B. Schmidt-Lauber u.a. (Hrsg.): Begriffe der Gegenwart

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Titel
Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar


Herausgeber
Schmidt-Lauber, Brigitta; Liebig, Manuel
Erschienen
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn Retterath, Institut für Zeitgeschichte München−Berlin / Historisches Kolleg, München

Sprache dient dem Menschen nicht allein zur Beschreibung der Welt, sondern konstruiert diese auch. Sich mit den im Alltag – aber auch in der Wissenschaft – gebrauchten Wörtern, deren Verwendungsweise und Geschichte auseinanderzusetzen, ist daher kein akademisches Glasperlenspiel, sondern von essenzieller Bedeutung für das Verständnis der Gegenwart. Das nun vorliegende, von den Ethnologen Brigitta Schmidt-Lauber und Manuel Liebig herausgegebene Buch „Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar“ tut genau dies. Auf etwas mehr als 300 Seiten beschäftigen sich die Autorinnen und Autoren mit insgesamt 32 Wörtern der deutschen Gegenwartssprache und ihren historischen Kontexten. Damit steht das Werk in einer ganzen Reihe von Kompendien, die in den vergangenen Jahren erschienen sind bzw. derzeit vorbereitet werden.1 Mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Herangehensweisen versuchen sie, in aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskursen gebrauchte Wörter (geschichts-)wissenschaftlich zu kontextualisieren.

Das vorliegende Glossar enthält „Begriffe zur Thematisierung gesellschaftlicher Selbst- und Fremdverständigung“, die im gegenwärtigen öffentlichen Diskurs verwendet oder „in spezifischen Kontexten für politische Zwecke instrumentalisiert“ würden (S. 11). Deren Auswahl für den Band, so Schmidt-Lauber einleitend, sei „nicht repräsentativ“, sondern „vielfältigen Umständen – wie nicht zuletzt der verlegerisch motivierten Seitenzahlbegrenzung – geschuldet“ (S. 14). Ziel sei es, so Liebig, „eine sachliche Auseinandersetzung um die Verwendungsweise anzuregen und einen reflektierten, bewussten Umgang über die Bedeutung von Wörtern zu ermöglichen“ (S. 18). Herausgekommen ist ein Werk, das kurze Texte von Autorinnen und Autoren aus verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen vereint – insbesondere aus der Europäischen Ethnologie und Empirischen Kulturwissenschaft, aber auch aus der Geschichtswissenschaft, der Politikwissenschaft, der Soziologie und der Philosophie. Das Glossar soll, so der Wille seiner Herausgeber, jedoch keineswegs nur von der Scientific Community rezipiert werden, sondern sich zugleich an ein „breites Publikum“ richten (S. 12). Die Tatsache, dass das Buch inzwischen auch Aufnahme in die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung gefunden hat, trägt sicher dazu bei, diesen Anspruch einzulösen.

Die einzelnen, im Band alphabetisch geordneten Beiträge von „Angst“ bis „Willkommenskultur“ umfassen selten mehr als zehn Seiten. Sie gliedern sich jeweils in die Abschnitte „Kurzdefinition“, „Gesellschaftliche Situation“, „Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte“, „Wissenschaftsgeschichte(n)“, „Ausblick“ und „Literatur“. Innerhalb dieses Schemas werden so unterschiedliche Begriffe wie „Asyl“, „Demokratie“, „Europa“, „Fluchthilfe“, „Gemeinschaft“, „Geschlecht/Gender“, „Identität“, „Kultur“, „Moderne“, „Populismus“, „Tradition“, „Volk“ oder „Werte“ behandelt. Die Autorinnen und Autoren, von denen viele bereits in größeren Formaten zu dem im Band behandelten Begriff gearbeitet haben (so gibt es beispielsweise Texte von Frank Biess zur „Angst“, von Christian Geulen zum „Nationalstaat“ oder von Sabine Hess zur „Migration“), widmen sich ihrem Lemma zumeist in Form eines konzisen wissenschaftlich-essayistischen Beitrags.

Viele der behandelten Begriffe wie „Deutsch“ oder „Heimat“ sind nach den Worten der Autorinnen und Autoren in der Gegenwart „umstritten“ (S. 49) bzw. „ins Wanken geraten“ (S. 63) und „vielfältig aufgeladen“ (S. 133). Gerade diese Befunde sprechen für ihre besondere Stellung im aktuellen Diskurs und auch dafür, dass sie zu Recht ins Glossar aufgenommen wurden. Zugleich bildet die kontinuierliche semantische Neuverhandlung dieser Wörter aber auch eine Herausforderung für die Autorinnen und Autoren. Die Beiträge des Buches können angesichts des begrenzten Raums nur ein holzschnittartiger Versuch zur Einordnung und Bestandsaufnahme dieser Begriffe sein.

