M. Kittel: Stiefkinder des Wirtschaftswunders

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Titel
Stiefkinder des Wirtschaftswunders?. Die deutschen Ostvertriebenen und die Politik des Lastenausgleichs (1952 bis 1975)


Autor(en)
Kittel, Manfred
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 182
Erschienen
Düsseldorf 2020: Droste Verlag
Anzahl Seiten
671 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mathias Beer, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen

„Was haben der Mond und die Vertriebenen gemeinsam? Sie kommen beide aus dem Osten und haben alle einen Hof.“ Dieser Witz kursierte in der frühen Bundesrepublik. Er bringt einen Aspekt pointiert auf den Punkt: den Neid und die Vorurteile der eingesessenen Bevölkerung gegenüber den Vertriebenen und Flüchtlingen. Neben anderen Gruppen hatten sie, rund neun Millionen und damit 1961 über 21 Prozent der Gesamtbevölkerung, einen gesetzlichen Anspruch auf Ausgleich für das Vermögen, das sie als Folge der Flucht und Ausweisung aus den Ostgebieten des Reiches und einer Reihe von Staaten Ostmitteleuropas während und am Ende des Zweiten Weltkrieges verloren hatten. Der Witz steht für die Konfliktgemeinschaft, die die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft charakterisiert. Deren Spaltung in Alt- und Neubürger, in eine Gruppe, die als Folge des Krieges in der Regel weniger Vermögensverluste zu verzeichnen hatte, und eine Gruppe, die alles verloren hatte, wurde erst in einem Jahrzehnte dauernden Prozess überwunden. Im Rahmen dieses zentralen Kapitels der Geschichte der Bundesrepublik hat der „Lastenausgleich“ einen herausgehobenen Stellenwert. Er half, die ungleich verteilten materiellen Auswirkungen des Krieges zwar nicht auszugleichen, aber abzumildern.

Bereits die Präambel des Gesetzes zur Währungsreform schrieb 1948 eine künftige Regelung des Lastenausgleichs fest. Dieser erfolgte aufgrund der Vorgaben der Alliierten ein Jahr später zunächst im Rahmen des Soforthilfegesetzes. Es bot durch den Krieg in Not geratenen Menschen erste Hilfen an – Vertriebenen, SBZ-Flüchtlingen, Kriegssachgeschädigten, Währungsgeschädigten, Verfolgten des NS-Regimes, Spätheimkehrern. Am 1. September 1952 trat dann nach langen und kontroversen Auseinandersetzungen das „Gesetz über den Lastenausgleich“ (Lastenausgleichsgesetz – LAG) in Kraft. Es legte eine den „volkswirtschaftlichen Möglichkeiten“ entsprechende individuelle, zum verlorenen Vermögen indirekt proportionale Teilentschädigung der Betroffenen fest und erfuhr bis in die Gegenwart 35 Novellen. Die Lastenausgleichsmittel speisten sich aus einer Vermögens-, Hypothekengewinn- und Kreditgewinnabgabe mit Ratenzahlungen der Altbürger bis 1979 sowie aus Steuermitteln des Bundes und der Länder. Für die Ausgabenseite wurde ein Ausgleichsfonds eingerichtet und mit dem Bundesausgleichsamt (BAA) eine eigene Behörde geschaffen, die die Aufsicht über die Landesbehörden hatte. In der Hochphase gab es rund 6.000 Ausgleichsämter. Die Leistungen nach dem LAG kamen zu zwei Dritteln Vertriebenen, Flüchtlingen und Aussiedlern zugute. Den Rest erhielten kriegssach- und währungsgeschädigte Einheimische, hier vor allem die Millionen Flieger- und Bombengeschädigten. Den Anspruchsberechtigten wurden im Rahmen des LAG, der größten einschlägigen Wirtschafts- und Finanztransaktion der deutschen Geschichte, nach Angaben des BAA bisher umgerechnet rund 75 Milliarden Euro ausbezahlt. Der Lastenausgleich förderte die Eingliederung von einem Drittel der westdeutschen Gesamtbevölkerung – wirtschaftlich, sozial, politisch und psychologisch. Zudem war er ein der Gesellschaft insgesamt zugutekommendes Konjunkturprogramm. Er hatte eine pazifizierende Funktion bei der Entstehung der neuen bundesdeutschen Gesellschaft.

