M. Hettling u.a. (Hrsg.): Reinhart Koselleck als Historiker

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Titel
Reinhart Koselleck als Historiker. Zu den Bedingungen möglicher Geschichten


Herausgeber
Hettling, Manfred; Schieder, Wolfgang
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
461 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Petra Boden, Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Band versammelt die Vorträge einer Tagung, die Ende 2018 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld stattgefunden hat. Ihr Thema lautete „Bedingungen möglicher Geschichten. Die Vielfalt Reinhart Kosellecks“; demgegenüber wirkt der Titel des Tagungsbandes recht unbeholfen. Wie die Herausgeber hervorheben, ging es darum, Koselleck „in systematischer Hinsicht als Universalhistoriker“ zu würdigen (Vorwort, S. 7), dessen „universale Kompetenz nicht im Raum, sondern in der Zeit“ gründe (S. 43). In ihrem gemeinsam verfassten Einleitungsbeitrag fächern Manfred Hettling und Wolfgang Schieder all die Fragen auf, unter denen die folgenden Texte das Werk Kosellecks gewichten. Schwerpunkte bilden seine begriffsgeschichtlichen Studien, seine Forschungen zur Geschichte Preußens und sein Bild-Nachlass – jeweils in der auf die Theoriearbeit gerichteten Dimension.

Für ihre Darstellung familiengeschichtlicher und wissenschaftsbiografischer Kontexte stützen sich Hettling und Schieder auf Quellen aus dem schriftlichen Nachlass Kosellecks, der im Deutschen Literaturarchiv Marbach liegt; sie konnten aber auch auf Archivbestände im Familienbesitz zurückgreifen. Um keinen Kausalzusammenhang zwischen Leben und Werk zu unterstellen, werden biografische Daten als je „vorgelagerte Schicht“ (S. 26) beschrieben, ohne den Horizont von Kosellecks Interessen damit zu begründen. Man erfährt schon hier viel über seine Beziehungen zu Heidelberger Lehrern, Kollegen und Gelehrten, die für eine Vertiefung dieser Interessen im Zuge seiner „geradezu […] essayistischen Theoriebildung“ (S. 44) wichtig wurden. Solche Beziehungen werden in einigen Folgebeiträgen ausführlicher dargestellt, weshalb mitunter störende Redundanzen wohl schwer zu vermeiden waren.

Den gemeinsamen Nenner der theoretischen Arbeiten sehen Hettling und Schieder in Kosellecks Frage nach den Bedingungen menschlichen Handelns, wobei er „die Offenheit der Handlungsmöglichkeiten der Zeitgenossen“ nie ausgeblendet habe (S. 46). Dieser Aspekt ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil er in weiteren Beiträgen des Bandes bestätigt wird, sondern er wäre noch in anderer, sonst nicht bedachter Weise zu unterstreichen: Um das interdisziplinäre Engagement Kosellecks zu charakterisieren, verweisen Hettling und Schieder unter anderem auf seine Mitwirkung in der Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“. Es sei jedoch „schwer zu sagen“, ob es ihm gelang, seine Positionen, namentlich zur „Theorie der Geschichtlichkeit von Sprache“ und zur Offenheit sprachlich vermittelten Handelns, in der „von Sprach- und Literaturwissenschaftlern“ dominierten Gruppe (S. 41) zur Geltung zu bringen. Hier wäre zu ergänzen, dass gerade diese Gruppe ein zentraler Ort für Koselleck war, um eigene Positionen zu diskutieren und zu festigen. Mit Hans Blumenberg, der solche Überzeugungen schon auf dem ersten Kolloquium der Gruppe von 1963 vertreten hat, stand Koselleck über Jahre in intensivem Austausch. Die darauf bezogenen Korrespondenzen sind in den Marbacher Nachlässen überliefert, ebenso einiges an Material, das über Kosellecks Kooperationen mit anderen Mitgliedern der Gruppe Auskunft gibt. Zu nennen wäre hier die mit dem Romanisten Karlheinz Stierle gegründete Reihe „Sprache und Geschichte“, die zwischen 1978 und 1998 bei Klett-Cotta erschien und 24 Bände umfasst. Zum Beirat der Reihe gehörten namhafte Mitglieder der Gruppe wie der Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß und der Linguist Harald Weinrich.

