T. Martine u.a. (Hrsg.): La Réforme grégorienne, une «révolution totale»?

Cover
Titel
La Réforme grégorienne, une «révolution totale»?.


Herausgeber
Martine, Tristan; Winandy, Jérémy
Reihe
Civilisation médiévale (42)
Erschienen
Anzahl Seiten
231 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Timo Bollen, Historisches Institut, Universität Potsdam

Schon wieder ein Buch über die Zeit der Gregorianischen Reform und des Investiturstreits? Ja, und das mit guten Gründen! Denn auch wenn in jüngerer Zeit diese Epoche wieder deutlich mehr in den Fokus der Forschung geriet, wie schon anhand mehrerer Überblickswerke zu erkennen ist1, so ist die kritische Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten – gerade im internationalen Vergleich – wieder etwas in den Hintergrund gerückt. Dieser Band fußt auf einem am 28. und 29. März 2019 in Lyon veranstalteten Kolloquium junger Forscher:innen. Erfreulich schnell sind die Ergebnisse hier in gedruckter Form und sogar zu einem erschwinglichen Preis nachzulesen.

Das Ziel der beiden Herausgeber, Tristan Martine und Jérémy Winandy, ist es nicht, „die Punkte“ zu behandeln, „die zusammenführen, sondern im Gegenteil diejenigen [zu] betracht[en], die trennen“ (S. 11). Zutreffend sind die knappen einführenden Bemerkungen der Herausgeber (S. 7–9, 11–13), dass der Begriff der Gregorianischen Reform tendenziell eher in der französischsprachigen Forschung verwendet findet, während der sogenannte Investiturstreit vor allem in der deutschen, wohl aber ebenso – so ließe sich ergänzen – in der italienischsprachigen Forschung angewandt wird. Verkürzt gesagt ist die Zeit Gregors VII. in beiden Fällen gemeint, jedoch mit einer anderen Betonung. Denn einerseits stehen die sogenannten Reformmaßnahmen dieses Papstes im Vordergrund, während andererseits häufig der Konflikt mit Heinrich IV. und der Gang nach Canossa in den Fokus gestellt wird. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die eigentliche Debatte um die Investitur erst nach 1100 erfolgte, die in dem sogenannten Wormser Konkordat ein (vorläufiges) Ende fand.2

Neue, die älteren Begrifflichkeiten korrigierende Formulierungen, wie die von Jacques Paul („réforme pontificale“) oder die von Rudolf Schieffer („papstgeschichtliche Wende“) (S. 8, 12), werden heute zwar des Öfteren verwendet, bleiben aber immer im Schatten der altvertrauten Bezeichnungen. Wenngleich die monastischen Reformbewegungen des 10. Jahrhunderts in die Diskussion einfließen, um die Entwicklung ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zu beschreiben, so ist doch auffällig, dass zumeist der Schwerpunkt der Untersuchungen auf den Zeitraum von 1046 bis 1122 gelegt wird. Durch den „interdisziplinären Dialog zwischen Spezialisten der Kunstgeschichte, der politischen Geschichte, der Religionsgeschichte, der Theologie und der Rechtswissenschaften“ (S. 13) soll der Forschungsstand aufgearbeitet werden, um einen internationalen Vergleich zu erreichen.

Der Band ist in vier Themenbereiche mit zehn Beiträgen in unterschiedlicher Länge eingeteilt, eingerahmt von einer Einführung von Florian Mazel und einer Zusammenfassung von Gerhard Lubich. Obgleich die Einführung von Martine und Winandy sowohl in deutscher als auch französischer Sprache formuliert ist, gibt es am Ende nur eine französischsprachige Zusammenfassung (S. 225–228) der jeweiligen Aufsätze. Wenn schon die Internationalität betont wird, wäre dann nicht zumindest eine zusätzliche englischsprachige Zusammenfassung sinnvoll, um tatsächlich eine Diskussion jenseits der Sprachgrenzen zu ermöglichen? Wenngleich ein Personen- und Ortsregister vorhanden ist, vermisst der Rezensent doch schmerzlich ein Autorenverzeichnis. Gerade weil die Autor:innen eher Nachwuchskräfte sind, wäre dies wünschenswert, um ihre internationale Bekanntheit weiter zu steigern.

Anstatt einer additiven Auflistung aller Beiträge sollen hier einige exemplarisch vorgestellt werden, ohne dabei aber einzelne Studien abwerten zu wollen. Im Großen und Ganzen sind diese auf einem Niveau verfasst. In der ersten Sektion „De pratiques juridiques et ecclésiastiques en évolution“ betont zunächst Thomas Kohl (S. 29–42) basierend auf der Auswertung mehrerer Quellen, dass in Frankreich eine Debatte um die Laieninvestitur ebenfalls stattgefunden habe, jedoch erst im 12. Jahrhundert.3 Gleichwohl habe es bereits ab der Mitte des 11. Jahrhunderts eindeutig nachweisbare laikale Investituren gegeben, wie das Beispiel Marmoutier verdeutliche. Nach 1111 sei die Auseinandersetzung um die Einsetzungspraxis sogar noch weiter als im römisch-deutschen Reich gegangen, besonders eine Gegenüberstellung des französischen Königs gegenüber dem Kaiser sei angestrebt worden. Eine sinnvolle Durchdringung des Dickichts an Forschungsvoten zu Canossa, gerade in jüngerer Zeit aufgrund der Studien von Johannes Fried, liefert Stephan Bruhn (S. 43–65). Besonders sein zutreffendes Postulat (S. 62), dass die regionalen Entwicklungen, die zu den Umwälzungen führten, noch deutlich stärker herausgearbeitet werden müssten, ist hervorzuheben.