Angesichts der Bedeutung des Lastenausgleichs in der Geschichte der Bundesrepublik überrascht die geringe Zahl an wissenschaftlichen Publikationen zum Thema.1 Diese Forschungslücke verkleinert Manfred Kittel mit seiner quellengesättigten, inhaltlich weit ausgreifenden und quantitativ äußerst umfangreichen Publikation einerseits erheblich. Andererseits ordnet er seine Befunde einer anfechtbaren These unter. Sein Ausgangspunkt ist der bereits zeitgenössisch nicht nur von Vertriebenenvertretern immer wieder artikulierte Hinweis, dass der Anstieg der Lastenausgleichszahlungen weit hinter dem Bruttosozialprodukt und den Steuereinnahmen der Bundesrepublik zurückgeblieben ist. Veranschaulicht wird das nicht zuletzt mit einer Grafik aus dem Nachrichtenmagazin des Bundes der Vertriebenen, „Deutscher Ostdienst“, vom 8. Juni 1965 (S. 614).

Von diesem Befund ausgehend scheint die Leitfrage des Buches bereits im Haupttitel durch. Wurden die Vertriebenen nicht nur ihrer Heimat beraubt, sondern wurde ihnen mit der Ausgestaltung des LAG auch die gleichberechtigte Teilhabe an der dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik vorenthalten? Kittel interessiert die Frage, weshalb die Leistungen aus dem LAG nicht den rasanten wirtschaftlichen Entwicklungen, also den im LAG festgeschriebenen „volkswirtschaftlichen Möglichkeiten“ entsprachen. Er knüpft dabei an Überlegungen von Hans-Jürgen Gaida an. Dieser hat in seiner 1973 publizierten Dissertation die These aufgestellt, dass es den Parteien der Bundesrepublik gelungen sei, die politischen Willensäußerungen der Vertriebenenvertreter zu absorbieren, und dass die Vertriebenenverbände ihre Erfolglosigkeit beim LAG mit dem Kampf um das Heimatrecht, also via Heimatpolitik, kompensiert hätten.

Um diese Deutung zu überprüfen, untersucht Kittel ausschließlich auf Bundesebene nicht nur die Lastenausgleichskonzeptionen der Vertriebenenverbände, der einzigen dezidierten Vertriebenenpartei – dem Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) – und der anderen wichtigsten im Bundestag vertretenen Parteien. Er fragt auch nach dem Verhältnis zwischen einheimischen und ostdeutschen Mitgliedern und Funktionsträgern innerhalb der einzelnen Parteien. Dabei leuchtet er die Machtverhältnisse aus, die die Vertriebenen zu angeblichen „Stiefkindern des Wirtschaftswunders“ machten. Einem dezidiert politikgeschichtlichen Ansatz verpflichtet, untersucht Kittel das Schnittfeld von Vertriebenen- und Sozialpolitik. Letztendlich zielt er auf „ein breites Sittengemälde der (partei-)politischen Integration der Vertriebenen“ (S. 29). Er hat dabei ein Zeitfenster im Blick, das von der Verabschiedung des LAG (1952) bis 1975 reicht, dem Jahr, in dem die 28. Novelle des Gesetzes verabschiedet wurde. Mit ihr ging ein Stück Nachkriegsgeschichte zu Ende, auch wenn die letzte, 108. Rate der Vermögensabgabe erst 1979 fällig war und der Lastenausgleich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der deutschen Wiedervereinigung eine letzte Konjunktur erlebte.

