Titel
"Krieg oder Frieden - Unser Platz an der Sonne". Gustav Stresemann und die Außenpolitik des Kaiserreichs bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges


Autor(en)
Wagner, Thomas
Reihe
Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart
Erschienen
Paderborn 2007: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Lorenz, Marburg

Gustav Stresemann gilt zu Recht als „Weimar´s greatest statesman“ 1. Er hat in seiner nur 100 Tage währenden Reichskanzlerschaft den für das Reich ruinösen Ruhrkampf gegen die französische Besatzung des Ruhrgebietes im Jahr 1923 abgebrochen und auf diese Weise die politischen Voraussetzungen geschaffen, die Weimarer Republik innenpolitisch zu befrieden. Auf Basis dieser innenpolitischen Beruhigung gelang es ihm als langjähriger Außenminister schließlich auch, Deutschland wieder langsam aber stetig in den Kreis der europäischen Mächte zurückzuführen. Hier ist vor allem der Vertrag von Locarno zu nennen, dessen „Geist“ sprichwörtlich geworden ist. Welche Bedeutung Stresemann als Staatsmann im allgemeinen, als Außenpolitiker im besonderen für die Weimarer Republik hatte, zeigt sich auch darin, dass nach seinem frühen Tod im Jahre 1929 sowohl die innere, als auch die äußere Lage für Deutschland wieder krisenhafter wurde – mit allen bekannten Folgen. Die Gleichzeitigkeit seines Todes und das Aufflammen von neuen Krisen ist mehr als nur eine Koinzidenz.

Wenn man Stresemann also als begnadeten Außenpolitiker betrachtet, dann liegt es nahe, nach seinen grundlegenden außenpolitischen Vorstellungen zu fragen, Vorstellungen, die sich während seiner politischen Sozialisation entwickelt und verfestigt haben; hierfür wäre der Blick auf die politische Karriere Stresemanns vor 1914 zu werfen. Angesichts der Bedeutung Stresemanns für die deutsche Geschichte wurde dieser Aspekt immer wieder in den verschiedenen Biographien herausgearbeitet und behandelt, die bereits zu Lebzeiten Stresemanns erschienen. Und doch: eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Studie, die sich systematisch diesem Zeitabschnitt in Stresemanns Leben widmet, lag bislang nicht vor.

Thomas H. Wagner schickt sich nun an, diesen grundlegenden Abschnitt in Stresemanns Leben zu untersuchen. Ihm geht es darum, die so einfach klingende Frage nach den außenpolitischen Vorstellungen Stresemanns vor 1914 zu beantworten, und auf diese Weise wichtige Anhaltspunkte zu liefern, die Außenpolitik des späteren Reichskanzlers und Außenministers schärfer interpretieren und würdigen zu können.

Wagner geht in seiner Studie im Wesentlichen chronologisch vor: Von der Schulzeit über Studium und berufliche Karriere im Verband Sächsischer Industrieller und seinem Engagement für die Nationalliberalen arbeitet Wagner in elf Kapiteln anhand von bedeutsamen außenpolitischen Ereignissen und Tendenzen die außenpolitischen Vorstellungen Stresemanns heraus. Die chronologische Vorgehensweise wird durchbrochen von systematischen Kapiteln, die übergreifende Themen behandeln, etwa Stresemanns Verhältnis zu den Alldeutschen. Am Ende jeden Kapitels präsentiert Wagner seine Ergebnisse in einem kurzen Resümee, die den Zugang zu seinem Buch enorm erleichtern.

In Stresemanns Vorstellungen zur Außenpolitik vor 1914 gab es Konstanten, die aber auch im Zuge von Ereignissen wie Kriegen, Krisen, Konferenzen oder Verträgen Änderungen erfahren hatten. Wagner geht sicher nicht zu weit, wenn er Stresemann als Nationalisten bezeichnet, ja gar als Imperialisten, der Deutschlands Rolle in der Welt als die einer Kolonialmacht sah, die ihre formale Macht in wirtschaftlichen Nutzen umwandle. Militärische Macht war nach seiner Ansicht hierfür unabdingbare Voraussetzung, und wenn man diese Macht hatte, dann sollte sie auch gebraucht werden, wie es Stresemann in der Marokkokrise von 1911 deutlich machte. So begrüßte Stresemann 1914 dann auch den Krieg, von dem er erwartete – wie so viele andere auch –, dass er ein kurzer, für das Deutsche Reich siegreicher sein werde und Deutschland wieder dem ihm gebührenden Respekt in der internationalen Gemeinschaft zurückbringen werde. Doch während Stresemann in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg die Macht gleichsam als Selbstzweck ansah, so war er in jüngeren Jahren durchaus der Meinung, dass der wirtschaftliche Erfolg eines Staates wichtiger sei, so dass sich die Politik diesem unterzuordnen hatte. Im Laufe seines politischen und publizistischen Lebens vor 1914 allerdings änderte sich dies.