Auch wenn die Herausgeber bei der Begriffsauswahl auf das Prinzip der „informierte[n] Willkür“ (in Anführungszeichen) und ihre „Beobachtungen des öffentlichen Diskurses“ verweisen (S. 14), stellt diese Auswahl doch ein Manko des Bandes dar. Zum einen erscheint fraglich, ob Wörter wie „Brauch“, „kulturelles Erbe“ oder „Volkskultur“ tatsächlich so häufig im Gegenwartsdiskurs vorkommen, dass ihre Aufnahme in das Glossar gerechtfertigt wäre – mitunter scheint ihre Behandlung eher dem stark ethnologischen Schwerpunkt des Buchs geschuldet zu sein. Zum anderen fällt auf, dass zwar viele Begriffe aus den gesellschaftlichen Debatten über Migration und Gefährdungen der Demokratie zu finden sind, aber andere aktuelle Großthemen mit je eigenen (Begriffs-)Geschichten – etwa der Klimawandel, die Digitalisierung oder die Transformation der Arbeitswelt – allenfalls randständig oder gar nicht vorkommen. So fehlen etwa Einträge zu den Begriffen „Freiheit“, „Klimakrise“, „Nachhaltigkeit“, „Solidarität“ oder „Strukturwandel“, aber auch zu „Diversität“ oder „Inklusion“ sowie zu kulturwissenschaftlichen Begriffen, die ihren Weg in die Alltagssprache gefunden haben, wie „Diskurs“ und „Narrativ“. Selbstverständlich ist es nicht zu leisten, alle relevanten „Begriffe der Gegenwart“ zu behandeln, doch kann – angesichts der bestehenden thematischen Leerstellen – der Titel des Bands beim Lesepublikum falsche Erwartungen wecken. Insofern wäre es transparenter gewesen, die Engführung auf einzelne Themenbereiche durch die Wahl eines weniger allumfassenden Titels kenntlich zu machen. Zudem hätte eine sachthematische Gliederung des Bands möglicherweise den Vorteil geboten, die Diskursfelder und die dort verwendeten Begriffe jeweils besser abgrenzen und einleitend problematisieren zu können.

Darüber hinaus fällt auf, dass zwar viele Beiträge eine distanzierte, um wissenschaftliche Objektivität bemühte Perspektive einnehmen, sich andere aber eher als meinungsstarke Essays und bisweilen gar aktivistisch anmutende Plädoyers lesen. So fokussiert etwa Gisela Welz in ihrem Text zum Lemma „Europa“ stark auf die Frage der Grenzen sowie der Zuwanderung (und weniger auf die ebenfalls aktuell stark diskutierten „gemeinsamen Werte“, die Demokratiedefizite bei EU und Mitgliedstaaten oder die strukturellen Probleme der europäischen Integration). Nur so lassen sich in ihrem Text fragwürdige Aussagen erklären wie: „Die eigentliche Krise Europas war und ist die Unfähigkeit der europäischen Länder, Möglichkeiten legaler Zuwanderung für Menschen aus dem Globalen Süden zu definieren.“ (S. 88). Angesichts von zu behandelnden Großbegriffen wie „Europa“ zeigt sich, dass das von den Herausgebern gewählte Format der Kurzbeiträge an seine Grenzen stößt und zu eigenwilligen Fokussierungen und Verknappungen verleitet. Als eine besondere Herausforderung erweist es sich hierbei, den Spagat zu finden zwischen einer konzisen, aber wissenschaftlich fundierten Begriffserklärung, der Darlegung neuer Erkenntnisse und einer thesenhaften Zuspitzung.

Trotz der Kritik an Auswahl und Struktur bieten die einzelnen Beiträge interessante Einblicke und mitunter überraschende Denkanstöße – etwa zur Rolle der UNESCO in Bezug auf Traditionen (Regina F. Bendix, S. 253ff.) oder zur Geschichte der „Cousinenehe“ (Tatjana Thelen im Beitrag „Verwandtschaft“, S. 264f.). Es bleibt zu hoffen, dass der Band bei den Leserinnen und Lesern zu einem bewussteren Umgang mit Begriffen führen wird. Gespannt kann man sein, ob bzw. wie es den Bearbeiterinnen und Bearbeitern der aktuell laufenden begriffsgeschichtlichen Projekte gelingen wird, die oben genannten Herausforderungen des Genres zu meistern.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland, https://www.zfl-berlin.org/projekt/das-20-jahrhundert-in-grundbegriffen.html (05.10.2022); Inken Bartels u.a. (Hrsg.), Umkämpfte Begriffe der Migration. Ein Inventar, Bielefeld 2023 (angekündigt für April); David Ranan (Hrsg.), Sprachgewalt. Missbrauchte Wörter und andere politische Kampfbegriffe, Bonn 2021; Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Stichworte zur Zeit. Ein Glossar, Bielefeld 2020; Falko Schmieder / Georg Toepfer (Hrsg.), Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte, Berlin 2018; Ulrich Bröckling / Susanne Krasmann / Thomas Lemke (Hrsg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt am Main 2004.

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