Die gut lesbare Studie strukturiert das auch finanztechnisch äußerst komplexe und politisch brisante Thema klar in vier Kapitel. Nach einem „Prolog“ (Fragestellung, Methode, Forschungsstand, Quellenlage) liefert das erste, ereignis- und institutionengeschichtliche Kapitel die Grundlage für die Studie. Neben den „Weichenstellungen“ für den Lastenausgleich, dem breiten Spektrum an Leistungen und den Finanzquellen für den Ausgleichsfonds werden der Verwaltungsapparat vorgestellt, einschließlich der Heimatauskunftstellen, über die die Vertriebenen als Hilfsbürokratie zusätzlich in den Lastenausgleich einbezogen waren. Das Herzstück der Studie bildet das zweite und umfangreichste Kapitel. Es fokussiert in vier Unterkapiteln auf die Akteure und deren Interessen im Rahmen des Lastenausgleichs. Dabei analysiert Kittel zunächst die Vertriebenenorganisationen, um dann die konkurrierenden Anspruchsgruppen (Verband der Fliegergeschädigten, SBZ/DDR-Flüchtlinge) in den Blick zu nehmen. Breiten Raum widmet die Studie den politischen Parteien und ihrem parlamentarischen Wirken bei der Entstehung und Entwicklung des LAG – von der CDU und CSU über den BHE, die SPD und FDP bis hin zu Parteien am links- und rechtsextremen Rand. Schließlich wird die Dominanz des Bundesfinanzministeriums, das für die Aufbringung der Mittel zuständig war, gegenüber dem Bundesvertriebenenministerium thematisiert, das nicht von Anfang an für die Ausgabenseite zuständig war. Chronologisch, von 1952 bis in die Spätphase des Ausgleichsfonds, verfolgt das dritte Kapitel die Grenzen, an die der Lastenausgleich stieß. Das vierte Kapitel geht auf den Lastenausgleich in den Zeiten der neuen Ostpolitik ein, als mit der 28. Novelle im Januar 1975 vermeintlich ein Schlussgesetz zum LAG vom Bundestag verabschiedet wurde. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse rundet das Buch ab.

Die hier nur in Stichworten angerissene Analyse der politischen Entscheidungsprozesse beim Lastenausgleich fußt auf einer äußerst breiten Grundlage. Sie umfasst Aktenbestände aus 22 Archiven, publizierte Quellen sowie Presseauswertung. Hinzu kommt ein 18-seitiges Literaturverzeichnis. Das umfangreiche Material schlägt sich in nicht weniger als 3.007 Fußnoten nieder. Die detaillierte und kenntnisreiche Studie ist sicher für absehbare Zeit die maßgebliche Referenzpublikation zum Lastenausgleich. Einerseits ist sie ein Kompendium, das eine solide Grundlage für notwendige weitere Forschungen schafft. Andererseits steht die Studie unter einer bestimmten erkenntnisleitenden Frage, die den Befunden nicht gerecht wird. Welche Schlüsse zieht Kittel aus der breit angelegten Analyse, und wie sind diese einzuschätzen?

Nachdem der Autor systematisch Licht in das Dickicht von Interessengruppen und Parteien beim Lastenausgleich gebracht hat, kommt er abschließend auf seine Leitfrage zurück: Weshalb ist es den Vertriebenen nicht gelungen, „einen Lastenausgleich auf Augenhöhe mit dem rasch beginnenden ‚Wirtschaftswunder‘ durchzusetzen?“ (S. 615). Er benennt zutreffend eine Reihe von Faktoren, von denen hier nur einige anzuführen sind. Einen sieht Kittel in einer informellen Großen Koalition des eher linken Flügels von CDU/CSU und SPD sowie, damit verbunden, auch in der unterproportionalen Vertretung von Ostvertriebenen in den großen Parteien und den für den Lastenausgleich entscheidenden Gremien. Ein anderer Grund liege in der angesichts des Koalitionsverbots der Alliierten verspäteten politischen Organisation der Vertriebenen, die darüber hinaus in sich äußerst zerstritten waren, sodass ein durchsetzungsstarker Vertriebenenverband fehlte. Hinzu komme die Opferkonkurrenz mit anderen Kriegsgeschädigten. Und schließlich habe sich die Dominanz des Bundesfinanzministeriums gegenüber dem Vertriebenenministerium auch auf der Leistungsseite des Lastenausgleichs bemerkbar gemacht. Das alles habe, so Kittel, in der existenziellen deutschland- und außenpolitischen Entscheidungssituation, in der das LAG verabschiedet wurde, zu einem „Burgfrieden“ zwischen Vertriebenen und der abgabepflichtigen Aufnahmegesellschaft geführt, der eindeutig zu Lasten der Vertriebenen gegangen sei.

