Cover
Titel
Mit Geschichte spielen. Zur materiellen Kultur von Spielzeug und Spielen als Darstellung der Vergangenheit


Herausgeber
Kühberger, Christoph
Reihe
Public History – Angewandte Geschichte
Anzahl Seiten
452 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Hanke, Institut für Geschichtsdidaktik und Public History, Universität Tübingen

Dass Spiele und Spielen seit geraumer Zeit vermehrt in das Blickfeld der Public History und der Geschichtsdidaktik rücken, verdankt sich vor allem dem anhaltenden Boom digitaler Spielwelten.1 Computerspiele in historischen Settings sind längst ein bedeutender Teil der Geschichtskultur, denen zudem ein enormes geschichtsdidaktisches Potenzial zugeschrieben wird.2 Wie der Untertitel verrät, liegt der Schwerpunkt des vorliegenden Tagungsbandes weniger auf Spielen „unter den Bedingungen der Digitalität“3 als auf der Materialität von Spielzeug und Spielen. Dabei macht der Herausgeber Christoph Kühberger schon im Vorwort deutlich, dass die materiellen Objekte eben nicht (nur) isoliert, sondern aus einer performativ erweiterten Perspektive in den Blick genommen werden sollen. Es geht also um die Interaktion zwischen Dingen und Menschen und im Zentrum steht die Frage, ob und inwiefern geschichtsbezogenes Spielen und Spielzeug historisches Denken ermöglicht.

Der interdisziplinär angelegte Tagungsband versammelt 19 Beiträge, die sich in vier Themenblöcke gliedern und hier nur exemplarisch gewürdigt werden können: Christoph Kühberger eröffnet den theoretischen Themenblock, indem er zunächst die geschichtskulturelle Bedeutung historisierender Spielwelten herausstellt. Von Jörn Rüsens Theorie der Geschichtskultur ausgehend plädiert er dafür, bei der „theoretischen Reflexion und empirischen Nachschau“ nicht nur die Spielobjekte zu betrachten, sondern Spielen im Sinne des New Materialism als „prozedurale, hoch kontextabhängige kulturelle performance“ (S. 25) zu begreifen. Die anschließenden Beiträge von Christian Heuer, Jörg van Norden, Heinrich Ammerer, Lars Deile sowie Pascale Herzig und Christian Mathis greifen den performativen Charakter von Spielen mehr oder weniger deutlich auf. Während van Norden beispielsweise die historische Dimension von Spielen und Spielzeug entlang der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) diskutiert, interpretiert Ammerer die phantastisch-mythologischen Elemente kindlicher Spielwelten im Anschluss an C.G. Jung als archetypische Erzählelemente, die sich breitenwirksam in (historischen) Narrationen ablagern. Er fordert dazu auf, neben den bewussten Operationen des Erkennens, Deutens und Bewertens das kollektive Unbewusste als Einflussgröße historischer Sinnbildung stärker zu berücksichtigen. Lars Deile zeichnet den Wandel von Faschingskostümierungen nach, den er als Ausdruck bestimmter Geschichtlichkeitsregime deutet. In Hinblick auf heutige Kostümierungen konstatiert er die völlige Absenz von Vergangenheits- und Zukunftsbezügen und damit einen Präsentismus, der ihn zu Recht bedenklich stimmt. Pascale Herzig und Christian Mathis analysieren schließlich anhand ethnographischer Daten die Interaktionen von Kindern auf Spielplätzen. Dabei erweisen sich die Spielenden auch hier als handlungsmächtige Akteure, die in der Praxis des Spiels historische Narrationen konstruieren.

In den Beiträgen des zweiten Themenblocks „Prinzessinnen – Piraten – Indianer_innen“ von Robert Hummer, Sebastian Barsch, Wolfgang Buchberger, Georg Bergthaler und Christoph Kühberger liegt der Fokus auf den Identitätskonstruktionen und Deutungsangeboten, die im Spiel zur Geltung kommen. So untersucht Robert Hummer beispielweise auf der Grundlage einer explorativen Mikrostudie die Geschichtsbilder von (mit) Prinzessinnen spielenden Mädchen im Vorschulalter, um unter anderem zu zeigen, „dass selbstverständlich auch Mädchen im Kindergartenalter mit Geschichte spielen“ (S. 152). Die geschlechterstereotype Formulierung ist zumindest irritierend, zumal Hummer dafür plädiert, die Entwicklung früher historischer Vorstellungen stärker aus (post-)feministischer Perspektive wahrzunehmen. Der Befund, dass die Spielnarrative der Kinder auf „klischierte, wenig differenzierte Geschichtsbilder“ (S. 152) verweisen, scheint die von ihm beschriebene präkonfigurierende Wirkung von Spielangeboten auf jeden Fall zu bestätigen. Von der Strategie des „Gender-Marketings“ ausgehend, präsentiert Sebastian Barsch sein Forschungsprojekt. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob Kinder (Jungen und Mädchen) im Alter von 7–9 Jahren die im Material angelegten Identitätsangebote erkennen, annehmen oder ablehnen, wobei die Aufforderung, aus Playmobil-Teilen eine mittelalterliche Prinzessin nachzubauen, als Stimulus dient. Seine empirischen Befunde zu den Vorstellungen über Vergangenheit und über Geschlechterrollen der Spielenden zeigen unter anderem, dass die Argumentationsmuster der Mädchen und Jungen keine grundlegenden Unterschiede aufweisen.

