L. Frohman: The Politics of Personal Information

Cover
Titel
The Politics of Personal Information. Surveillance, Privacy, and Power in West Germany


Autor(en)
Frohman, Larry
Erschienen
New York 2021: Berghahn Books
Anzahl Seiten
XIV, 391 S.
Preis
$ 149.00; £ 110.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Schmeer, Center for Intelligence and Security Studies, Universität der Bundeswehr München

Der weltweite Ausnahmezustand durch die Covid-19-Pandemie ist inzwischen zu einem prekären, indes nicht mehr ganz neuen Alltag geronnen, und die Bewältigungsversuche der letzten Jahre werden bereits kritisch aufgearbeitet. Die intensiv diskutierten Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung standen dabei oft in Widerspruch zu einer im internationalen Vergleich spezifisch deutsch anmutenden Obsession: dem hierzulande über mehr als 50 Jahre gewachsenen und vielfältig institutionalisierten Datenschutzrecht, das inzwischen weithin europäisiert wurde. In der kriseninduzierten, zupackend-aktionistischen Stunde der Exekutive zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020, so monierten kritische Beobachter:innen, seien die politischen Entscheidungsträger:innen mit Blick auf den Datenschutz teils weit über das Ziel hinausgeschossen. Als Beispiele genannt seien hier der unter heftiger öffentlicher Kritik wieder zurückgezogene Vorschlag zum Tracking von Mobiltelefonen infizierter Personen, die Zweckentfremdung von Kontaktdaten aus der umstrittenen Luca-App durch die Polizei, aber auch die Diskussion um ein bundesweites Impfregister. Kurzum: Nicht nur in der Frühphase dieser globalen Gesundheitskrise erfuhren in Deutschland – „arguably the most privacy-obsessed place in the world“1 – Debatten über Datenschutz, staatliche Überwachungskompetenzen und auch das berühmte Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine neuerliche Hochkonjunktur.

Vor diesem Hintergrund kommt der hier zu besprechenden Studie von Larry Frohman, der als Associate Professor of History an der State University of New York, Stony Brook, lehrt und forscht, eine besondere Relevanz für ein zeithistorisch grundiertes Verständnis der Gegenwart zu, wenngleich die Arbeit nicht nur durch ihren Aktualitätsbezug besticht. Frohman geht es nämlich um mehr: Er verfolgt den fundamentalen historischen Wandel der Ideen, Technologien und Praktiken staatlicher Bevölkerungsüberwachung („population surveillance“) sowie der Vorstellungen von Privatheit und (persönlichem) Datenschutz („personal privacy“) in ihrem umstrittenen Wechselverhältnis zu Beginn des „age of the mainframe“ (S. 360), der zunehmenden Nutzung von (Groß-)Computern seit den 1960er-Jahren.

„Überwachung“ und „Privatheit“ versteht Frohman dabei als zwei eng aufeinander bezogene Konzepte einer (zunehmend digitalisierten) Moderne, deren konflikthaftes Verhältnis einerseits geprägt sei durch die gesellschaftlichen wie politischen Machtverhältnisse, unter denen die Grundlagen von Datensammlung und Informationsaustausch verhandelt wurden. Andererseits hätten aber auch die Implementierung moderner (Computer-)Technologien und dadurch radikal umgekrempelte bürokratische Routinen die Grundlagen staatlicher Informationsgewinnung erheblich verändert (S. 1–3). Die Spannung zwischen staatlichen Steuerungsfantasien und davon befeuertem Informationshunger auf der einen Seite sowie den vielfältigen Versuchen ihrer politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Einhegung auf der anderen Seite zieht sich durch das gesamte Buch. Frohman wendet sich dabei auf breiter Quellen- und Literaturbasis dem Beispiel Westdeutschlands zu, das in den 1970er- und 1980er-Jahren „a pioneer in both the use of the new information and communication technologies for population surveillance and the adoption of privacy protection legislation“ gewesen sei (S. 3).

