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Titel
Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur


Autor(en)
Leo, Per
Erschienen
Stuttgart 2021: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Verena Wirtz, Historisches Institut, Universität der Bundeswehr München

Tränen ohne Trauer ist eine Kompilation aus den drei Formen, in denen sich Per Leo bislang der Vor- und Nachgeschichte des Nationalsozialismus widmete. Ob als Historiker, Schriftsteller oder freischaffender Schatullenhändler, stets setzte er sich (selbst-)kritisch mit seiner eigenen Herkunftsgeschichte und Standortgebundenheit als „Nazienkel“ auseinander (S. 247).1 Das gilt auch für sein aktuelles Buch, das die deutsche Erinnerungskultur grundlegend hinterfragt und seit seinem Erscheinen im Juli entsprechend kontrovers diskutiert wird.2

Stil und Sujet des rund 250 Seiten langen Essays sind ganz und gar von Friedrich Nietzsches „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ inspiriert.3 Einleitend als „Naturbeschreibung [s]einer Empfindung“ charakterisiert (S. 14), war es weniger das Leiden am pandemischen als am „historischen Fieber“ unserer Zeit (S. 15), das Leo dazu bewegte, die gegenwärtige Geschichtskultur und insbesondere die Erinnerung an den Holocaust und den Nationalsozialismus auf den Prüfstand zu stellen. Da er sich gleichermaßen als „Arzt“ und „Patient“ dieser Diagnose begreift, begibt er sich stellvertretend für alle „bundesdeutschen Zeitgenossen“ in eine Art historiografische Selbsttherapie (S. 15).

Wie bei Nietzsche geschieht dies in freier, für manchen Geschmack allzu freier Form. Deshalb werden jene Leser, die eine saubere Trennung von Wissenschaft, Politik und Literatur erwarten, mit Leos Version vom „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ ihre Probleme haben. Da es dem „Erzählwissenschaftler“ (S. 108) jedoch um den Austausch zwischen verschiedenen, der gegenwärtigen Geschichtskultur zuarbeitenden Disziplinen und Deutungsinstanzen geht, werden alle Beteiligten dazu eingeladen, sich diesem Kunstgriff nicht zu verschließen, und dazu aufgerufen, sich der Weitung des (eigenen) historischen Horizonts zu öffnen – sofern sie, wie Leo, an einem lebensdienlichen, das heißt gegenwarts- und zukunftsorientierten Umgang mit der Geschichte interessiert sind (S. 18).

Führt man sich die aktuellen Reaktionen auf diese und andere Interventionen im Erinnerungsdiskurs vor Augen, scheint dies das Anliegen aller Streitparteien zu sein. Die Frage, ob und wie die deutsche Erinnerungskultur reformiert werden müsse, war und ist für das bundesrepublikanische Selbstverständnis konstitutiv: Wurde in den 1960er-Jahren die Parole von der „Vergangenheitsverdrängung“ bemüht oder die „Unfähigkeit zu trauern“ beklagt4, standen bis 1989/90 das daraus resultierende Pathos ihrer „Bewältigung“ und „Aufarbeitung“ sowie schließlich das Paradigma der „kollektiven Erinnerung“ im Zentrum des Gedenkens und seiner Reflexion. Ob als Reaktion auf einschneidende Ereignisse oder umstrittene Gedenkreden und Mahnmäler: Seit dem „Erinnerungsboom“ der späten 1970er-Jahre wird regelmäßig um eine neue, den gesellschaftlichen Verhältnissen wie den historischen Entwicklungen angemessene Form und Erforschung des Gedenkens gerungen – laut Leo: ohne Erfolg.

Nach wie vor, so die zentrale These, kreise die deutsche Vergangenheitsvergegenwärtigung um sich selbst. Im „Wohlfühlquadrat von Täterdämonisierung, Opferidentifikation, Demokratiestolz und Ambivalenzabwehr“ (S. 238) erfülle die „Wiederholungsfurcht“ (S. 25) der Deutschen den alleinigen Zweck, sich von der eigenen Verstrickung in die NS-Verbrechen freizusprechen, während die „komplexe Realität des Holocaust“ (S. 24) ebenso ausgeblendet bleibe wie die „Realität der Migrationsgesellschaft“ (S. 169). Die „Trias aus Nationalismusverbot, Westbindung und Singularitätssatz“ (S. 54) der Bonner Republik habe nach der deutschen Einheit ihre identitätsstiftende und systemstabilisierende Funktion verloren und die innere Wiedervereinigung sogar verhindert. Und mit Blick auf die andauernden Konflikte im Nahen Osten, bilanziert Leo, mache dieser Deutungsrahmen „schwierige Verhältnisse noch komplizierter, als sie ohnehin schon sind“ (S. 239).