Auch wenn Stresemann nicht als unmittelbar handelnder Außenpolitiker der Zeit an den Entscheidungen der politischen Führung vor 1914 beteiligt war, so bescheinigt Wagner ihm doch in seiner Schlussbetrachtung „mittelbar [...] Mitverantwortung für das Klima der Zeit, das Prestigedenken, das den Hintergrund der konkreten Entscheidungen abgab und keinen Rückzug erlaubte“ (S. 199). Sicher kann man einem solchen Urteil zustimmen, aber es macht zugleich deutlich, dass Stresemann eben auch ein Kind seiner Zeit war und von ihr geprägt wurde, auch in seinen Ansichten zur auswärtigen Politik und zur Stellung Deutschlands in der Welt. Schließlich berücksichtigt Wagner in seiner Interpretation auch nicht, dass Stresemann von der herrschenden Klasse, und auch insbesondere vom Kaiser misstrauisch beäugt wurde, obwohl er doch gerade die Ziele Wilhelms II. guthieß. Man sieht daran, wie schwer es ist, aus der Rückschau Urteile über die Verantwortung zu fällen, die ja auch immer moralisch geleitet sind. Christian Graf von Krockow hat eine verständnisvolle Biographie des Wilhelms II. geschrieben 2, in der er dem Kaiser viel (an mancher Stelle vielleicht zu viel) Verständnis entgegenbringt, indem er ihn als ein Kind seiner Zeit beschreibt. Bei einer vergleichbaren Annäherung an Stresemann fiele die Frage nach der Verantwortung durchaus anders aus. In seiner Würdigung hätte Wagner die Rahmenbedingungen, die Mentalität der Zeit, ja den Zeitgeist stärker berücksichtigen sollen und müssen.

Und so wenig Wagner seinen Protagonisten in dessen Zeit einordnet, so wenig geht er der interessanten Frage nach, wie aus dem Nationalisten Stresemann der moderate, auf Verständigung ausgerichtete Außenpolitiker der Weimarer Republik werden konnte. Vielleicht war Stresemann auch auf außenpolitischem Gebiet ein „Vernunftrepublikaner“, der den Vorstellungen von Deutschlands Größe im Grunde seines Herzens gar nicht abgeschworen hatte, sondern diese nur auf einem anderen Weg, nämlich dem nach der Niederlage einzig gangbaren der Übereinkunft mit den Gegner des Krieges zu erreichen suchte. Wenn man Stresemanns Äußerungen zum Friedensvertrag von Versailles bedenkt, den er wie alle anderen auch revidiert wissen wollte (und Revision hieß in letzter Konsequenz immer „Aus-der-Welt-Schaffen“), dann könnte man auf diesen Gedanken kommen. Allerdings gilt es auch hier, die politischen und mentalitätsgeschichtlichen Rahmenbedingungen mit zu bedenken. Denn auch in der Weimarer Republik war Stresemann in seiner Sicht auf den Friedensvertrag ein Kind seiner Zeit, pragmatisch nur in der Wahl des Weges, der zum Ziel führen sollte.

Zwar sind diese Fragen ebenso schwer zu beantworten, wie die Frage nach der Verantwortung, aber angesichts der Tatsache, dass Stresemann eben doch der größte Staatsmann der Weimarer Republik war, hätte Wagner hier mit seinen Urteilen, die er aus einer intimen Kenntnis von Stresemanns Vorstellungswelt vor 1914 gewonnen haben sollte, nicht hinter dem Berg halten sollen. Es gehört schließlich zu den Aufgaben des Historikers in einer abschließenden Würdigung die zeitliche Begrenzung des Themas aufzugeben und den Blick zu weiten – und dies gilt insbesondere für einen Politiker wie Stresemann, der den Höhepunkt seiner politischen Karriere ja erst nach dem Ersten Weltkrieg erreichen sollte, und damit auch mittelbar Verantwortung für die Politik hatte.

Wenn also Wagner auf profunder Quellenbasis Stresemanns außenpolitische Vorstellungen vor 1914 detailliert darstellt, so springt er interpretatorisch doch zu kurz. Dies ist um so mehr zu bedauern, als sich daran eine zwar gegensätzliche, aber instruktive Diskussion hätte anschließen können – und diese sollte man nicht scheuen.

Anmerkungen
1 Wright, Jonathan, Gustav Stresemann. Weimar´s Greatest Statesman; Oxford 2002.
2 Krockow, Christian Graf von, Kaiser Wilhelm II. und seine Zeit. Biographie einer Epoche; München 1999.

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