Leichte Bedenken melden sich auch angesichts der Feststellung, dass Koselleck „wie kaum ein anderer über theoretische Fragen der Geschichtswissenschaft reflektiert“ habe (S. 42). Die These ist in dieser Striktheit nicht haltbar. Im 1973 gegründeten Arbeitskreis „Theorie der Geschichte“, der bis zum Ende der 1980er-Jahre enorme Forschungsaktivitäten entfaltet hat – es liegen sechs gewichtige Tagungsbände vor –, wirkten neben Koselleck eine Reihe namhafter Historiker mit, denen die theoretische Fundierung der Geschichtswissenschaft ein zentrales Anliegen gewesen ist. Auch hierzu lässt sich Näheres im Marbacher Nachlass Kosellecks erfahren. Dass dieser Arbeitskreis sich auflöste, hing mit der in jenen Jahren um sich greifenden Theoriemüdigkeit zusammen. Vielleicht hat Koselleck sich davon nur weniger als andere beeindrucken lassen.

Dass Kosellecks Mitwirkung im Arbeitskreis für Moderne Sozialgeschichte maßstabsetzend war, erörtern Hettling und Schieder anhand seiner Arbeit für das Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“. Der Entstehung, Durchführung und dem Abschluss dieses Standardwerks wird im Band die meiste Aufmerksamkeit zuteil. Reinhard Blänkner und Wolfgang Schieder konzentrieren sich auf die Anteile von Otto Brunner und Werner Conze an diesem Projekt. Zwar werde im Kontext „des international gewachsenen Interesses an interdisziplinärer historischer Semantik, Begriffsgeschichte und intellectual history […] die herausragende Bedeutung Kosellecks als Geschichtstheoretiker“ zu Recht gewürdigt, wie Blänkner betont, aber die anhaltende „Wahrnehmung der Geschichtlichen Grundbegriffe […] als ‚Kosellecks Wörterbuch‘“ sei „irreführend“ (S. 112). So nützlich diese Darstellungen im Hinblick auf die Genese begriffsgeschichtlicher Theoriebildung im Einzelnen sind, so wirkt doch befremdlich, dass die gegenwärtigen Leistungen interdisziplinärer Begriffsgeschichte von hier aus vor allem kritisch gesehen werden. Über die aktuellen Auseinandersetzungen mit Kosellecks Grundsätzen, die nach Möglichkeiten der Anschließbarkeit fragen, also mit dessen Theorie (weiter-)arbeiten, erfährt man leider nichts.

Für weitere begriffsgeschichtliche Forschungen bietet der Beitrag von Harald Bluhm jedoch interessante Entdeckungen. Bisher war unbekannt, wie ausführlich Koselleck die Arbeiten Alexis de Tocquevilles rezipiert hat. Im Marbacher Nachlass hat Bluhm eine Vielzahl von Notizen und Annotationen gefunden, die belegen, dass Tocqueville für Koselleck „weit mehr als eine Randfigur“ gewesen ist (S. 191). Bluhm zeigt ein weites Netz theoretischer Anregungen und Bezüge, die „Kosellecks Begriffsgeschichte per se stärker in einen internationalen […] Rahmen rücken“ können (S. 172). Zu bedauern ist aber, dass die internationale Rezeption Kosellecks im vorliegenden Band keine Rolle spielt.1