In jedem Fall zeigt der andauernde Kampf um die Bedeutungs- und Verhältnisbestimmung von Antisemitismus und Rassismus, Nationalsozialismus und Kolonialismus, dass der gegenwärtige „Paradigmenwechsel“ in der Erinnerungskultur Zeichen eines umfassenderen, globalen Wandlungsprozesses postmoderner Gesellschaften ist, wie Sebastian Conrad kürzlich ausgeführt hat.5 Dies erklärt auch die ungeheure Schärfe und fortwährende Polemik, in der das „Unbehagen an der Erinnerungskultur“ seit dreißig Jahren zum Ausdruck gebracht wird.6 Demnach hat Leo einen offenbar chronisch wunden Punkt getroffen, der das Fundament der bundesrepublikanischen Identität angreift: ihre vermeintlich vorbildliche „Vergangenheitsbewältigung“.

Mit dem Ziel, diesen Topos endgültig ins Reich der Mythen zu verweisen, demaskiert Leo sämtliche Formeln und Floskeln, Symbole und Riten der bundesdeutschen Erinnerungskultur: Werden im ersten Kapitel Begriffe des Kalten Kriegs „im Schatten der Tat“ dekonstruiert, um das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit auch sprachlich neu zu bestimmen (S. 61–68), findet der an historischen Fußballturnieren interessierte Leser unter der Überschrift „Aufklärung West“ eine geschichtskulturelle Auseinandersetzung mit Leos Doktorvätern und -großvätern vor (S. 102–121). Dreh- und Angelpunkt des Buchs bilden jedoch die Debatten um das Berliner Holocaust-Mahnmal und das Washingtoner Holocaust Memorial Museum sowie die Rezeption literarischer und filmischer Holocaust- oder Hitler-Adaptionen, die mal polemisch kommentiert, mal kulturgeschichtlich analysiert werden (S. 109–149).

Da Leo „die eigene Herkunft [als] Königsweg zum Verständnis des Nationalsozialismus“ erachtet (S. 118), haben die meisten Beispiele einen Bezug zur Biografie oder zum Lebensumfeld des Berliner Autors. Dementsprechend rücken gegen Ende des Buchs die Widersprüche und Komplexe des innerdeutschen wie innerjüdischen Verhältnisses sowie der deutsch-jüdischen und jüdisch-muslimischen Beziehungen in den Vordergrund seiner „postnationalsozialistischen Heimatkritik“ (S. 67), bevor er sich erst zuversichtlich, dann skeptisch der Wandlungsfähigkeit der nationalen Gedenkkultur zuwendet (S. 232–249).

Neu an Leos „Unbehagen“ sind nicht die Argumente, die selber schon historisiert, nicht die Fallbeispiele, die bereits enzyklopädisch abgehandelt worden sind.7 Um das Buch an seinem eigenen Maßstab, namentlich Nietzsches Betrachtungen, zu messen: Es ist Leo nicht gelungen, das „Allbekannte zum Niegehörten umzuprägen“, sehr wohl aber, „das Allgemeine so einfach und tief zu verkünden, dass man die Einfachheit über der Tiefe und die Tiefe über der Einfachheit übersieht“.8

Mit anderen Worten: Die originelle Qualität des Buchs besteht in der genre- und generationenübergreifenden Verknüpfung der gegenwärtigen Krise mit der historischen Kritik an der deutschen Gedenkkultur. Indem Leo eine Synthese aus Erinnerung, Erkenntnis und Erzählung herstellt und dadurch verschiedene Weisen, sich dem Erbe des Nationalsozialismus zu nähern, miteinander ins Gespräch bringt, leistet das Buch einen breitenwirksamen Beitrag zur Historisierung und damit zur gesellschaftlichen Erneuerung der gegenwärtigen Erinnerungskultur.

Besonders dort, wo Leo erhellende Fragen aufwirft, statt einzelne Repräsentanten (wie den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, oder den Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier), Generationen oder Gruppen (’47 und ’68) zu verurteilen, eignen sich seine Überlegungen für eine „echte Sachdiskussion“ (S. 36): Während das Fachpublikum von Leos Erkenntnissen aus der Lektüre angloamerikanischer Gewalt- und Genozid-Studien profitieren kann (S. 216–225) – womit er sich in seiner Bilanz, die NS-Geschichte sei ausgeforscht (S. 243), selbst widerlegt hat9 –, werden die Politische Bildung und die Öffentlichkeit hier Anregungen zu einer differenzierten und weniger selbstzentrierten Form des Gedenkens finden (S. 233–243).10

„Nach der Erinnerungskultur“ ist vor dem Geschichtsbewusstsein – einem Bewusstsein für die „Unaufgeräumtheit“ einer Geschichte11, in der individuelle und bisweilen gegensätzliche Geschichten nicht routiniert übergangen, sondern notfalls aufeinander losgelassen werden sollten, um den Gesprächsfaden zwischen den Epigonen der alten und den „Erstlingen“ einer neuen Zeit mit neuen Erinnerungen und Erzählungen nicht abreißen zu lassen.