Der Autor verfolgt zwei Argumentationsstränge – einen theoretisch interessierten und einen dezidiert historischen, wobei ersterer gleichsam als konzeptionelle Rahmung fungiert. Frohman argumentiert in der Einleitung (und ausführlicher in Kapitel 2), dass die westdeutschen Vordenker:innen und Theoretiker:innen von Datenschutz und informationeller Privatheit (bei Frohman: „privacy advocates“ wie etwa der „Vater des Datenschutzes“ Spiros Simitis, aber – neben vielen weiteren Herren – auch Ruth Leuze, die erste und langjährige Datenschutzbeauftragte Baden-Württembergs) sich seit den 1970er-Jahren von einem liberal-individualistischen Konzept der „private sphere“ als einer Abschottung von der Gesellschaft („seclusion from society“, S. 22) verabschiedet hätten. Stattdessen hätten sie bis in die späten 1980er-Jahre das Deutungsangebot einer „informationellen Selbstbestimmung“ vorangetrieben. Dies habe die Machtbeziehungen zwischen Individuen in einer Gesellschaft berücksichtigt, aber auch die vielgestaltigen Informationsbeziehungen, die die Folge dieser sozialen Prozesse seien (S. 22f.; ausführlicher: S. 79–107). Damit versteht sich Frohmans Arbeit auf theoretischer Ebene explizit auch als Intervention in die über Disziplinengrenzen hinweg geführten Debatten zum Wesen informationeller Privatheit. Für seine historische Analyse, das wäre der zweite Argumentationsstrang, bedeutet dies, dass er sich dem Gegenstand als einer konflikthaften (Macht-)Beziehungsgeschichte zwischen Staat und (eigensinnigem) Individuum, aber auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen annähert, die jeglichen Informationsaustausch beeinflusse. Methodisch fühlt sich Frohman sowohl den Implikationen einer in der Tradition Max Webers stehenden Analyse der Herausbildung moderner Staatlichkeit und Bürokratie verpflichtet als auch den eher von Michel Foucault inspirierten „Surveillance Studies“.2

Frohman gliedert seine Untersuchung nach der ebenso dichten wie instruktiven Einleitung in drei Teile mit variierendem Umfang, die jeweils chronologisch den gesamten Untersuchungszeitraum abdecken und in sich geschlossen argumentieren, sich aber auch vielfach aufeinander beziehen. Einige Kapitel des Buches basieren auf früheren Aufsatzveröffentlichungen des Autors, sind hier jedoch überarbeitet und ergänzt worden.3

Der erste Teil („Population Registration, Power, and Privacy“) besteht aus nur einem Kapitel, das sich zu Beginn mit den politischen Debatten um das 1971 in den Gesetzgebungsprozess eingebrachte, letztlich gescheiterte Bundesmeldegesetz und das schließlich 1980 verabschiedete Melderechtsrahmengesetz beschäftigt. Der erste, nicht realisierte Entwurf sah die Computerisierung und Integration der bis dahin lokalen (und analogen) Melderegister auf Basis einer nationalen Identifikationsnummer vor – parallel wurden aber bereits neue Vorstellungen von Privatheit und Datenschutz populär. Diese gleichzeitige „crystallization of a new privacy consciousness“ (S. 40) führte dazu, dass Pläne einer zentralen ID von den politischen Entscheidungsträgern verworfen wurden. Frohman untersucht schließlich auf Länderebene das Beispiel Hessen und beleuchtet die Entwicklungen, die 1970 das weltweit erste Datenschutzgesetz hervorbrachten.

Im zweiten Teil („Negotiating Communicative Norms in the Computer Age“), der aus vier Kapiteln besteht, skizziert der Autor anhand der Schriften wichtiger (Vor-)Denker:innen des Datenschutzes den Wandel in der Reflexion über Privatheit im Computerzeitalter (Kap. 2) und betrachtet dann den legislativen Prozess auf dem Weg zum Bundesdatenschutzgesetz, das zum 1. Januar 1978 in Kraft trat (Kap. 3). Besonders lesenswert ist das Kapitel 4 über die bisweilen radikalen Boykotte der Volkszählung 1983/87 sowie das bahnbrechende „Volkszählungsurteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 1983. In diesem Kapitel findet sich auch das ikonische Coverbild des Buches wieder: der anthropomorphe Barcode, Sinnbild einer technokratischen „Verdatung“ (S. 164f.). Die Covergestaltung greift ein Plakat von Klaus Staeck auf, das die Überschrift trug: „Im Mittelpunkt steht immer der Mensch“ (1981).

Der dritte Teil („The Precautionary Turn“) widmet sich schließlich dem Konnex von Privatheit, staatlicher Sicherheitsproduktion, Überwachung und einem Wandel von Staatlichkeit vor dem Hintergrund des Paradigmenwechsels zur „Inneren Sicherheit“ seit den ausgehenden 1960er-Jahren. Nach dem Einwohnermeldewesen rücken hier der computergestützte Wandel des Bundeskriminalamts (BKA) und die Debatten um eine Reform der (föderalen) Polizeiarbeit als eine weitere wichtige Aushandlungsarena in den Mittelpunkt von Frohmans Interesse – besonders auch in der Auseinandersetzung mit dem Linksterrorismus der 1970er-Jahre. Erhellend sind etwa die Ausführungen zum Aufbau des 1972 in Betrieb genommenen „Informationssystems der Polizei“ (INPOL) und die durch dieses Netzwerk erst möglich gewordene „securitization of space, place, movement, and identity“ (Kap. 7). Freilich triggerte die maßgeblich durch den damaligen BKA-Chef Horst Herold propagierte Idealvorstellung einer computerisierten, präventiv handelnden und sich selbst optimierenden Polizei im Sinne eines kybernetischen Systems, verbunden mit weitreichenden Zentralisierungsbemühungen, auch vielfältige Ängste vor der Entstehung eines „Überwachungsstaates“. So konnten sich die Vorstellungen von „precautionary surveillance“ (S. 324) als spezifischer Form einer „illiberal governmentality“ (ebd.) letztlich nicht gegen die inzwischen etablierte und 1983 vom Bundesverfassungsgericht zementierte Rechtsnorm des Datenschutzes durchsetzen (Kap. 8 und 9).