Jürgen Kocka würdigt Kosellecks sozialhistorisch fundierte Habilitation über „Preußen zwischen Reform und Revolution“ (1967 als Buch erschienen) und in diesem Zusammenhang auch dessen Verdienste bei der Profilierung der Bielefelder Geschichtswissenschaft. Dass man über dieses Buch aus heutiger Sicht durchaus Kritisches sagen kann, versteht sich von selbst. Ob man dafür aber „[e]twas mehr Ideologiekritik“ zugrunde legen sollte, um „das Versagen“ der „preußischen Beamtenschaft“ vor allem „in den dreißiger und vierziger Jahren“ des 20. Jahrhunderts zu kritisieren (S. 203), mag dahingestellt bleiben. Hierfür hätte Koselleck eine teleologisch orientierte Perspektive anlegen müssen, die mit guten Gründen die seine nicht war. Mit Blick auf das Preußenbuch problematisiert Kocka, dass es im Allgemeinen als Erzählung verstanden werde, und beruft sich auf Kosellecks eigenes, anders gelagertes Verständnis vom historischen Erzählen. Da Hettling und Schieder in ihrem Beitrag Kosellecks Arbeiten aber gerade „als erzählte Geschichte“ betrachten (S. 56), wäre der zugrundeliegende Begriff von Erzählung zu diskutieren, der unter Historikern spätestens seit den 1970er-Jahren umstritten ist.

Die Frage, „ob die von Koselleck behauptete Bindung der Beamtenschaft an ein […] Allgemeinwohl letztlich nicht doch eine Idealisierung bedeutet“, stellt sich zwar auch für Monika Wienfort (S. 217). Weit wichtiger ist ihr jedoch „Kosellecks Interpretation des [Preußischen] Landrechts als gedachte und im Vollzug gelingende Innovation“. Es sei an der Zeit, „das Recht grundsätzlich und potentiell jede Kodifikation als temporal strukturiert zu begreifen und überhaupt als zentrales Element gesellschaftlicher Wirklichkeit […] zu berücksichtigen“ (S. 223).

Die Beiträge von Manfred Hettling, Bettina Brandt / Britta Hochkirchen und Tobias Weidner stützen sich auf den umfangreichen Bild-Nachlass Kosellecks, der an der Universität Marburg systematisch erschlossen und digital aufbereitet wurde. Der Frage, wie sich in Kosellecks geschichtstheoretischen Überlegungen auf epistemischer Ebene ein Zusammenhang von Bild und Begriff nachweisen lässt, gilt die gemeinsame Suchbewegung.2 Hettling macht die materialen Differenzen zwischen Bild und Begriff dafür namhaft, dass Kosellecks engagiert betriebenes Projekt einer Übertragung begriffsgeschichtlicher Methoden auf die Analyse des Totenkults anhand von Denkmälern scheitern musste. „Bei der historischen Analyse von Begriffen gibt es die Möglichkeit, sich an Struktursetzungen zu orientieren. […] Im Unterschied hierzu fehlen analoge Zugriffsmöglichkeiten bei einer Analyse der Denkmäler“, die nur als „vielfältige Einzelereignisse“ erfasst werden könnten (S. 233). Immerhin aber habe Koselleck „mit einer Strukturgeschichte des politischen Totenkults […] zentrale Grundmuster und Rahmenbedingungen für die Gestaltung von Kriegerdenkmälern“ sowie „Entwicklungslinien des politischen Totenkults in der Neuzeit“ herausarbeiten können (S. 234). Brandt / Hochkirchen weisen auf Aspekte der Ähnlichkeit hin, die Kosellecks Auffassung von Bild und Begriff kennzeichneten: Seine „Auseinandersetzungen mit Begriffen und Bildern“ seien „stets aufeinander bezogen“ gewesen und stellten damit „einen grundlegenden erkenntnistheoretischen Wert für Kosellecks Theorie historischer Zeiten“ dar (S. 249). In der Dreidimensionalität von Denkmälern bemerken die Autorinnen eine interessante Parallele zu Kosellecks „typischen, bildhaften analytischen Begriffen“, etwa „Zeitschichten“ oder „Erfahrungsraum“ (S. 250). Weidner bekräftigt dies mit systematisch geordneten Beobachtungen zu Kosellecks Fotografien, die dieser als „Teil seiner wissenschaftlichen Praxis […] überaus planvoll“ aufgenommen habe (S. 294). Koselleck sei es nicht um „objektive Repräsentation“ gegangen, sondern darum, „vielfältige mögliche Sichtweisen offenzulegen“. Mit ihrem „radikale[n] Perspektivismus“ erinnerten die Fotos an sein Konzept historischer Grundbegriffe, die als „hochgradig verdichtete Deutungsmuster unterschiedliche Perspektiven auf die Wirklichkeit“ eröffneten (S. 296).