Von den beiden Untersuchungen zum Abschnitt „L’art du siècle grégorien“ ist der Beitrag von Claire Boisseau (S. 81–94) erwähnenswert. Anhand mehrerer Beispiele zum päpstlichen Primat, wie der Fresken von Vendôme, kann sie die Bedeutung von den lokalen Persönlichkeiten bei der ikonographischen Darstellung genauer darlegen. Sehr bedauerlich ist die schlechte Qualität der abgedruckten Fotografien.

Aus der dritten Sektion „Mouvement grégorien et enjeux théologiques“ sei die Untersuchung von Jérémy Winandy (S. 111–123) hervorgehoben, der eine zu geringe Betrachtung der Klosterreform in Bezug auf die Untersuchung des sogenannten Investiturstreits bemängelt. Dies ist zweifellos zutreffend, wie Winandy anhand der beiden jüngsten Überblickswerke von Claudia Zey und Jochen Johrendt deutlich macht.4 Dass Werner Goez das Thema etwas ausführlicher behandelt und detailliert schon die Anfänge im 10. Jahrhundert thematisiert5, ist zwar zutreffend, jedoch muss erwähnt werden, dass diese Einführung schon aus verlagstechnischer Sicht deutlich breiter angelegt wurde, im Gegensatz zu den knapp über 100 Seiten, die Zey und Johrendt zur Verfügung standen. Dennoch ist dem abschließenden Satz Winandys zuzustimmen, dass „nun Zeit für eine neue Synthese“ (S. 123) sei.

Aus dem letzten Kapitel „Diplomatique et pratiques scripturaires“ ist die Studie von Hannes Engl (S. 177–189) hier näher zu behandeln. Engl betont besonders die Veränderung der äußerlichen Merkmale der Papsturkunden, die auf Initiative der Reformpäpste durchgeführt worden seien, um ihre Autorität zu stärken und sich von sogenannten Gegenpäpsten abzugrenzen.

Die nicht ganz einfache Aufgabe einer Schlussbetrachtung übernahm Gerhard Lubich (191–218). Schon anhand des Umfangs liegt hier nicht eine klassische Zusammenfassung der Beiträge vor, vielmehr erläutert Lubich die unterschiedliche Herangehensweise der deutschen und französischen Forschung, die in der Wissenschaftstradition beider Länder lägen. Ebenfalls bezieht er – was bisher noch viel zu selten geschah – die unterschiedliche „ökonomische[n] und besiedlungsmäßige[n] Infrastruktur“ (S. 214) „Deutschlands“ und „Frankreichs“ des Früh- und Hochmittelalters mit ein, die eine je spezifische „Ausgangsbasis“ ergeben.

Eine Bewertung des Bandes fällt insgesamt nicht ganz leicht. So wichtig die einzelnen Beiträge sind, die viele Impulse setzen, Forschungsvoten zusammenführen und Desiderate aufzählen, so verschieden sind die Studien. Ein Problem, das bei Sammelbänden leider immer häufiger anzutreffen ist, ist das sehr weite Oberthema, das dann in Einzeluntersuchungen mündet, die etwas unzusammenhängend nebeneinanderstehen. Dennoch ist der Wert des Buches nicht anzuzweifeln. Er wird hoffentlich die Forschung beleben und zu neuen Fragestellungen führen.

Anmerkungen:
1 Sylvain Gouguenheim, La Réforme Grégorienne. De la lutte pour le sacré à la sécularisation du monde, Paris 2010; Claudia Zey, Der Investiturstreit (Beck Wissen 2852), München 2017; Jochen Johrendt, Der Investiturstreit (Geschichte kompakt), Darmstadt 2018; Nicolangelo D'Acunto, La lotta per le investiture. Una rivoluzione medievale (998–1122), Roma 2020. – Zur kritischen Auseinandersetzung mit den Forschungsvoten zum Investiturstreit zuletzt auch Claudia Zey, Der Investiturstreit – Neuere Perspektiven der Forschung, in: Thomas Kohl (Hrsg.), Konflikt und Wandel um 1100. Europa im Zeitalter von Feudalgesellschaft und Investiturstreit (Europa im Mittelalter 36), Berlin 2020, S. 13–31.
2 Besonders erwähnenswert zum Wormser Konkordat vgl. Claudia Zey, Der Romzugsplan Heinrichs V. 1122/23. Neue Überlegungen zum Abschluß des Wormser Konkordats, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 56 (2000), S. 447–504.
3 Vgl. zuletzt den Aufsatz von Thomas Kohl, Die Erfindung des Investiturstreits, in: Historische Zeitschrift 312 (2021), S. 34–61.
4 Siehe oben Anm. 1.
5 Werner Goez, Kirchenreform und Investiturstreit 910–1122 (Urban-Taschenbücher 462), bearbeitet von Elke Goez, Stuttgart ²2008.

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