Trotz der Rahmenbedingungen unter denen das LAG verabschiedet und weiterentwickelt wurde, spricht Kittel von einem Bündel verpasster Chancen im Entstehungsprozess und in der Entwicklung des Lastenausgleichs, die auch seiner Grundthese zugrunde liegt. Doch hat es diese Chancen überhaupt gegeben? Daran darf ernsthaft gezweifelt werden, nicht nur angesichts der vielen Argumente, die die Studie selbst dagegen anführt, darunter besonders wichtig das Primat des Politischen. Denn wären die angeblichen Chancen verwirklicht worden, wäre die Spaltung der bundesdeutschen Gesellschaft in Alt- und Neubürger nicht überwunden, sondern zugespitzt, die Konfliktgemeinschaft vermutlich perpetuiert worden. Der verbreitete zeitgenössische Hinweis, es müsse politisch und wirtschaftlich alles getan werden, um mit Blick auf die Flüchtlinge und Vertriebenen „palästinensische Verhältnisse“ in Deutschland zu verhindern, ist nur ein Indiz dieser realen Gefahr. Das andere Indiz liefert das Eingangszitat: Auch die Altbürger galt es nicht zu überfordern, auf dem Weg der gesellschaftlichen Integration mitzunehmen. Die diagnostizierten verpassten Chancen erweisen sich bei genauerem Hinsehen als nicht belastbare Hypothesen.

„Stiefkinder des Wirtschaftswunders?“ Überraschenderweise gibt Manfred Kittel darauf keine direkte Antwort (S. 633). Dennoch ist seine Titel-Frage nicht nur eine rhetorische, sondern berührt den Kern seiner Schlüsse. Er widerspricht zwar Gaidas These von einem taktischen heimatpolitischen Revisionismus der Vertriebenenlobby, mit dem von den sozialen Belangen der Vertriebenen abgelenkt worden sei. Zudem diagnostiziert er eine sicher nicht zu bestreitende Benachteiligung der Vertriebenen im Aufnahmeprozess. Aber gesellschaftliche Integration als Folge von Migrationsprozessen bedeutet nicht, das zeigt auch das von Kittel angeführte Beispiel der finnischen Flüchtlinge und Vertriebenen in den 1940er-Jahren, eigene Positionen vollständig durchzusetzen, sondern einen Ausgleich zu finden. Diese Balance zwischen Alt- und Neubürgern hat die bundesdeutsche Politik in einem langen und hürdenreichen Prozess auch mit dem Lastenausgleich geschaffen. Der Mond steigt zwar immer noch im Osten auf, aber den eingangs zitierten Witz hört man heute nicht mehr, er ist Geschichte.

Anmerkung:
1 Die Ausnahmen, die die Regel bestätigen, sind in chronologischer Reihenfolge: Reinhold Schillinger, Der Entscheidungsprozeß beim Lastenausgleich 1945–1952, St. Katharinen 1985; Carl-Jochen Müller, Praxis und Probleme des Lastenausgleichs in Mannheim 1949–1959, Mannheim 1997; Michael L. Hughes, Shouldering the Burdens of Defeat. West Germany and the Reconstruction of Social Justice, Chapel Hill 1999; Paul Erker (Hrsg.), Rechnung für Hitlers Krieg. Aspekte und Probleme des Lastenausgleichs, Heidelberg 2004; Rüdiger Wenzel, Die große Verschiebung? Das Ringen um den Lastenausgleich im Nachkriegsdeutschland von den ersten Vorarbeiten bis zur Verabschiedung des Gesetzes 1952, Stuttgart 2008.