Dieter Langewiesche macht Kosellecks Widerstand gegen eine „Geschichtsphilosophie mit ihren Heilserwartungen“ zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Schon früh habe Koselleck erklärt, solchen Auffassungen entschieden entgegenzutreten. Nach dem Umweg über eine „Geschichtsontologie“ (S. 426) habe er sich der Anthropologie zugewandt. „Mit der historischen Anthropologie, wie Koselleck sie verstand, suchte er nach einer Möglichkeit, die Historie als magistra vitae neu zu begründen, indem er aus anthropologischen Strukturen die ‚Bedingungen möglicher Zukunft‘ ableitete“ (S. 426). Um menschliches Handeln als „Wiederholungsstrukturen“ begreifbar zu machen, erfasste Koselleck es in „Grundbestimmungen“ des „Oben – Unten, Innen – Außen, Früher – Später“ (S. 431). Dass Koselleck nicht auf anthropologische Untersuchungen anderer Disziplinen zurückgriff, macht ihn zum Außenseiter, der für eine entsprechende Theoriebildung keine Rolle spielt. Sein Anliegen, Künftiges aus Vergangenem zu prognostizieren, „künftige Handlungsbedingungen“, nicht jedoch „Handlungsabläufe und erst recht nicht Ereignisse“ aus Strukturen abzuleiten (S. 426), musste scheitern, weil, wie Langewiesche kritisch einwendet, „Zukunftsmöglichkeiten aus anthropologisch-metahistorischen Dauerstrukturen“ nur ableitbar seien, wenn „sich das Künftige bereits abzeichnet“ (S. 435). Eine Geschichtsprognose, wie sie Koselleck im Sinn hatte, war so nicht möglich.

Warum der Band mit der Edition eines Manuskripts von Koselleck aus dem Jahr 1950 abgeschlossen wird, bleibt leider unklar, daran ändert auch seine knappe Erwähnung im Beitrag von Hettling nichts (S. 247); dass es sich im Nachlass des Deutschen Literaturarchivs befindet, muss man ebenfalls selbst ermitteln.3 Trotz einiger Einwände bleibt, dass der Band auf vielfältige Weise mit dem Werk Kosellecks bekannt macht und deshalb für ein breites Fachpublikum anregend sein wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. dagegen Jeffrey Andrew Barash / Christophe Bouton / Servanne Jollivet (Hrsg.), Die Vergangenheit im Begriff. Von der Erfahrung der Geschichte zur Geschichtstheorie bei Reinhart Koselleck, Freiburg 2021.
2 Siehe dazu auch Bettina Brandt / Britta Hochkirchen (Hrsg.), Reinhart Koselleck und das Bild, Bielefeld 2021; rezensiert von Ulrike Jureit, in: H-Soz-Kult, 17.08.2021, URL: <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-49909> (04.02.2022).
3 Den ersten Hinweis auf diesen Text mit einer entsprechenden Kontextualisierung in Kosellecks Werk gibt es jedoch bei Jan Eike Dunkhase, Absurde Geschichte. Reinhart Kosellecks historischer Existentialismus, Marbach 2015, S. 23–25.