzig mit einer Materialsammlung zu vergleichen, wie sie derzeit in gigantischer Form im Auftrag des deutschen Sozialministeriums vorgelegt wird.4 Sein Ziel ist es zu zeigen, wie aus den Debatten um die Gesundheitspolitik ein privilegierter Begegnungsort verschiedener Wissenschaftsformen geworden ist. Die Arbeit ergänzt somit durch ihre soziologische Perspektive ein Feld neuerer Forschungen zur Historizität von Gesundheitssystemen und Gesundheitspolitik, aber auch der epistemologischen Spurensuche nach dem Aufbau wissenschaftlicher Felder.

Anmerkungen:
1 Im Sinne von: Vogel, Jakob, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der „Wissensgesellschaft“, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 639-660; Szöllösi-Janze, Margit, Politisierung der Wissenschaften – Verwissenschaftlichung der Politik. Wissenschaftliche Politikberatung zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Fisch, Stefan; Rudloff, Wilfried (Hgg.), Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 79-100.
2 Nützenadel, Alexander, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949-1974, Göttingen 2005.
3 Woelk, Wolfgang; Vögele, Jörg, Geschichte der Gesundheitspolitik in Deutschland. Von der Weimarer Republik bis in die Frühgeschichte der "doppelten Staatsgründung", Berlin 2002; Lindner, Ulrike, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, München 2004.
4 Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg. v. Ministerium für Arbeit und Soziales u. v. Bundesarchiv, Baden-Baden ab 2001, geplant 11 Bände.

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