Die Beiträge des dritten Themenblocks „Burgen – Ritter – Bauklötze“ von Oliver Auge, Christoph Bramann und Stephan F. Ebert, Karsten Jahnke, Jürgen Erhard und Artemis Yagou lenken den Blick sodann auf das Spielzeug. Während Oliver Auge beispielsweise aus fachwissenschaftlich-mediävistischer Perspektive die Authentizität und Merkmale von Spielzeugritterburgen analysiert, zeichnet Jürgen Erhard in einem diachronen Zugriff die Entwicklung von „History-Spielzeug“ der Hersteller LEGO und Playmobil von den 1970er-Jahren bis 2016 nach. Gemeinsam ist Ihnen die Beobachtung, dass militärische Aspekte dominieren. Interessanterweise stützt Erhards Befund, dass Spielsets mit historischen Themen um die Jahrtausendwende drastisch eingebrochen sind, auch Deiles Beobachtungen zur Entwicklung von Faschingskostümierungen.

Die Beiträge des vierten Themenblocks „Am Brett und online“ widmen sich schließlich unterschiedlichen Spielformaten. So präsentiert Charlotte Bühl-Gramer Brettspiele mit Vergangenheitsbezügen zunächst als ein Teilsegment populärer Geschichtsdarstellung, um dann die spezifischen Strukturelemente, Referenzebenen, Modi und Funktionen historischer Repräsentationen im Brettspiel zu markieren. Barbara Sterzenbach und Wiebke Waburg analysieren anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse, wie (und welche) Geschichte in aktuellen Brettspielen nachgespielt werden kann. Dabei wird deutlich, dass das Spielgeschehen traditionellen Strukturierungskonzepten (Personalisierung, Ereignisgeschichte) folgt, um die spieldynamischen Gestaltungsprinzipien (Kampf, Verbreitung und Zielläufe) zu adressieren. Der abschließende Beitrag von Andreas Körber befasst sich mit Computerspielen. Körber verortet das geschichtsdidaktische Potenzial digitaler Spiele weniger in der Überprüfung ihrer „Authentizität“ im Sinne der Richtigkeit von Details, als in der bewussten und kritischen Reflexion der „Gesamtkonstruktion ihres Handlungsraums“ (S. 413), das heißt in dem Lernen über sie.

Angesichts der Relevanz digitaler Spielwelten ließe sich einwenden, dass Computerspiele und andere digitale Spielformate in dem Band zu kurz kommen. In systematisierender Hinsicht wäre es in jedem Fall spannend gewesen, dem Verhältnis von materieller und digitaler Spielkultur genauer auf den Grund zu gehen. Anzumerken ist auch, dass nicht alle Beiträge dem performativen Ansatz folgen. Dennoch überzeugt der Tagungsband durch die Vielfalt der kategorialen und methodischen Zugänge und durch viele sehr lesenswerte Beiträge. Für die weitere Beschäftigung mit Spielen und historischem Denken ist er daher richtungsweisend.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Nico Nolden, Geschichte und Erinnerung in Computerspielen. Erinnerungskulturelle Wissenssysteme, Berlin 2019; Jörg Friedrich / Carl Heinze / Daniel Milch, Digitale Spiele, in: Felix Hinz / Andreas Körber (Hrsg.), Geschichtskultur – Public History – Angewandte Geschichte. Geschichte in der Gesellschaft: Medien, Praxen, Funktionen, Göttingen 2020, S. 261–281.
2 Vgl. etwa Daniel Giere, Computerspiele – Medienbildung – historisches Lernen. Zur Repräsentation und Rezeption von Geschichte in digitalen Spielen, Frankfurt am Main 2019; Alexander Preisinger, Digitale Spiele in der historisch-politischen Bildung, Frankfurt am Main 2022; Martin Buchsteiner / Patrick Jahnke, Digitale Spiele im Geschichtsunterricht, Frankfurt am Main 2021.
3 Christoph Pallaske, Die Vermessung der (digitalen) Welt. Geschichtslernen mit digitalen Medien, in: Ders. / Marko Demantowsky (Hrsg.), Geschichte lernen im digitalen Wandel, Berlin 2015, S. 135–147, hier S. 136.

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