„Trauern mit Verstand“ könnte daher der aufklärerische Schlussappell eines Buchs lauten12, auf dessen Nachgeschichte all jene gespannt sein dürften, die nicht nur die jüngste Debatte, sondern auch Per Leos bisheriges publizistisches Schaffen verfolgt haben und sich nun fragen, ob der Autor seiner eigenen Forderung nachkommen und das Sujet endgültig hinter sich lassen wird; oder ob demnächst etwa eine Tragikomödie über das deutsche „Gedächtnistheater“ (S. 137) erscheint13, die einmal mehr zu einer erneuten Beschäftigung mit dem Erbe der NS-Vergangenheit aufrufen und damit die Unendlichkeit dieser Geschichte untermauern wird. Denn „wie Tränen ohne Trauer“ – so heißt es im letzten Vers von Erich Kästners August-Gedicht – „bleibt nichts, mein Herz. Und alles ist von Dauer.“14

Anmerkungen:
1 Vgl. in chronologischer Reihenfolge Per Leo, Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890–1940, Berlin 2013 (Buchfassung der Dissertation); ders., Flut und Boden. Roman einer Familie, Stuttgart 2014; sowie ders., zusammen mit Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn, Mit Rechten reden. Ein Leitfaden, Stuttgart 2017.
2 Bedingt auch durch die Koinzidenz mit A. Dirk Moses’ am 23. Mai 2021 veröffentlichtem Essay „Der Katechismus der Deutschen“, <https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/> (17.10.2021). Die Entwicklung der Debatte seit der „Causa Mbembe“ lässt sich nachverfolgen auf <http://newfascismsyllabus.com/opinions/the-catechism-debate/the-german-catechism/> (17.10.2021). Eine Einordnung findet sich bei Micha Brumlik, Postkolonialer Antisemitismus. Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger, Hamburg 2021. Leo selbst nahm und nimmt regelmäßig öffentlich Stellung zu seinem Buch, zuletzt etwa auf dem Deutschen Historikertag in München.
3 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Leipzig 1874, <http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/HL> (17.10.2021).
4 Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967.
5 Sebastian Conrad, Erinnerung im globalen Zeitalter. Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert, in: Merkur, 26.07.2021, <https://www.merkur-zeitschrift.de/2021/07/26/erinnerung-im-globalen-zeitalter-warum-die-vergangenheitsdebatte-gerade-explodiert/> (17.10.2021). Vgl. auch Yvonne Robel, Verhandlungssache Genozid. Zur Dynamik geschichtspolitischer Deutungskämpfe, München 2013.
6 Zur Übertragung der Freud’schen Formel des Unbehagens auf die Erinnerungskultur siehe v.a. Ulrike Jureit / Christian Schneider / Margrit Frölich (Hrsg.), Das Unbehagen an der Erinnerung. Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, Frankfurt am Main 2012.
7 Vgl. etwa Harald Schmid, Das Unbehagen in der Erinnerungskultur. Eine Annäherung an aktuelle Deutungsmuster, in: Jureit / Schneider / Frölich (Hrsg.), Das Unbehagen, S. 161–181, hier S. 181; und Torben Fischer / Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Lexikon der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007, 3., überarbeitete und erweiterte Aufl. 2015.
8 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil, <http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/HL-6> (17.10.2021).
9 Siehe insbesondere Mark Levene, The Crisis of Genocide, Bd. 1: Devastation. The European Rimlands 1912–1918; Bd. 2: Annihilation. The European Rimlands 1939–1953, Oxford 2013. Dass nicht „alle Fragen, die [der Nationalsozialismus] aufwarf, größtenteils beantwortet“ sind (Leo, Tränen ohne Trauer, S. 243), zeigt u.a. der Tagungsbericht: Internationale Konferenz zur Geschichte und Erinnerung der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 18.05.2021–21.05.2021 digital, in: H-Soz-Kult, 10.08.2021, <https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-9017> (17.10.2021).
10 Vgl. dazu Michael Rothberg, Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009, dt.: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin 2021; und Daniel Levy / Natan Sznaider, Erinnerung im Globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001.
11 Dieses Bild Peter Novicks fungiert als Vorbild für Leos Geschichtsauffassung und wird mehrfach zitiert (S. 77 und S. 216). Vgl. ders., Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord. Aus dem Amerikanischen von Irmela Arnsperger und Boike Rehbein, Stuttgart 2001.
12 Angelehnt an Jörn Rüsens Vorschlag, mit Verstand zu trauern, u.a. in: ders., Die Menschlichkeit der Erinnerung. Perspektiven der Geschichtskultur, in: Jureit / Schneider / Frölich (Hrsg.), Das Unbehagen an der Erinnerung, S. 147–160. Vgl. in ähnlicher Weise Volkhard Knigges Diktum „Weinen allein bildet nicht“ aus einem Interview mit dem „Spiegel“ (1996), nachzulesen auf <https://www.spiegel.de/kultur/weinen-bildet-nicht-a-ce7a3cc5-0002-0001-0000-000009140863> (17.10.2021), wieder abgedruckt in: ders., Geschichte als Verunsicherung. Konzeptionen für ein historisches Begreifen des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Axel Doßmann im Auftrag der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Göttingen 2020, S. 399–402.
13 Y. Michal Bodemann, Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg 1996.
14 Erich Kästner, Der August, in: ders., Die 13 Monate. Mit 13 Graphiken von Celestino Piatti, München 1989 [1955]: <https://erich-kaestner-kinderdorf.de/Gedichte/August.htm> (17.10.2021).