Frohman verknüpft neben der Intellectual History und einer damit eng verbundenen Ideengeschichte des Datenschutzes unter anderem die Geschichte von Überwachung und Computerisierung, Verwaltungs-, Polizei- und Rechtsgeschichte sowie Protest- und Gesellschaftsgeschichte. Bei einem solchen Parforceritt durch die jüngere (west-)deutsche Historie kann es dem Leser durchaus einmal schwindelig werden – und das wäre auch ein kleiner, vielleicht der begrenzten Aufmerksamkeitsspanne des Rezensenten geschuldeter Kritikpunkt an dieser inspirierenden Studie: Mitunter verliert man sich in der Fülle spannender Einzelbeobachtungen und Quellenfunde sowie den damit verknüpften theoretischen Überlegungen und intertextuellen Verweisen.

Trotz dieses geringfügigen Einwands: Larry Frohman hat ein überaus lehrreiches Buch vorgelegt, dem ein breites Publikum zu wünschen ist. Es ist weit mehr als ein Beitrag zur eingangs angerissenen Frage, wie und warum sich in (West-)Deutschland seit den 1970er-Jahren eine wahre Obsession mit dem Thema Datenschutz herausbilden konnte – zunächst gegenüber dem Staat und seiner in der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen scheinbar unstillbaren Informationsgier. Die Entstehung des modernen, planungseuphorischen Informationsstaates liest sich, folgt man Frohman, keineswegs wie der bedrohliche Aufstieg eines allmächtigen „Big Brother“. Ein neues rechtsphilosophisches Konzept von Privatheit und eine in die (Protest-)Gesellschaft hineindiffundierende Vorstellung von Datenschutz haben diese Bedrohung mit einer subversiven, systemischen Gegenlogik in der Bundesrepublik schon früh begleitet und eingehegt. Frohmans Buch bietet insofern vielfältige Anregungen zum Weiterdenken gegenwärtiger Debatten über staatliche (wie auch privatwirtschaftliche) Steuerungsfantasien im spannungsreichen Wechselspiel mit individuellen wie kollektiven Datenschutzbedürfnissen. Diese Debatten werden die westlichen Gesellschaften auch über die Covid-Pandemie hinaus weiter begleiten. Gleichwohl – und das ist nicht zuletzt eine Folge der von Frohman so eindrücklich beschriebenen Aushandlungskämpfe – haben manche Formen staatlicher Datensammelpraxis inzwischen ihren Orwell’schen Schrecken verloren: Mit einem Jahr Verspätung sind derzeit gut 10 Millionen Menschen in der Bundesrepublik zur Teilnahme am Zensus 2022 aufgefordert und verpflichtet. Bis auf einzelne kritische Stimmen scheint dieser Umstand niemanden mehr empört auf die Straße zu treiben.

Anmerkungen:
1 Janosch Delcker, Coronavirus triggers soul-searching on privacy in Germany, in: Politico (Europe), 09.04.2020, URL: <https://www.politico.eu/article/coronavirus-triggers-soul-searching-on-privacy-in-germany/> (14.07.2022).
2 Siehe zu den „Surveillance Studies“ immer noch den instruktiven Forschungsüberblick von Sven Reichardt, Einführung: Überwachungsgeschichte(n). Facetten eines Forschungsfelds, in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), S. 5–33, online zugänglich unter URL: <https://zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/2010-2/Reichardt_2016.pdf> (14.07.2022).
3 Dies betrifft Teile des ersten Kapitels sowie die Kapitel 4 und 9. Siehe dazu Larry Frohman, Population Registration, Social Planning, and the Discourse on Privacy Protection in West Germany, in: Journal of Modern History 87 (2015), S. 316–356, URL: <https://www.stonybrook.edu/commcms/history/documents/Frohman-Population-Registration.pdf> (14.07.2022); ders., „Only Sheep Let Themselves Be Counted“. Privacy, Political Culture, and the 1983/87 West German Census Boycotts, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 335–378, URL: <https://www.fes.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=46744&token=cf0f76ffa587bbef8e2f23e33797e17816952bf9e17816952bf9> (14.07.2022); ders., Datenschutz, the Defense of Law, and the Debate Over Precautionary Surveillance. The Reform of Police Law and the Changing Parameters of State Action in West Germany, in German Studies Review 38 (2015), S. 307–327.